WIEN. (hpd) Heute vor 75 Jahren marschierte die deutsche Wehrmacht in Österreich ein. Begleitet von jubelnden Massen. Trotz beachtlicher Fortschritte sind weite Teile der österreichischen Geschichte zwischen 1938 und 1945 nach wie vor nicht aufgearbeitet. Und der „starke Mann“ in der Politik ist wieder mehrheitsfähig. Eine Analyse.
61 Prozent der wahlberechtigten Österreicher wollen den „starken Mann“ in der Politik. Da sgeht aus einer Umfrage der Tageszeitung „Der Standard“ hervor, die am Samstag veröffentlicht wurde. Die Sympathien für dieses autoritäre Konzept finden sich in allen politischen Lagern. Einzig Grünwähler erweisen sich als weitgehend immun, schreibt die Zeitung. Ein ernüchternder Befund 75 Jahre nach dem so genannten Anschluss, der zwangsweisen wie freiwilligen Eingliederung Österreichs ins Deutsche Reich.
Autoritäre Politiker und „gemäßigte Diktaturen“
Tagespolitik mag der ausschlaggebende Grund für die autoritären Tendenzen sein, die Österreichs Wähler offen angeben. Die große Koalition aus SPÖ und ÖVP wird als weitgehend unfähig erlebt, größere Fragen anzugehen. Der ehemalige Industrielle Frank Stronach hat bei zwei Landtagswahlen vor zwei Wochen mit seiner Retortenpartei aus dem Stand je um die zehn Prozent der Stimmen erreicht. Er steht offen zum Grundsatz „Wer das Gold hat, macht die Regeln“. Er hat das alleinige Sagen in seiner Partei. Ein politisches Programm gibt es bis heute nicht. Auch prominente Persönlichkeiten wie der Extremsportler Felix Baumgartner bekennen sich offen zu einer „gemäßigten Diktatur“.
Technokratie vs. Demokratie
Derlei Befindlichkeiten lassen sich nicht nur an innerösterreichischer Politik festmachen. Die EU-Politik der vergangenen Jahre war geprägt vom Druck von Technokraten auf demokratisch gewählte Regierungen wie in Griechenland oder Italien. Diese seien unfähig, die Probleme in den Griff zu bekommen, lautet die Botschaft, die heimische (und deutsche) Medien seit Jahr und Tag trommeln. Vertrauen in die Demokratie stärkt das nicht.
Viele Braune Flecken
Gleichzeitig darf vermutet werden, dass die Vorliebe der Österreicher fürs Autoritäre auch damit zu tun hat, dass es vielerlei unbeleuchtete braune Flecken im Land gibt, wie der Zeithistoriker Oliver Rathkolb kritisiert. Die Wiener Philharmoniker etwa haben sich erst vor kurzem entschlossen, ihre Rolle im NS-Regime beleuchten zu lassen. Das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands hat vor wenigen Tagen eine der umfangreichsten Datenbanken zu Tätern und Opfern im NS-Regime präsentiert. In anderen Institutionen wie Polizei und Bundesheer gibt es bestenfalls sporadische interne Untersuchungen, welche Rolle sie im Dritten Reich gespielt haben und wie viele Nazis nach 1945 dort Dienst taten. Zum Teil in hohen Positionen.
Die politischen Parteien stellen sich diese Frage vorwiegend nicht. Einzig die SPÖ hat ihre braunen Flecken nach 1945 systematisch und kritisch untersuchen lassen. Mit dem Resultat, dass ihr von politischen Mitbewerbern bis heute nachgesagt wird, sie und nur sie habe ehemalige Nazis in Massen aufgenommen, nachdem unterm NS-Regime in Scharen von Sozialdemokraten zur NSDAP übergelaufen seien. Die Formel lautet Rot=Braun=Rot. Dass das trotz unbestreitbarer Teilnahme ehemaliger Nazis und SS-Verbrecher in der Sozialdemokratie (bis in Regierungsämter) in diesem Ausmaß Unfug ist, schert niemanden.
ÖVP negiert Nazis in eigenen Reihen
Die ÖVP, Nachfolgepartei der klerikalfaschistischen Christlichsozialen und der Heimwehren, die zwischen 1933/1934 und 1938 eine Diktatur errichtet hatten, schiebt diese Untersuchung auf die lange Bank. Obwohl nachweislich auch sie ehemalige NSDAP-Mitglieder in Regierungsämter hievte, die sie nach 1945 genauso bereitwillig aufgenommen hatte wie die Sozialdemokratie. Nur redet man nicht darüber. Und obwohl zahlreiche Parteigänger des austrofaschistischen Regimes nie eine klare Trennlinie zwischen dem schwarzen und dem braunen Faschismus zogen und vor dem „Anschluss“ in Scharen zur NSDAP überliefen. Man verweist lieber auf die Heldenlegenden von Engelbert Dollfuß und Kurt Schuschnigg. Dollfuß wurde 1934 bei einem NS-Putsch erschossen, in den laut NS-eigenen Untersuchungen auch Parteigänger des Kanzlers involviert waren.
Schuschniggs heldenhafter Abwehrkampf bestand darin, jahrelang Adolf Hitler eins ums andere Mal zu nachzugeben. Der einzige wirkliche Widerstandsakt war, eine Volksabstimmung über Österreichs Selbstständigkeit anzusetzen. Der kam das NS-Regime mit dem Einmarsch zuvor. Schuschniggs heldenhafte Reaktion: Er ließ in den Stunden vor dem 12. März 1938 die österreichische Wehrmacht (wie sie damals hieß) anweisen, in den Kasernen zu bleiben, auf dass kein „deutsches Blut“ vergossen werde.
FPÖ: Bis heute problematisches Verhalten zur Vergangenheit
Die FPÖ geht auf den „Verband der Unabhängigen“ zurück, der sich wesentlich aus Altnazis speiste. Zumindest aus denen, die in den Großparteien keine Heimat fanden. Von Anfang an federführend waren Mitglieder der Waffen-SS, wie der spätere FPÖ-Bundesvorsitzende Friedrich Peter. Von dieser Vergangenheit hat sich die FPÖ bis heute nicht distanziert. Ihr ehemaliger Vorsitzender Jörg Haider liebäugelte immer wieder augenzwinkernd mit den Altnazis. Bis heute stellen die Burschenschafter einen Großteil des Personalreservoirs. Sie sind bis heute unverändert deutschnational. Das mag das mangelnde Interesse an Aufarbeitung erklären. Und vermutlich würde eine Untersuchung auf ernsthafte parteiinterne Widerstände stoßen.
Der Dritte Nationalratspräsident, Martin Graf von der FPÖ, ist Mitglied einer dieser Burschenschaften, der „Olympia“. Die war zeitweise wegen des Verdachts auf NS-Umtriebe verboten. Vor ihrer „Bude“ hängt eine schwarz-rot-goldene Flagge. Zwei Mitarbeiter Grafs bestellten bei Neonazi-Versandhäusern. Einer wurde fotografiert, als er eine Gruppe Antifaschisten in Wien attackiert hatte. Beide Mitarbeiter Grafs wurden erst nach öffentlichem Druck entfernt. Graf selbst hat öffentlich gemeint, er „halte nichts vom antifaschistischen Grundkonsens“ der Zweiten Republik.
Sowohl in der Steiermark wie in Oberösterreich fallen Funktionäre der FPÖ und ihrer Jugendorganisation RFJ immer wieder mit Nähe zu Neonazi-Organisationen auf. RFJ-Funktionäre wurden wegen einer Schlägerei in Graz verurteilt, bei der sie auch NS-Parolen gebrüllt hatten. Ein Parteimitarbeiter aus Oberösterreich musste zurücktreten, als bekannt wurde, dass er als junger Erwachsener wegen NS-Wiederbetätigung verurteilt worden war. Einen Überblick über die rechtsextremen Umtriebe in der Partei findet man auf www.stopptdierechten.at und www.kellernazisinderfpoe.at. Diese ständigen Vorkommnisse konterkarieren die öffentlichen Aussagen der Parteispitze, dass man den Nationalsozialismus verurteile.
Mythen gedeihen
Auf diesen Umtrieben und blinden Flecken gedeihen die Mythen. Der „katholische Widerstand“ wird überhöht, dass man glauben möchte, die katholische Kirche in Österreich hätte den Zweiten Weltkrieg im Alleingang gewonnen und die Zweite Republik in Alleinverantwortung gegründet. Der kommunistische und (ex-)sozialdemokrtische Widerstand und die Tätigkeit österreichisch-slowenischer Titopartisanen wird heruntergespielt bis ausgeblendet. Dabei waren diese Formen des aktiven und teilweise bewaffneten Widerstands den Großteil der NS-Zeit in Österreich über der einzige Widerstand gegen die Diktatur.
42 Prozent: Nicht nur Schlechtes unter Hitler
Was wunder, wenn bei der Ausgangslage 42 Prozent der Bevölkerung laut Umfrage im Standard der Meinung sind, der Nationalsozialismus sei nicht nur böse gewesen? Es dürfte auch wenig überraschen, dass ein die Mehrheit der Befragten überzeugt ist, die NS-Opfer seien schon genug entschädigt worden. Abgesehen davon, dass viele mit einem Bettel abgespeist wurden und werden – gemeint sind mit dieser Aussage de facto nur die Juden. An die katholische Kirche, die bis heute doppelt entschädigt wird, hat bei dieser Antwort mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit niemand gedacht.
Ob das latenter Antisemitismus ist oder ein Indiz, dass das Geschehen während des Nationalsozialismus nicht annähernd ausreichend bekannt ist, kann nur vermutet werden. Wobei die eine Antwort die andere nicht automatisch ausschließt.
Es gibt einiges zu tun
Der 75. Jahrestag des „Anschlusses“ macht deutlich, dass es einiges zu tun gibt in dieser Republik. Die Gedenkfeiern des heutigen Tages werden nicht reichen. Das Denkmal für die Deserteure der Wehrmacht, erkämpft gegen jahrzehntelange Widerstände, wird ein kleiner Beitrag sein. Aber eben auch nur einer von vielen, die notwendig sind.
In der Aufarbeitung der Geschichte darf es sich nicht erschöpfen. Es gilt auch, einen rassistischen Diskurs über Sozialpolitik und Immigration zu durchbrechen. Der äußert sich etwa darin, dass eine Mehrheit der Österreicher den Sozialstaat nur für österreichische Staatsbürger haben will. Die anderen sollen nur zahlen dürfen. Dass sie diese Meinung in einer Umfrage zum 75. Jahrestag des „Anschlusses“ offen zugeben, sollte zu denken geben.
Christoph Baumgarten