Cradle to Cradle Kongress in Lüneburg

Auf dem Weg zu einer humanistischen Ökologie

LÜNEBURG. (hpd) Auf dem Cradle to cradle Kongress hielt auch der Vorstandssprecher der Giordano Bruno Stiftung, Michael Schmidt-Salomon, ein Referat. Der hpd dokumentiert diese “philosophischen Hintergründe von Cradle to Cradle” in voller Länge.

In den 80er Jahren musste ich hin und wieder im Obst- und Gemüse- Großhandel meiner Eltern aushelfen. Zu unseren Kunden zählten damals auch einige Bioläden, was mich als ökologiebewussten Menschen natürlich freute. Allerdings gab es da etwas, was mich einigermaßen irritierte: Wenn die Auswahl bestand zwischen zwei Bioapfelsorten – die eine saftig, wunderschön anzuschauen, mit intakter Schale, die andere mehlig, verrunzelt und mit Maden durchsetzt, wählten die Bioladenbesitzer mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die unattraktivere Sorte. Als ich fragte, warum dies so sei, hörte ich, dass die Kunden schöne, makellose Äpfel nicht als Bio-Ware akzeptieren würden. Und so mussten wir Bio-Obst und Bio-Gemüse, das tragischerweise zu schön geraten war, eine Zeitlang als konventionelle Ware auszeichnen, um es überhaupt unter die Leute bringen zu können.

Ich musste mich an diese Geschichte erinnern, als ich vor drei Jahren Michael Braungart das erste Mal über Cradle to Cradle sprechen hörte. Für mich war der Vortrag ein regelrechter Schock – nicht wegen der Argumente, die Michael vortrug und die ich auch sofort einsah, sondern weil ich es schlichtweg nicht begreifen konnte, dass ich bis dahin noch nichts über Cradle to Cradle gehört hatte. Immerhin hatte ich mich, angeregt durch Robert Jungk, schon lange mit den Problemen der Nachhaltigkeit beschäftigt. Was also war der Grund dafür, dass die C2C-Debatte so völlig an mir vorbeigegangen war?

Nun, offenkundig litt und leidet Cradle to Cradle unter demselben „Makel der Makellosigkeit“ wie die zu schön geratenen Bioäpfel der 1980er Jahre. Das Konzept klingt einfach zu gut, um wahr zu sein. Vor allem verstößt es gegen einen tief verankerten psychischen Mechanismus, der für den traditionellen Ökologismus insbesondere in Deutschland charakteristisch ist. ökologisch korrektes Verhalten wird bei uns nämlich gerne mit Verzicht und Buße assoziiert – keineswegs mit intelligenter Verschwendung oder gar Schönheit. Wer sich für eine intakte Natur einsetzt, der zieht oftmals einen nicht unwesentlichen Teil seines Selbstwertgefühls daraus, dass er zu der Gruppe jener Auserwählten gehört, die aus moralischen Gründen für eine bessere Welt leiden und durch Verzicht auf unökologische Konsumgüter stellvertretend für all die schrecklichen Dinge büßen, die wir Menschen der geschundenen Erde antun. Die Süße dieses moralischen Überlegenheitsgefühls überdeckt den Geschmack mehliger Bioäpfel bei weitem, weshalb es psychologisch verständlich ist, dass sich kaum jemand dieses erhabene Gefühl nehmen lassen möchte.

Aus Sicht des klassischen Ökologismus birgt Cradle to Cradle daher eine große Gefahr: Wer jahrzehntelang Buße und Verzicht predigte, wer in mehlige Bioäpfel biss und sich selbst im Dienste einer besseren Zukunft Lust und Luxus versagte, der will nun beim besten Willen nicht hören, dass dieser aufopferungsvolle Einsatz für die Katz gewesen sein könnte. Die zentrale C2C- Botschaft, dass es künftig gar nicht mehr darum gehen sollte, zu verzichten, sondern auf intelligentere Weise zu verschwenden, klingt für traditionell ökologiebewegte wie ein Sakrileg – und entsprechend heftig werden die Angriffe von dieser Seite ausfallen, wenn das Cradle-to-Cradle-Konzept einen höheren Bekanntheitsgrad erhält.

Es lohnt sich also, einen Blick darauf zu werfen, aus welchen Quellen sich der klassische “Beiß-in-den-mehligen-Apfel”-Ökologismus speist: Da sind zunächst einmal die dramatischen Eingriffe des Menschen in die Natur zu nennen, deren verheerende Auswirkungen niemand leugnen kann, der auch nur halbwegs bei Verstand ist. Es ist ja unbestreitbar: Wir Menschen haben die Böden vergiftet, die Luft verpestet, die Meere überfischt, die Wälder gerodet. Wir haben innerhalb eines schlappen Jahrhunderts Ressourcen ausgeplündert, die über Jahrmillionen entstanden sind, und im Gegenzug Technologien erfunden, die ganze Landstriche für Jahrzehnte unbewohnbar machen.

Diese düstere Bilanz alleine erklärt die Verzichts- und Buße-Mentalität des traditionellen Ökologismus jedoch noch nicht. Seine eigentliche Legitimation bezieht er daraus, dass er das Idealbild einer angeblich “heilen Natur” mit dem unbotmäßigen Verhalten des Menschen kontrastiert, der sich vermeintlich an einer gut gemeinten und gut gemachten “Schöpfung” versündigt. Im Grunde handelt es sich hierbei um eine Wiederaufnahme des Sündenfallmotivs der Bibel. Ohne den Umweltsünder Mensch, so der zugrundeliegende Mythos, den ich hier ein wenig zuspitze, befände sich die Natur noch immer im idyllischen Zustand des “Garten Eden”, es gäbe kein Leid auf Erden, kein Artensterben, und der kleine blaue Planet würde auf immer und ewig in vollkommener Harmonie um die lebensspendende Sonne kreisen.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist dieser Mythos natürlich Unfug. Wir wissen heute, dass einige der katastrophalsten Ereignisse von Massenaussterben in der Geschichte unseres Planeten lange vor dem Auftreten unserer Spezies stattfanden, etwa vor 485 Millionen Jahren, als rund 80 Prozent aller Tier- und Pflanzenarten infolge von Klimaveränderungen ausstarben, vor 200 Millionen Jahren, als gewaltige Vulkanausbrüche nahezu alle Landwirbeltiere auslöschten, oder vor 66 Millionen Jahren, als infolge eines Meteoriteneinschlags mit den Dinosauriern etwa 50 Prozent der damaligen Tierarten für immer vom Erdboden verschwanden. Fakt ist: über 90 Prozent aller Arten, die je existiert haben, waren bereits ausgestorben, bevor der heutige Mensch die Bühne des Lebens betrat.

Dass die Natur ohne den Menschen keineswegs heil wäre, verrät allerdings nicht nur der Blick in die planetare Vergangenheit, sondern auch der Blick in die Zukunft. Denn der nächste Meteoriteneinschlag kommt bestimmt – und seine Konsequenzen könnten weit verheerender sein als der Impakt vor 66 Millionen Jahren. Meteoriteneinschläge dieser globalen Dimension treten schätzungsweise alle 100 Millionen Jahre auf, mit “kleineren” (immer noch unsagbar tödlichen) Einschlägen wie jenem im Nördlinger Ries, der vor 15 Millionen Jahren weite Teile Europas verwüstete, muss man alle 10 Millionen Jahre rechnen (wir haben bislang also unverschämtes Glück gehabt).

Selbst wenn wir dank einer verbesserten Technologie irgendwann in der Lage sein sollten, derartige Meteoriteneinschläge und vielleicht auch den Ausbruch von Supervulkanen zu verhindern, wird dies nicht ausreichen, um das Leben auf der Erde dauerhaft zu bewahren. Denn schon in 500 Millionen Jahren (das klingt nach viel, entspricht aber nur knapp elf Prozent der bisherigen Erdgeschichte) werden höhere Lebensformen aufgrund der zunehmenden Strahlkraft der Sonne auf unserem Heimatplaneten nicht mehr existieren können. In zwei Milliarden Jahren wird die sich aufblähende Sonne die Erde in einen reinen Wüstenplaneten verwandelt haben (etwa vergleichbar mit dem heutigen Mars).