Gedanken zu Günter Grass

Er war unbequem, weil er Unrecht benannte

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Günter Grass auf dem Blauen Sofa im Berliner Ensemble (2006)
Günter Grass auf dem Blauen Sofa im Berliner Ensemble (2006)

WIESBADEN. (hpd) Günter Grass, dichtender Begleiter unserer Geschichte, ist gestorben. Und diese semantische Verbindung von Literatur und Geschichte macht betroffen, ein Verlust, weil Grass ein Schriftsteller war, der den Finger auf die Wunden gelegt hatte, die durch Geschichtsklitterung entstanden sind.

Es waren viele Wunden, die er bloßlegte, in aller Deutlichkeit immer wieder zeigte, fast schon penetrant, weil die Ohren der Angesprochenen verschlossen blieben. Das verschaffte ihm den Beinamen "Der Unbequeme" - immer gerade jetzt wieder zu lesen in zahlreichen Nachrufen.

Klar war er unbequem - ist man das aber dadurch, dass man Unrecht benennt? Viele Geschichtsprozesse hat Grass erhellt - dass dies nicht im Sinne von Eliten war, wird klar angesichts der Anfeindungen von oftmals reaktionären Kräften, die ihre eigenen Sichtweisen mangels Argumenten ungehemmt äußerten und unhistorisch argumentierten. Das war Grass' Verteidigung seines Schriftstellerkollegen Rolf Hochhuth, der vom damaligen christdemokratischen Kanzler als Pinscher verhöhnt wurde, weil er Verbrechen aufgedeckt hatte, das waren die Aufdeckungen von den dunklen Geschäften der Treuhand, die Kapital verhökerte, das ihr nicht gehörte (1995 in "Ein weites Feld&" beschrieben) - und das war auch die Beschreibung der Geschichte der Vertriebenen (in "Wilhelm Gustloff"). Das war keine Parteinahme, sondern eine Darstellung von Geschichte, der sich die Literatur nicht zuwandte - wie er in einem Interview beklagte.

Zuletzt waren es auch zwei Gedichte, die er vor zwei Jahren schrieb, Gedichte, die die Politik Israels anprangerte - nicht die der Israelis, wie er präzisierte, sondern die Haltung der israelischen Politiker unter der Regierung Netanjahus. Diese antwortete erwartungsgemäß mit einem Einreiseverbot, was Grass aber nicht mehr kommentierte.

Als Grass 1999 den Nobelpreis für Literatur aus der Hand des schwedischen Königs erhielt - hauptsächlich für seinen Roman “Die Blechtrommel” - hatte man ihn sogleich auch mit Heinrich Böll verglichen, der einige Jahre vorher diesen Preis erhielt. Schriftstellerkollegen waren sie natürlich, standen immer bis zum Tod Heinrich Bölls in Verbindung, doch die Literaturen der Beiden waren unterschiedlich: war Böll der Dichter der Nachkriegsliteratur, war Grass der, der Geschichte, die unbekannt war, in Geschichten verwandelte, die, da sie akribisch recherchiert waren, nachvollziehbar erzählt wurden.

Man nimmt immer sehr leicht die Vokabel "authentisch" zur Hand, wenn man etwas beschreiben will, was genau auf literarischer Aussage wie auf gelebtes Leben zutrifft - Günter Grass war einzigartig, nicht nur wegen seines so umfangreichen Werkes, das man kaum aufzählen kann, sondern mit der Beschäftigung der Vielfalt der Themen, die er ansprach - was oftmals als Provokation empfunden wurde. Sicher wollte er das auch, aber immer hoffte er Antworten auf Fragen, die vorher nie gestellt wurden.

Immer war er verbindlich im Ton, stellte sich den ebenso kritischen Fragen anderer wie er sie selbst gestellt hatte.

Angenehm war seine Art im Umgang mit anderen - vielfach habe ich das selber erlebt, so z.B. bei Interviews, die ich mit ihm geführt hatte wegen der verschiedenen Neuerscheinungen. Einmal hatte ich ihn zusammen mit Dieter Hildebrandt in meine damalige Sendung ("Buch total") eingeladen, das war kurz nach dem Nobelpreis: Hildebrandt selbst war fast sprachlos, selten auch ihn so persönlich erlebt - ob der Eloquenz Grass's. Grass konnte wunderbar zuhören und reflektierend (den Prozess dieses Vorgangs konnte man immer verfolgen). Tastend nach Worten suchend, ringend um die richtige Formulierung.

Was Grass auch konnte: Feiern. Auch das habe ich erlebt, z.B. als die Verfilmung seines Romans in Berlin in einem Hotel gefeiert wurde und er mit David Bennent trommelnd auf seinen Schultern in den Saal einzog. Und was mir noch einfällt, gerade wenn man die vielen Begegnungen Revue ziehen lässt? Tanzen konnte er auch wunderbar: im Literarischen Colloquium in Berlin, wo damals viele Feste gefeiert wurden, tanzte er bis spät in die Nacht - auch das gehört zu seinem Nachruf...