BERLIN. (hpd) Der neue Roman des französischen Schriftstellers Michel Houellebecq erzählt einige Monate aus dem Leben von Francois, einem atheistischen Literaturwissenschaftler. Für das Buch wurde der Autor stark kritisiert, doch der Rezensent macht deutlich, dass Houellebecq weniger vor einer Islamisierung als vielmehr vor einem Rollback der christlichen Religionen warnt.
Seit dem erfolgreichen Abschluss des Dissertationsverfahrens empfindet der Mitvierziger seine schöne Jugendzeit als beendet. Er hat kein Interesse an einer beruflichen Eingliederung, sein Leben als Hochschullehrer an der Sorbonne ödet ihn an, Lehre findet er schrecklich, zuwider sind ihm Karrierismus und Opportunismus der Kollegen. Er erlebt, wie sich sein ohnehin musterhaftes und unterkühltes Beziehungsleben ("es fand Geschlechtsverkehr statt", S. 15) jetzt völlig dem Ende zuneigt. Familie und Kinder hat er keine, die Eltern seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen.
Auf wichtige Fragen ist er ohne Antworten und ansonsten "politisiert wie ein Handtuch" (S. 43). Die ihn umgebene Welt, geprägt von Geld, Konsum und Wettbewerb, erlebt er als eine untergehende, das politische System wie ein einziges Kasperle-Theater. Kurzum: Francois weiß nicht, wozu er da ist. Einzig die Bücher, gelegentlich das Essen und der Sex scheinen ihm ein wenig Lebenssinn spenden zu können.
So haben wir in Unterwerfung zunächst einmal die bei Houellebecq üblichen und nicht von allen geschätzten Ingredienzen: Ein vereinsamter männlicher Protagonist mit überschaubaren emotionalen wie sozialen Kompetenzen und zweifelhaftem Frauenbild, der seine eintönige Existenz und Umwelt desillusioniert bis zynisch betrachtet. Allerdings ist Francois deutlich weicher konstruiert als seine Vorgänger, vielleicht eine Milde des Alters beim Autor. Was den neuen Roman aber auszeichnet, ist die originelle und politisch informierte Ausmalung eines islamisch regierten Frankreichs im Jahre 2022, wodurch Unterwerfung – im Gegensatz zu anderen Nachfolgewerken – nahe an die brillanten Elementarteilchen von 1998 herankommt. Man mag die Wahrscheinlichkeit der entworfenen Fiktion gering einschätzen, absurd sind die meisten ihrer Komponenten nicht. Houellebecq lässt sie literarisch elegant in das Leben seines Protagonisten einfließen.
Demokratischer Islam
In Unterwerfung herrscht nicht die brutale Hand von Kalifat und Scharia, sondern es regiert ein intelligenter, eloquenter, sich geschickt innerhalb der demokratischen Institutionen bewegender islamischer Präsident, der die islamistischen Terroristen als Dummköpfe verachtet. Mohammed Ben Abbes ist demokratisch gewählt, mit Hilfe einer "Republikanischen Front" der etablierten Parteien Frankreichs (UMP, UDI, PS), deren Wähler und Wählerinnen ihn in der Stichwahl gegenüber der Kandidatin des Front National bevorzugten. Er regiert in einer Koalition mit diesen Parteien und ist Humanist: Der Islam gilt ihm als "vollendete Form eines alles wiedervereinigenden Humanismus" mit ehrlichem Respekt für alle drei Buchreligionen (S. 131). Die Ausübung des katholischen Glaubens erfährt (noch?) keinerlei Einschränkungen, denn der wahre Feind der Moslems ist "der Säkularismus, der Laizismus und atheistische Materialismus" (S. 135).
Seine 2017 gegründete Partei der Bruderschaft der Muslime vertritt eine moderate Israel-Position. Sie hat sich vor allem im vorpolitischen Bereich etabliert – soziale Dienstleistungen, Jugendverbände, Kultur – und ist daher wählbar auch für Nicht-Religiöse. Sie setzt auf die friedliche Evolution durch Demografie und Bildung: Religion gilt ihr als selektiver Fortpflanzungsvorteil (Muslime gebären mehr Kinder) [1] und Kinder sollen durch islamische Werteerziehung kontrolliert werden. Das alles brav "pluralistisch", am Anfang steht eine friedliche Minderheitsscharia: Ko-Existenz von Polygamie und bürgerlicher Ehe, von muslimischen Schulen und laizistischen Schulen ebenso wie Universitäten; allenfalls seien die republikanischen Schulen für spirituelle Bedürfnisse zu öffnen. 2022 an die Macht gekommen, schafft sie es, die Kriminalität drastisch einzudämmen und die Arbeitslosigkeit zu besiegen (weil immer weniger Frauen arbeiten gehen).
Francois bedauert das Verschwinden der Kleider und Röcke im öffentlichen Leben, die allgemeine Vorherrschaft der Hose bei Frauen; er registriert die deutliche Zunahme verschleierter Student_innen in der Universität und auf den Straßen; er weiß von der großzügigen Finanzierung der islamischen Unis durch arabische Ölmonarchien, wodurch diese klare Wettbewerbsvorteile erlangen; er ist frappiert, weil untalentierte Wissenschaftlerkollegen üppig alimentiert Karriere machen und selbst die Unansehnlichsten unter ihnen plötzlich mehrere Ehefrauen haben, alles dank Konversion zum Islam. Da kann man(n) schon mal ins Grübeln kommen.
Männer und Frauen
In einem langen Gespräch mit dem neuen, ebenfalls zum Islam konvertierten Präsident der Sorbonne wird deutlich, dass Francois viel weniger angetan ist von dessen tiefer Religiosität oder seinen Gottesbeweisen, als vielmehr von der guten kulinarischen Versorgung durch die erfahrene 40-jährige Erstfrau sowie dem Auftritt der 15-jährigen Zweitfrau für andere Aspekte des Lebens. Er bekommt das Buch Zehn Fragen zum Islam geschenkt und überspringt flugs die Kapitel über die Geschichte und die religiösen Pflichten des Islams, um sich sogleich demjenigen über Polygamie zu widmen (S. 241). Die Überzeugungskraft von leckeren Teigtaschen und schönen Körpern rangiert bei ihm deutlich über derjenigen von theologischen Säulen.
Der in Unterwerfung eine Art alter ego von Francois darstellende französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans (1848–1907) konvertierte am Ende seines Lebens zum Katholizismus. Houellebecq erklärte in einem ZDF-Interview [2], es sei auch seine ursprüngliche Idee gewesen, Francois den gleichen Weg gehen zu lassen. Dann aber erschienen ihm die katholischen Rituale und Auffassungen doch als zu merkwürdig, um eine solche Konversion plausibel zu machen. Sein Protagonist wäre nur enttäuscht gewesen. Wird Francois stattdessen zum Islam konvertieren oder nicht? Auf die Beantwortung dieser Frage läuft das Buch schließlich hinaus. Dabei scheint Houellebecq im letzten Kapitel auch seinen (männlichen?) Leser augenzwinkernd zu fragen, wie er sich denn entscheiden würde.
3 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Klingt sehr interessant!
Aber bzgl.: "er registriert die deutliche Zunahme verschleierter Student_innen in der Universität und auf den Straßen" - gab es da auch verschleierte Studenten?
Andrea Pirstinger am Permanenter Link
Verschleierte Studenten?
Vermutlich Tuaregs.
In einem islamisch regierten Frankreich nichts Ungewöhnliches.
Anne Robel am Permanenter Link
. Gut gekontert! die subtile Kritik richtet sich wohl gegen den Studenten statt Studentin, bzw.