Rezension aus Sicht eines leidvoll Betroffenen

"Familie ist ein Fest – Taufalarm". Nicht eher "Beschneidungsalarm"?

Ephraim Seidenberg lebt in Zürich und setzt sich für die genitale Selbstbestimmung ein, die ihm als Kind verweigert wurde. Für den hpd schreibt er aus seiner ganz persönlichen Sicht über den in der ARD ausgestrahlten Film "Familie ist ein Fest – Taufalarm".

Am achten Tag nach meiner Geburt wurde mir aus jüdischer Tradition die Vorhaut abgeschnitten. Auf unwiederbringliche Weise wurde mir so ein höchst intimer Teil meines Körpers weggenommen und damit auch mein Recht auf körperliche – genitale – Selbstbestimmung und Unversehrtheit. Wie viele andere Betroffene leide ich darunter, jeden Tag.

Von dem zuerst in der ARD-Mediathek erschienen Film "Familie ist ein Fest – Taufalarm" fühle ich mich in diesem Leid verhöhnt. Nicht nur macht er unsichtbar, dass dieses Leid überhaupt existiert, sondern er verharmlost und normalisiert genau den missachtenden und unempathischen Umgang mit den Rechten und Bedürfnissen des Kindes, der in dieser Hinsicht mir sowie vielen anderen widerfahren ist und leider auch heute noch immer wieder aufs Neue widerfährt.

Zudem verbreitet der Film medizinische Mythen zur angeblichen Krankhaftigkeit frühkindlicher Vorhautengen. Warum das so schlimm ist? Weil diese Mythen auch heute noch in unzähligen Fällen dazu führen, dass Jungen das Selbstbestimmungsrecht genommen wird, mit vollständigen Genitalien das Erwachsenenalter zu erreichen.

Diese Rezension ist keine künstlerische, sondern sie gibt die Wirkung des Films auf eine leidvoll betroffene Person wieder. Die Rezension respektiert die Kunstfreiheit und stellt auch nicht die Frage, wie viel Unsinn in einem Spielfilm verbreitet werden darf. Im Gegenteil, der Film wird nicht nur zur Kenntnis, sondern in seinen Aussagen auch ernst genommen. Auf die darin enthaltenen Falschinformationen wird geantwortet und beschrieben, welche Folgen ihre Verbreitung hat, direkt und indirekt. Als Grundlage dienen mir meine Erfahrungen als Betroffener und damit zusammenhängende ethische Überlegungen sowie ein Wissen über die entsprechenden körperlichen und medizinischen Fakten, das ich mir während meiner jahrelangen Auseinandersetzung angeeignet habe. Die an Entstehen, Realisation und Ausstrahlung dieses Films beteiligten Personen sollen wissen, welchen Schaden ihr Werk im Leben anderer, insbesondere Kinder, anrichten kann und dass sie eine Verantwortung dafür tragen.

Ausgangslage des Films

Viola und Faraz sind ein junges Paar in einer herausfordernden Situation: Sie bekommen ein Kind. Gleich nach der Geburt zeigt sich, dass sowohl Faraz' als auch Violas Eltern auf der Weiterführung kulturell-familiärer Traditionen bestehen. Während es Violas deutschen Eltern um einen deutschen Namen und eine Kindstaufe geht, fordern Faraz' Eltern nach iranischem Brauch beim männlichen Nachkommen die Benennung nach dem Großvater und das Abschneiden der Vorhaut. Beide Elternpaare wollen die geforderten Bräuche jeweils mit einer Familienfeier begehen und beide fordern ebenso das Unterlassen der Bräuche aus der jeweils anderen Herkunftskultur. Viola und Faraz sind hin- und hergerissen zwischen dem Anspruch, selbst über die Erziehung ihres Kindes zu bestimmen und andererseits die elterlichen Werte zu würdigen.

Eine altbekannte, traurige Geschichte von verdecktem Leid

So weit, so vielversprechend. Mit diesen Fragen sind viele junge Eltern konfrontiert. Eine schöne Idee, sie filmisch aufzuarbeiten und zu zeigen, welche Gefühle dabei aufkommen können. Eine schöne Gelegenheit zu zeigen, wie gegenseitiges Verständnis auf respektvolle Weise erarbeitet werden kann. Respekt und Verständnis erfahren in diesem Film leider nur die Erwachsenen, das neugeborene Kind hingegen wird in seinen Bedürfnissen und Rechten völlig missachtet. Der erste Hinweis darauf ist, dass es zwar in den meisten Szenen irgendwo anwesend ist, sein Gesicht aber über den ganzen anderthalbstündigen Film hinweg nur wenige Sekunden gezeigt wird. Stattdessen ist vielleicht mal ein Weinen oder Pupsen zu hören. Noch bevor wir ihm zum ersten Mal in die Augen sehen können, wird schon über seine Vorhaut gesprochen und gesagt, dass sie abgeschnitten werden soll.

Das läuft so ab: Während Viola noch im Wochenbett liegt, werden sie und Faraz von seinen Eltern Masud und Anoushe besucht, die natürlich unbedingt das neugeborene Kind sehen wollen. Nachdem sie den deutschen Namen eher zähneknirschend hinnehmen, besteht Faraz' Vater Masud bei erster Gelegenheit darauf, das Wickeln des kleinen Linus zu übernehmen. Am Wickeltisch im Badezimmer wird schnell klar, weshalb er sich auf diese Aufgabe so gestürzt hat: Kaum ist die Windel auf, verkündet er mit großen, leuchtenden Augen und lautem Rufen, eine Phimose zu erkennen. Dabei ist er sichtlich bemüht, einerseits nicht in zu starken Jubel auszubrechen, was Viola befremden könnte, und andererseits jeden Ansatz Faraz' skeptisch-irritierten Nachfragens abzuwimmeln. Er schlägt sogleich vor, das seiner Ansicht nach ohnehin unumgängliche Abschneiden der Vorhaut eigenhändig auszuführen und dafür ein Fest anzusetzen.

Diese Szene wirkt auf mich auf verstörende Weise authentisch. Weshalb ich das so empfinde? Weil sie für eine Geschichte steht, die ich leider zu oft schon gehört habe, aus der eigenen Familie und von anderen Betroffenen, die mir von ihren Erfahrungen erzählt haben. Es ist ein wiederkehrendes Muster, dass männliche Vorfahren den erstbesten, scheinbar medizinischen Grund sofort zum Anlass nehmen, auf dem Abschneiden der Vorhaut zu bestehen. In den Schilderungen, die ich gehört habe, ging die Initiative sogar von den Vätern selbst aus. Sie konnten sich damit der schwierigen und aufwühlenden Diskussion über den Wert familiärer Traditionen entziehen und vermutlich auch ihre eigene traumatische Erfahrung aus der Kindheit verdrängen. Dabei unterdrückten sie auch ihr Mitgefühl für das Kind, das nun vor ihnen lag. Es ging nur noch darum, was sie, die Erwachsenen, für Ansprüche hatten. Auch das macht die Szene authentisch. Mit dem Ende, das der Film dann nimmt, wird dies zu einer Retraumatisierung leidvoll Betroffener.

Selbstbestimmung – nur für Erwachsene?

Viola und Faraz reagieren zunächst zurückhaltend und wollen der Forderung nicht nachgeben. Nicht aus Sorge um das Kind, sondern weil sie Wert darauf legen, ihre eigenen elterlichen Entscheidungen zu treffen. In einer späteren Szene, als Faraz' Eltern mit ihm allein in ihrem Schrebergarten sind und eine Baumpflanzung vorbereiten, bekräftigen sie ihre Forderung erneut. Sie eröffnen ihm, dass sie unter den neuen Bäumen Linus' Vorhaut begraben möchten und schon Vorbereitungen für das "Beschneidungsfest" getroffen haben. Faraz wendet ein, dass er und Viola gemeinsam selbst darüber zu entscheiden hätten. Die Eltern bringen ihre Enttäuschung darüber zum Ausdruck, dass die deutsch-christlichen Bräuche den muslimisch-iranischen gegenüber bevorzugt würden. Es geht also um elterliche Selbstbestimmung. Die Selbstbestimmung des Kindes ist mit keinem Wort Thema, auch nicht im Rest des Films.

Unwissen und Tabus führen zu Gewalt an Kindern

In einer späteren Szene deutet Violas Schwager Max etwas schnippisch an, sie solle aufpassen, wenn sie das Kind den iranischen Großeltern zur Betreuung übergäbe, damit dann "die Vorhaut nicht plötzlich fehlt". Eine weitere, ebenfalls realitätsnahe Aussage, denn ähnliche Geschichten waren schon in der Zeitung zu lesen. Noch düsterer ist hier allerdings ein anderer Zusammenhang, der einer breiten Öffentlichkeit bisher verborgen blieb: Immer wieder gibt es Berichte von Betroffenen, dass ihre Vorhaut von Erwachsenen unter der Anwendung von Gewalt von der Eichel losgerissen wurde. In der frühen Kindheit und teilweise bis in die Pubertät sind Eichel und Vorhaut in natürlicher Weise miteinander verwachsen. Dieser Zustand wird auch als "physiologische Phimose" bezeichnet. Das verbindende Gewebe löst sich irgendwann von allein oder durch spielerisches Zutun des Kindes selbst. Wenn Erwachsene, denen dies nicht bewusst ist, an der Vorhaut ziehen, zum Beispiel, um sie zu reinigen oder gar, weil sie diesen Zustand für krankhaft halten, kann es zur Entzündung oder Blutung kommen. Gerät das Kind dann wie so oft in die Hände einer medizinischen Fachperson mit fehlendem Bewusstsein für dieses Körperteil, wird die Vorhaut oft rasch abgeschnitten.

Pragmatischer Vorschlag: Ehe gegen Vorhaut

Dass es Max mit seinem Kommentar um den Wert der Vorhaut und die Selbstbestimmung des Kindes gehen könnte, darüber brauchen wir uns keine Illusionen zu machen. Auch ihm geht es um die Sorgen der Erwachsenen. Als Ehemann von Violas Schwester und Vater ihrer beider Kinder kennt er die Schwiegereltern schon besser als Faraz und hat seine eigenen Strategien, um in dieser Familie zurechtzukommen. Was die Taufe betrifft, empfiehlt er, pragmatisch zu sein und diese heimlich ohne Faraz' Eltern durchzuführen. Faraz und Viola folgen diesem Vorschlag. Viola jedoch bricht die Zeremonie dann im letzten Moment ab, nachdem Faraz erfährt, dass Linus durch die Taufe als zum Christentum konvertierter Moslem gelten und dadurch mit einem Einreiseverbot in den Iran belegt werden könnte, was persönliche Kontakte mit der Verwandtschaft verhindern würde.

Kein gutes Drama ohne ein bisschen Komödie: In einer ironischen Spiegelung ist dann Heimlichkeit auch der pragmatische Tipp von Faraz' Eltern, als sie erneut darauf drängen, Linus die Vorhaut abzuschneiden. Auf ihren Vorschlag, die Zeremonie ohne Violas Verwandtschaft auszuführen, wendet Faraz ein, dass Viola damit nicht einverstanden wäre, worauf sie ihm wiederum raten, ihr im Gegenzug einen Heiratsantrag zu machen. Ehe gegen Vorhaut also. Faraz' Reaktion darauf ist sichtlicher Verdruss. Natürlich nicht etwa, weil ihm das alles völlig makaber und pervers vorkommen könnte, nein, er hat einfach keine Lust auf einen solchen Kuhhandel.

Eine Vorhaut als Friedensopfer

Später dann, während er mit seinen Eltern zur Trauerfeier Masuds verstorbenen Vaters erstmals den Iran bereist, bleibt Viola allein in Deutschland zurück. Da es Linus nicht gut zu gehen scheint, bringt sie ihn zusammen mit ihrer Schwester Frederike in eine Klinik. Die Ärztin diagnostiziert eine Phimose und warnt, diese könne zu einem Harnwegsinfekt führen, weshalb eine "Beschneidung" nötig sei. Viola informiert Faraz sowie auch ihre Mutter. Diese reagiert zuerst besorgt, dass ihr Enkel nun ein Moslem werde. Nach der Operation und angesichts des davon geschwächten Linus', vor allem aber angesichts der Erschöpfung und Selbstzweifel der Mutter, zeigen sich dann beide Eltern Violas verständnisvoll. Die lang ersehnte Harmonie kehrt endlich wieder ein.

Ähnlich bei Faraz im Iran, denn just als er beim Zeigen von Kinderfotos vor der Verwandtschaft von seiner Mutter zur Rede gestellt wird, weil Linus auf einem der Bilder im Taufkleid zu sehen ist, erhält er Violas Anruf mit dem Bescheid, Linus sei nun "beschnitten". Eilig erklärt er seinem Publikum, es sei keine Taufe, sondern eine "Beschneidung" durchgeführt worden. Nach diesem Auf und Ab folgt nun noch mehr Harmonie: Alle freuen sich und Faraz' Vater erklärt feierlich, sein Enkel sei nun ein echter Moslem.

Noch eine Prise Religion für das perfekte Glück

Bei all der Freude, die Linus' abgeschnittene Vorhaut den Erwachsenen also gebracht zu haben scheint, sind noch nicht alle Gräben überwunden. Schon als Viola mit Linus im Arm Faraz und seine Eltern bei der Rückkehr aus dem Heimatland am Flughafen empfängt, kommen Spannungen auf. Ein so unzeremoniell erfolgter Eingriff würde eine kirchliche Taufe ja doch nicht wirklich aufwiegen, und noch immer droht die angebliche Einreisebeschränkung für das Kind. Es setzt wieder etwas Tragik ein: Faraz und Viola trennen sich in Streit und Tränen. Aufgelöst wird das Ganze mit noch aufgeladeneren Szenen: Viola geht zur Moschee, kniet vor dem Imam nieder und bekennt sich zum Islam. Faraz, der nichts davon weiß, lässt sich in der Kirche taufen. Viola, die von der Nachbarin davon erfährt, eilt zur Kirche. Beide küssen sich, das Glück ist vollendet.

Ein trauriges Fazit

Das Pech der ganzen Familie, vor allem natürlich Linus' Pech, war, dass er eben mit Penis zur Welt kam. Oder worüber hätte sich bei einem Kind mit anderem Geschlechtsteil so trefflich streiten lassen? Ähnlich bei den Eltern: Was, wenn bei ihnen der kulturelle Hintergrund umgekehrt gewesen wäre, Faraz also zum Beispiel Hannes, der Deutsche, und Viola stattdessen Shirin, die Iranerin? Hätte Hannes sich dann für Shirin die Vorhaut abschneiden lassen? Oder funktioniert dieses Drama vielleicht gar nicht ohne solche verkrusteten Geschlechterbilder? In Frage gestellt werden sie mit keiner Silbe. Stattdessen wird ein Kulturkampf hochstilisiert und auf dem Genital des Kindes ausgetragen, dem Familienfrieden unter den Erwachsenen die Vorhaut und Selbstbestimmung des Neugeborenen geopfert.

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