Identität

Selbstzuschreibung oder unreflektierte Zugehörigkeit?

REGENSBURG. (hpd) Der Israel-Palästina-Konflikt ist ein medialer Dauerbrenner. Raketenbeschuss, Luftangriffe, Verhandlungen und deren regelmäßiges Scheitern sind die wiederkehrenden Nachrichten aus der Region. Rainer Schreiber hat sich in einer Streitschrift einer der Grundlagen der Auseinandersetzung zugewandt: dem identitären Denken.

Schreiber fragt, warum es in diesem Konflikt so schwer, ja scheinbar unmöglich ist, zu einer rationalen politischen Lösung zu kommen. Als eine Antwort bietet er die Identitätsvorstellungen an, die auf beiden Seiten existieren und von konservativer Seite mit Nachdruck gefördert werden: Dass die Israelis ein Volk von Juden sein müssten und die Palästinenser als arabisch-muslimisches Volk sich quasi naturgegeben von ihnen unterscheiden.

Unter jüdischen bzw. jüdischstämmigen Intellektuellen erntet diese Auffassung allerdings auch entschiedenen Widerspruch. Schreiber folgt diesen dissidenten Stimmen und übt Kritik an Identitätsvorstellungen, die auf Volk und Religion basieren, da diese in die Sackgasse des modernen Nationalismus führen. Der hpd sprach mit dem Autor über seine Thesen.

 

Rainer Schreiber
Rainer Schreiber

hpd: Einer der von Ihnen zitierten Autoren spricht von „Identitätsgetue“. Aber haben nicht alle Menschen eine Identität?

Rainer Schreiber: Das trifft zweifellos zu – zumindest in dem allgemeinen Sinne, dass Menschen sich als Person über ihre Eigenschaften, Eigenheiten, Werte und Überzeugungen definieren. Problematisch wird es aber dann, wenn dabei übersehen wird, dass diese Persönlichkeitselemente nicht mit einer eingebildeten Natur gleichsam verwachsen sind, sondern selbst Resultat zufälliger Entwicklungen, die von Ort und Zeit der Geburt bis zu besonderen familiären Einflüssen reichen. Dass man ohne Identität nicht leben kann, heißt eben nicht, dass dafür genau jenes – und deshalb nur dieses! – spezielle Sammelsurium an Ansichten, Symbolen und Überzeugungen unabdingbar ist, das einem aus seiner zufälligen biographischen Situation heraus gerade anhaftet.

Wenn man das weiß, blickt man auf die eigene wie fremde Identität nicht mehr mit der abgrenzenden Absolutheit, die religiösen und nationalistischen Fanatikern eigen ist. Vor allem die Zugehörigkeit zu nationalen Kollektiven ist eine von der politischen Herrschaft, den Staaten selbst vorgenommene Etikettierung, die man sich nicht ausgesucht hat und die noch wenig über die wirklichen Gemeinsamkeiten mit anderen aussagt, die ebenfalls zufällig dort geboren sind. Nichts an der emphatisch hochgehaltenen religiösen, kulturellen oder sozialen Identität ist einfach gott- oder naturgegeben. Darum geht es.

 

Lässt sich eine Grenze zwischen sozio-kulturell geprägten Gewohnheiten und Identität, die einer Person fester zugeschrieben ist, sauber ziehen?

Auch da sind die Übergänge fließend. Am Beispiel: Ein Mensch mit dunkler Haut, der aus dem Senegal kommt, ist zweifellos von der Herkunft her Afrikaner. Das ist einfach ein Faktum. Ob daraus deshalb eine “afrikanische Identität” erwächst, hängt von den Ansichten, der Sozialisation, den Einflüssen und Erfahrungen ab, entlang derer das betreffende Individuum sich kulturell, persönlich und sozial verortet. So kann er sich im Zuge eines antikolonialen Befreiungskampfes einem spezifisch afrikanischen Nationalismus verschreiben, der aber ebenso Definitionssache, also auch “Selbstzuschreibung” ist, wie wenn er als Absolvent einer Londoner Wirtschaftsuniversität überzeugter neoliberaler Ökonom europäischer Prägung wird.

Generell gilt, dass Identitätsmerkmale erst dann in Fluss geraten, wenn ihre Bedingtheit und damit, bezogen auf das Individuum, ihr Zufallscharakter erkannt werden. Mitgliedern vormoderner Gesellschaften stellt sich die Identitätsfrage meistens nicht, da sie keine Distanz zu ihren persönlichen Wert-, Glaubens- und Denksystemen aufbauen können. Dies alles kritisch reflektieren zu können, ist ein Resultat der philosophisch-wissenschaftlichen Aufklärung und – vor allem – der Kritik der Religion als zentralem und unhinterfragtem Identitätsmerkmal der Menschen des europäischen Mittelalters.

 

Was bedeutet es, wenn Menschen in einen anderen Kulturkreis ziehen, für deren Identität?

Auch da kommt es ganz darauf an, mit welchem Maß an “Identitätsfixierung” sie dort ankommen und welche Erfahrungen sie im neuen Kulturkreis machen.

Grundsätzlich bietet das Erleben andersartiger Überzeugungen, Lebens- und Verhaltensweisen die Chance, in Differenz zum mitgebrachten Eigenen zu treten und seine Identität kritisch zu reflektieren. Daraus kann die Übernahme von mehr oder weniger großen Teilen der neuen Kultur folgen. Werden den Migranten/innen solche Bestrebungen in rassistischer Manier verweigert, erfolgt oft eine gegenteilige Reaktion: Trotzig halten die Betreffenden dann an der Auffassung fest, sie seien eben so, könnten und wollten auch gar nicht anders sein.

 

Ihre im Buch aufgestellte These, dass sich die “Ursprungskultur” spätestens in der zweiten Generation auflöst, scheint aber der Beobachtung entgegenzustehen, dass sich (um nur ein Beispiel zu nennen) junge Türkinnen und Türken in Deutschland statistisch stärker zum Islam bekennen als die Generation ihrer Eltern…

Genau das meinte ich soeben: Da gibt es keinerlei Zwangsläufigkeit. Ob die ursprünglichen Identitätsmerkmale aufgegeben, zum Teil beibehalten oder gar forciert werden, hängt stark von den sozialen und kulturellen Umgangspraktiken mit den Migranten in den “Gastländern” ab; von den Chancen, die ihnen offen stehen und den Hindernissen, auf die sie als Zuwanderer treffen. Hinzu kommen zahlreiche andere Einflüsse im Mikrobereich wie Erfahrungen in Familie und Religionsgruppe und vieles mehr.

Nur hat das Beibehalten der “alten” religiösen oder nationalen Identität nun den Charakter bewusster Selbstzuschreibungen und unterscheidet sich von der gewohnheitsmäßigen, unreflektierten Zugehörigkeit zu kulturellen Praktiken und Regeln der näheren Umgebung, wie sie wohl den meisten Menschen eigen ist. Insofern löst sich die Ursprungsidentität tatsächlich auf, denn sie muss gegen die neue Umgebung richtiggehend konstruiert und emphatisch hochgehalten werden. Bei den religiösen Überzeugungen geht damit oft eine Radikalisierung als Bestärkung der Abgrenzung einher.

 

Cover

Warum haben Sie das Judentum als Beispiel herangezogen, um ihre Identitätskritik darzustellen?

Weil gerade das Judentum ein Beispiel für die Dialektik von kultureller Identität und rassistischer Identitätszuschreibung darstellt: Indem die Religionsgemeinschaft der Juden als eigenes, der christlichen, später (insbesondere) der deutschen Identität fremdes, schließlich sogar “artfremdes” Volk definiert und ausgegrenzt wurde, entwickelte sich zumindest bei Teilen der Betroffenen ein völkisches Identitätsgefühl, das seine naturalistische Selbstdefinition als Jude trotzig den rassistischen Gegnern entgegenhielt.

Der Zionismus bringt genau diese positive Wendung einer völkisch-nationalistischen Identität als Jude zum Ausdruck und unterscheidet sich damit erheblich von der internationalistischen Offenheit eines intellektuellen Diaspora-Judentums, das seine jüdische Herkunft mehr als Tradition und Sozialisationsmerkmal sah und mal mehr, mal weniger religiös war oder auch gar nicht.

 

Wenn die nach Israel übersiedelnden Juden sich – obwohl sie aus den unterschiedlichsten Regionen stammten – als „Volk“ im naturalistischen Sinne definierten, mag dies als tragischer historischer Irrtum erscheinen, aber welche Alternativen gab es damals angesichts der auf nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges anhaltenden Verfolgung?

Das ist eine falsche Frage: Selbst wenn es aus der historischen Situation völlig verständlich sein sollte, dass die Überlebenden des Holocaust den Schutz eines eigenen Staates beanspruchen wollten und es keine Alternativen zur spezifisch zionistischen Staatsräson gegeben hätte, besagt dies nicht, dass das Insistieren auf einem exklusiv jüdischen Staat ein sinnvolles Modell für das friedliche Zusammenleben und -arbeiten im heutigen Israel darstellt. Genau das stelle ich mit meiner Schrift in Frage.

 

Was bedeutete die durch Aufklärung und Industrialisierung eingeleitete gesellschaftliche Modernisierung für die Identität der in Europa lebenden Juden?

Zunächst einmal war die neue Gesellschaftsepoche ein Befreiungsschlag vom christlichen Antijudaismus und dem stigmatisierten Eingepfercht-Sein in Ghettos. Diese Gelegenheit nahmen die europäischen Juden engagiert wahr und etablierten sich in zahlreichen Bereichen und Nischen der neuen, kapitalistischen Ökonomie, wobei ihnen ihre traditionell ausgeprägte Bildungsorientierung, die Leistungsbereitschaft der Aufstiegswilligen und ihre traditionelle Kompetenz im Umgang mit Handel- und Bankwesen, die sich aus der mittelalterlichen Ausgrenzung von den meisten Berufen zwangsläufig ergeben hatte, entgegenkam. Zugleich begann sich die alte religiöse Identität in vielen Fällen aufzulösen, was zum liberalen Reformjudentum, aber oft auch zur gänzlichen Emanzipation von der Religion führte.

 

Warum endete das Projekt der Assimilation der Juden in Mitteleuropa in der Katastrophe des Holocaust, wenn sie doch ihre “andersartige” Identität aufzugeben bereit waren?

Weil die Nazis ein rassistisches Urteil über die Juden gefällt hatten, das aus zwei Teilschritten bestand: 1. Als Jude war man Mitglied einer fremden “Rasse” – und dies völlig unabhängig davon, was die einzelnen Menschen jüdischer Herkunft dachten, meinten und glaubten. 2. Diese angebliche “Rasse” wurde zum bösartigen Fremdkörper, zur Ursache allen Übels in Deutschland, ja auf der Welt erklärt. Im Sündenbock des “ewigen Juden” kondensierte plakativ und argumentlos jedes angebliche nationale “Übel” – vom verlorenen Ersten Weltkrieg über die sozialen Umbrüche im Rahmen von Industrialisierung und Globalisierung bis zu den Auseinandersetzungen von Unternehmern und Staat mit der Arbeiterbewegung – zur greifbaren und damit angreifbaren persönlichen Gestalt: Nun war allen völkischen Nationalisten klar, warum Deutschland nicht den ihm gebührenden, ersten Platz in der Welt einnahm: es gab ja einen bösen Feind, der dies alles hintertrieb!

 

Ist Identität dann wirklich in erster Linie Selbstattribution oder nicht doch auch Fremdzuschreibung?

Das lässt sich nie ganz trennen – jegliche personale Identität erwächst aus der permanenten Spiegelung in den anderen Menschen, also aus der Kommunikation von Vorstellungen und Bildern, die jeder von sich besitzt und zugleich über sich den anderen vermittelt; im Reflex dieser Fremdbilder formt sich dann zugleich das Selbstbild, das immer Momente des eigenen und fremden enthält.

Genau so werden die Menschen ja zu Mitgliedern einer speziellen kulturellen Welt. Erst im Zuge der Aufklärung wurden sie sich des Prozesses bewusst, der zur zumeist unbewussten und damit ungeprüften Übernahme von religiösen und politischen Weltbildern, die immer auch Selbstbilder sind, führt und konnten ihre Identität als gewordene begreifen, die man auch bewusst wechseln, verändern, gestalten kann.

 

Ihre Überlegungen zur Debatte in Deutschland überschreiben Sie mit “Parteilichkeit als Elementarform der Dummheit” – was genau ist darunter zu verstehen?

Die Debatte um die israelische Außenpolitik zeigt recht deutlich, was damit gemeint ist: Noch vor jeder unvoreingenommenen und sachlichen Prüfung der damit verbundenen Vorgänge und Zusammenhänge in ihrem historischen Kontext verbietet sich die eine Seite die Kritik an der israelischen Politik von vornherein, um damit ihr schlechtes Gewissen in Sachen Holocaust zu beruhigen. Die andere Seite – die ewigen Antisemiten – weiß auch schon ex ante, dass Israels Politik typischer Ausdruck des bösen Judentums sei – denn was will man von den Juden anderes erwarten?!

Die voreingenommene Parteilichkeit gegen die Juden auf der einen, für Israel auf der anderen Seite führt zur Unfähigkeit, die Sache, um die es sich handelt, nüchtern und kritisch zu beurteilen. Das ist mit „Dummheit“ gemeint. Sachliches, an der Sache orientiertes Denken geht anders.

Die Fragen stellte Martin Bauer.

 


Rainer Schreiber: Religion, Volk, Identität? Das Judentum in der Sackgasse des modernen Nationalismus. Aschaffenburg: Alibri, 2014. 133 Seiten, kartoniert, Euro 10.-, ISBN 978–3–86569–178–1

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