Eine andere Großideologie im 19. Jahrhundert war der Antisemitismus, der eigentlich ein Antijudaismus war. Seit 1860 hatten in Mitteleuropa die Juden weitgehend die gleichen Rechte wie die Christen bekommen. Sie durften Grund und Boden erwerben, sie gründeten Industrieunternehmen, bauten große Bankhäuser und gaben Zeitungen heraus. Fortan durften sie an den Universitäten studieren. Viele Juden wirkten nun als Ärzte, Rechtsanwälte, als Unternehmer und Bankiers. In der Politik und beim Militär waren sie kaum vertreten. Aus Angst vor den wirtschaftlich aufstrebenden Juden schlossen sich Adelige und Bürger zu antisemitischen Vereinen zusammen. Die Kirchenleitungen und die Theologen unterstützten diese antijüdische Ideologie auf intensive Weise mit Argumenten aus der Bibel. Sie predigten, die Juden seien eine Gefahr für das christliche Volk, denn sie würden dessen gute Sitten verderben. Folglich müssten ihnen die bürgerlichen Rechte wieder genommen werden. [7]
Vor allem die internationale Jesuiten-Zeitschrift "Civilta cattolica" in Rom, die in sechs Sprachen ediert wurde und weltweit Verbreitung fand, kämpfte über 50 Jahre lang intensiv gegen das "internationale Judentum". Bereits im Jahr 1890 schrieb der Chefredakteur der Zeitschrift in drei großen Artikeln, die Juden seien eine Gefahr für den christlichen Glauben und die Moral. Sie hätten in Europa zu viele Rechte bekommen, und sie strebten nach der Weltherrschaft. (So predigte es auch der bayerische Priester und Politiker Georg Ratzinger, ein Großonkel von Papst Benedikt XVI.) Deswegen müssten sie wie im Mittelalter wieder enteignet werden und von den Christen getrennt in Ghettos leben (segregazione). Auf längere Sicht sollten sie von Europa entfernt werden. Die Bischöfe und Päpste seien zu den Juden viel zu tolerant gewesen. Doch bald werde ein "neuer Attila" (nuovo Attila) kommen, der werde die Fabriken und die Geldhäuser der Juden zerstören. Dann werde Christus wieder in Europa herrschen. [8]
Artikel gegen die Juden wurden in der Jesuitenzeitschrift bis 1938 fortgesetzt. Die Faschisten in Italien und die NS-Zeitschrift "Der Stürmer" hatten Teile der Artikel abgedruckt. Noch nach 1935 (Nürnberger Rassengesetze) forderten Jesuiten in Rom, die Juden müssten aus Europa entfernt werden, doch ihre Trennung von den Christen solle in Gerechtigkeit und Barmherzigkeit erfolgen. Die organisierte Judenvernichtung ab 1942 wurde in der Zeitschrift der Jesuiten nie erwähnt, und nach 1945 gab es in dieser Zeitschrift kein Bedauern und kein Schuldbekenntnis für die hoch aggressiven Artikel. Papst Franziskus lobte 2014 noch den Bekennermut der Redakteure dieser Zeitschrift, es kam kein Wort des Bedauerns über den Antisemitismus. Nach profanen politischen Maßstäben müsste eine solche Zeitschrift heute aufgelöst und mit einem neuen Namen neu gegründet werden. Denn auch unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit kann in modernen Rechtsstaaten nicht alles erlaubt sein. Politisch gesehen ist der Antisemitismus bzw. der Antijudaismus das traurigste Kapitel in der Geschichte des Herrschaftschristentums. [9]
Teil 1: Die theologischen Brückendenker von 1933 bis 1945
Teil 2: Die Politik der Kirchenleitungen
Teil 3: Kriegspredigten 1914 bis 1918
Der katholische Theologe Johannes Rothkranz aus Durach in Bayern gibt in seinem Verlag "Pro fide catholica" seit 2001 regelmäßig wieder die antisemitischen Artikel aus der Zeitschrift "Civilta cattolica" heraus. Versehen sind sie mit judenfeindlichen Kommentaren aus der Gegenwart. Darin behaupten getaufte Juden und jüdische Rabbis in den USA, der Holocaust sei eine gerechte Strafe für die Sünden der Juden gewesen. Damit rückt dieser Verlag in die Nähe der Holocaust-Leugner, die sich auch in der katholischen Pius-Bruderschaft finden. (Papst Benedikt XVI. hatte diese Bruderschaft wieder in die Kirche aufgenommen.) Die Behörden des Staatsschutzes sehen hier aber keine Notwendigkeit, die Edition solcher Artikel zu untersagen. [10]
Andere Großideologien entstanden aus Ideen der Wortführer der unteren sozialen Schichten, vor allem der Arbeiter und der Besitzlosen. Die frühen utopischen Sozialisten nahmen das Maß einer gerechten Gesellschaft am frühen Christentum. Sie engagierten sich für eine gerechte Verteilung der Güter, für bessere Arbeitsbedingungen und für gerechtere Löhne für die Arbeiter, für deren Vorsorge im Fall von Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter. Die internationalen Sozialisten (F. Lasalle, A. Bebel) stritten politisch für mehr soziale Gerechtigkeit, für bessere Bildung der Arbeiter, für eine internationale Solidarität aller arbeitenden Menschen. Es wurden Arbeitervereine gegründet, zu deren Zielen auch die Erhaltung des Friedens gehörte. Die meisten Sozialisten strebten nach besseren Lebensbedingungen für die Arbeiter (Proletarier), aber sie wollten keinen gewaltsamen Umsturz der Gesellschaft. [11]
Hingegen gab es bald radikale Theoretiker des Sozialismus, die meist aus den bürgerlichen Eliten kamen und den gewaltsamen Umsturz der politischen Verhältnisse anstrebten. Zu ihnen gehörten Karl Marx und Friedrich Engels. Beide waren keine Arbeiter, sondern kamen aus dem Bürgertum. Auch sie engagierten sich für mehr soziale Gerechtigkeit, aber sie riefen die Arbeiter auch zu Gewaltanwendungen auf (Kommunistisches Manifest von 1848). Ohne den Kanonendonner werde das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft nicht erreichbar sein, schrieb Karl Marx. So entstand die Ideologie des "Marxismus", welche die Aufhebung des Privateigentums und die Vergesellschaftung aller Produktionsmittel zum Ziel hatte. Nach den Prinzipien des "Kommunismus" werde dann eine klassenlose und vollkommen gerechte Gesellschaft entstehen. In dieser könnten alle arbeitenden Menschen ihre Begabungen frei entfalten; die Zeit der Ausbeutung durch entfremdete Arbeit sei dann vorbei, und auch die Religion werde von selbst absterben. [12]
Diese kommunistische Gesellschaft werde mit innerer Notwendigkeit kommen. Ein großer politischer Umsturz gelang dem Revolutionsführer W. I. Lenin im Oktober bzw. November 1917 in Russland. Die deutsche Heeresleitung unter General Ludendorff hatte den Berufsrevolutionär aus der Schweiz nach Russland bringen lassen, um den Krieg an der Ostfront vorzeitig zu beenden. Dies gelang auch. Lenin schloss Frieden mit den Mittelmächten, er führte in Russland mit seinen Anhängern (Bolschewiki) die Verstaatlichung des Privatbesitzes durch. Nach einem längeren Bürgerkrieg zwischen der Roten Armee und der bürgerlichen Armee (Weiße Armee) gelang es ihm, einen neuen Staat der Sowjetrepubliken (Sowjet-Union) zu errichten. Die kommunistische Ideologie bzw. der Bolschewismus wurden nun zum großen Feindbild der faschistischen Bewegungen und Parteien in ganz Europa. [13]
Damit bauten sich im 19. Jahrhundert die großen Ideologien auf, welche in die beiden Weltkriege im 20. Jahrhundert führten und diese Kriege auch trugen. Der Faschismus als Großideologie hatte geistige Wurzeln in der "Action Francaise", welche gegen die Republik in Frankreich (seit 1871) gerichtet war. Er entstand aber als politische Bewegung im Königreich Italien vor, im und nach dem ersten Weltkrieg, hauptsächlich getragen vom ehemaligen Sozialisten Benito Mussolini. Dieser errichtete ab 1922 den faschistischen Staat Italien, der in Teilbereichen bis 1945 Bestand hatte. Seiner Ideologie folgten auch die Faschisten in Spanien, Portugal, in einigen Staaten Lateinamerikas und in den Ländern Osteuropas. Große Kriege können bis heute vermutlich nur mit starken politischen Ideologien, oder bzw. und mit religiöser Motivation geführt werden (siehe ISIS). [14]
(wird fortgesetzt)
[1] A. Grabner-Haider/P. Strasser, Hitlers mythische Religion 56–78.
[2] H. Schwedt, Traditionalismus. In: LThK X, Freiburg 2007, 159f.
[3] P. Alter, Nationalismus. Frankfurt 1985, 63–80.
[4] W. Wette, Militarismus in Deutschland. Darmstadt 2009, 35–55.
[5] ebenda 102–129.
[6] A. Grabner-Haider/P. Strasser, Hitlers mythische Religion 107–117.
[7] ebenda 98–110.
[8] F. Berardinelli, Della questione Giudaica. In: La Civilta Cattolica (1890) 5–20, 385–407, 644–650. D. Kertzer, Die Päpste gegen die Juden. München 2004, 183–194.
[9] D. Kertzer, Die Päpste gegen die Juden 194–213. A. Grabner-Haider, Hitlers Theologie des Todes 147–166.
[10] J. Rothkranz, Die jüdische Frage in Europa. Eine Artikelserie aus der römischen Jesuitenzeitschaft La Civilta Cattolica 1890. Verlag Pro Fide Catholica. Durach 2001, 17–34.
[11] A. Anzenbacher, Sozialismus. In: LThK IX. Freiburg 2007, 781–783.
[12] M. Lutz-Bachmann, Marxismus. In: LThK VI. Freiburg 2007, 1449–1451.
[13] W. Rauscher, Hitler und Mussolini. Graz 2000, 67–80. W. Wippermann, Faschismus. Darmstadt 2009, 15–32.
[14] W. Wippermann, Faschismus 51–68.