Eine neue Dimension der Ukraine-Krise

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Ausstellung auf dem Majdan
Ausstellung auf dem Majdan

BONN. (hpd) Das politisch fragile Donbass wurde zu einem Experimentierfeld für gefährliche und menschenverachtende Ideologien gemacht. Der mediale Diskurs über die Krise in und um die Ukraine hat in Deutschland indessen eine neue Dimension erreicht. Ein Kommentar von Danylo Bilyk.

Der Wendepunkt der Debatte um die Ukraine-Krise liegt bei der nun wohl historischen Rede von Bundeskanzlerin Merkel im australischen Sydney, in der sie zum ersten Mal mit klaren Worten die Gefahr der von Russland ausgehenden militärischen Expansionspolitik Richtung Westen benannt hat. Er liegt aber auch bei dem darauf folgenden Interview mit dem (noch) Vorsitzenden des Deutsch-Russischen Forums Matthias Platzeck, welcher für eine nachträgliche “Klärung” der Frage mit der Krim-Annexion durch Russland im Westen geworben hat. Die wichtigsten medialen Akzente liegen schon längst woanders, als in und bei der Ukraine.

Schon am Anfang der Proteste gegen den ehemaligen Präsidenten Janukowitsch vor einem Jahr in Kiew hat man nicht nur kaum Ukrainer - oder zumindest nicht durch Brille des Kremls auf die Ukraine schauende Experten - in Studios der großen deutschen Talk-Shows eingeladen. Die Ukraine und Ukrainer kamen dort auch dann nur gelegentlich zu Wort, als im Osten des Landes im Sommer die bis jetzt heißeste Phase des Kriegs andauerte.

Nun hat man die Ukraine wieder so gut wie vergessen. Nicht nur den enorm unter starken sozioökonomischen Folgen des Krieges leidenden Großteil des Landes, inklusive des gestrigen Zentrums der Proteste Kiew, sondern auch das de facto abgespaltene und aus humanitärer Sicht von allen Seiten im Stich gelassene Donbass, wo seit dem Inkrafttreten der sogenannten “Waffenruhe” laut UN-Angaben bereits über Tausend Menschen ums Leben gekommen sind.

Zum Teil ist diese neue Akzentsetzung sogar verständlich – es geht mittlerweile tatsächlich auch um die eigene Sicherheit, um die Sicherheit des Westens. Jedoch erscheint es als fragwürdig, ob das Desinteresse gegenüber Schicksalen von über 40 Millionen Bürgerinnen und Bürgern einer militärisch angegriffenen Nation, die sich seit vielen Jahren auf dem Integrationsweg in die EU befindet, durch eigene potentielle Ängste gerechtfertigt werden kann.

Dabei ist ein kurzer Blick in das, was sich heutzutage im Donbass abspielt, sehr wichtig, um den Maßstab dessen zu verstehen, was der Ukraine-Krieg bereits nicht nur geopolitisch, sondern auch aus der soziologischen Perspektive betrachtet, für die dort lebenden Menschen angerichtet hat.

Wer Donbass in den letzten Jahren besucht hat, weiß, dass es hauptsächlich aus dutzenden Geisterstädten zusammengesetzt ist, mit maroder Wirtschaft und unübersehbarer Menge an sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Alkoholismus und Drogensucht. Dabei weiß man aber auch, dass in größeren Städten der Region, vor allem in Donezk, innerhalb jener kurzen Zeit der aktuellen ukrainischen Unabhängigkeit eine ganz neue Welt entstand. In dieser Welt hatte zwar - genauso wie in den meisten Teilen des postsowjetischen Raums - die Oligarchie das Sagen. Dennoch hat diese, beflügelt ausschließlich von der manischen Idee einer totalen wirtschaftlichen Kontrolle, weder die Entstehung einer jungen und vorerst unzahlreichen Zivilgesellschaft noch das Weiterleben einer progressiven, überwiegend nicht parteipolitisch aufgeladenen wissenschaftlichen Elite oder einiger Kulturszenen verhindern können.

Als einer der noch vor kurzem bedeutungsreichsten Bildungsstandorte der Ukraine mit mehreren Zehntausenden Studentinnen und Studenten stellte Donezk eine fruchtbare Plattform für soziale, kulturelle, politische und somit zivilisatorische Entwicklungen der dortigen Bevölkerung dar. Einer Bevölkerung, die über Eigenschaften verfügt, die für einen durchschnittlichen Vertreter des Westens unvorstellbar sein mögen - weil wir im Falle von Donbass mit einer Bevölkerung aus einigen Millionen entwurzelten Menschen zu tun haben, die sich überwiegend erst während der Zeit der sowjetischen Herrschaft nach dem zweiten Weltkrieg dort ansiedelten.

Die Bevölkerung des Donbass ist im Grunde eine sowjetische (nicht russische!) Bevölkerung, mit allen dazugehörigen Charakteristika: säkular, enttraditionalisiert, politisch fragil, gut (meistens ingenieur- und naturwissenschaftlich) gebildet, kollektiviert.

Natürlich lässt sich eine solche Bevölkerung sehr leicht politisch instrumentalisieren. Genau das wurde in den letzten 15 Jahren von der oligarchisch gesteuerten Partei der Regionen konsequent durchgezogen. Nämlich von jener ideen- und ideologielosen Partei, die ihre Wahlkämpfe mit inhaltslosen Parolen wie “Stabilität und Wohlstand” führte und diese auch - zumindest im Donbass – in den letzten Jahren ausnahmslos gewann. Was sich dort heutzutage abspielt, ist nichts anderes als eine neue politische Instrumentalisierung der dortigen Bevölkerung, die parallel zum Krieg gegen den ukrainischen Staat stattfindet. Doch was macht diese mit Donbass und deren Gesellschaft?

Um das zu verstehen, sollte man sich mit ideologischer Gesinnung der dortigen Anführer auseinandersetzen – egal ob der vom Kreml ausgewählten und entsandten oder der einheimischen. Beide Gruppen sind marginal und können bei bestem Willen nicht zu repräsentativen Vertretern der dortigen Bevölkerung gezählt werden. Das soll im Prinzip jedem Kenner der Region klar sein und spielt für die jetzige Lage vor Ort, wo Macht mit Waffen und Gewalt erobert und verteidigt wird, keine entscheidende Rolle mehr.

Was jedoch eine durchaus bedeutsame Rolle spielt, ist die Tatsache, dass das politisch fragile Donbass durch den russischen Eingriff zu einem Experimentierfeld für gefährliche und menschenverachtende Ideologien gemacht wurde. Wer heute in dieser Region das Sagen hat, vertritt Ideen, die mit einer selbst nur halbwegs demokratischen Gesellschaftsordnung nichts gemeinsam haben.

Die noch vor einem halben Jahr friedliche, von Oligarchen gesteuerte und politisch fragile Region wurde binnen weniger Monate in ein ideologisches Pulverfass aus russisch-imperialistischem Nationalismus, Nationalbolschewismus und Stalinismus verwandelt, untermauert mit einer allgegenwärtigen Präsenz der russisch-orthodoxen Kirche. Eine Zusammensetzung von offensichtlich faschistoiden Ideologien und einer Clique, die ihren faschistoiden Kern dadurch zu verschleiern versucht, dass sie alle um sich herum als Faschisten beschimpft. Übersehen wird bloß, dass als nächstes Schimpfwort von denselben vermeintlichen “Antifaschisten” das Wort “Jude” verwendet wird. Eine für den Diskurs in Deutschland kaum vorstellbare Vorstellung.

Man sieht, wie selbst die angesehenste deutsche Presse in die Falle der russischen Propaganda getreten ist. Man sieht, wie sie sich mit einer durchaus wichtigen Frage der Verbreitung von rechtsradikalen Bewegungen in der heutigen Ukraine unverhältnismäßig auseinandersetzt. Das ist auch gut so. Man soll der Kreml-Propaganda eine würdige Antwort in Form einer fundierten journalistischen Recherche geben. Dabei scheint mir die Art der Diskussion das Ausmaß des - ohne jede Frage nicht zu duldenden - Rechtsradikalismus in der Ukraine nicht abzubilden. Wir sind in Deutschland von Ländern umgeben, wo das rechtsradikale und rechtspopulistische Gedankengut beim Nicht-Vorhandensein eines Krieges durchaus weiter verbreitet ist, als in jenem armen, vom Krieg und einer starken wirtschaftlichen Rezession versunkenen osteuropäischen Land.

Was im Hinblick auf diese Krise und den damit einhergehenden Krieg viel mehr von Bedeutung zu sein scheint, ist die Verbreitung von rechtsradikalem Gedankengut in dem im diesem Krieg versunkenen Donbass und auch in Russland, wo der Staat – zumindest inoffiziell - schon längst einen Kurs auf Begünstigung der rechtsradikalen Bewegungen im Lande eingeschlagen hat. Denn solange wir darüber schweigen, machen wir eine bereits jetzt kaum mehr mögliche Rettung dieser an Bildung, Industrie und Infrastruktur reichen Region Europas absolut unmöglich. Für Jahre, Jahrzehnte oder vielleicht sogar für immer.