Betroffene sprechen über Schmerzen, Verlust und Scham

Nur ein kleiner Schnitt?

MÜNCHEN. (hpd) Knapp drei Jahre nachdem die operative Entfernung der Penisvorhaut bei minderjährigen Jungen gesetzmäßig der elterlichen Fürsorge zugesprochen wurde, erscheint mit dem Buch "Ent-hüllt! Die Beschneidung von Jungen – nur ein kleiner Schnitt?" von Clemens Bergner erstmals eine Sammlung von Berichten Betroffener im deutschen Sprachraum.

Die internationale Intaktivisten-Bewegung, die ihre Wurzeln in den USA hat, ist seit der Initialzündung durch das "Kölner Urteil" am 7. Mai 2012 auch in Deutschland angekommen. "Ent-hüllt!" ist, neben Büchern und Aufsätzen, die sich eher wissenschaftlich (juristisch, medizinisch, historisch oder religionswissenschaftlich) an dem Thema abarbeiten, nun die erste Zusammenstellung von Erfahrungsberichten aus erster Hand. Über den Zeitraum von mehreren Jahren befragte der Autor knapp 80 Personen. Darunter in erster Linie betroffene Männer selbst und auch – ein wirkliches Novum – die SexualpartnerInnen von Beschneidung betroffener Männer sowie die Eltern, die vor Jahren in den Eingriff eingewilligt hatten.

Diese sprichwörtliche Enthüllung, die der Titel ankündigt, erfolgt durch eine sachlich-logische Diskussion einzelner Teilaspekte: Bergner schockiert den Leser, denn er hat nicht einfach einen Bericht nach dem anderen transkribiert und aneinandergereiht, vielmehr hat er die ihm vorliegenden Aussagen sorgsam ausgewertet und die Auseinandersetzungen mit einzelnen Aspekten der Zirkumzision zusammengestellt. So wird ein Mythos nach dem anderen als solcher entlarvt. Wer dieses Buch bis zum Ende gelesen hat, wird nicht mehr glauben können, dass es in dieser Debatte "nur um ein Stückchen Haut" geht.

Zu Beginn des Buches schildert der Autor seinen Suizidversuch und die Spurensuche nach den Ursachen für sein erschüttertes Seelenleben. So stellt er eine unmittelbare Nähe zum Leser her. Wer sich darauf einlässt, geht mit dem Ich-Erzähler Schritt für Schritt einen Weg der Erkenntnis bis hin zur Beantwortung der Fragen, zur Enthüllung eines zunächst völlig undurchsichtig wirkenden Rätsels. Bergner ist beschnitten. Nach einem Suizidversuch begibt er sich in Therapie, um seine "Sex-Sucht", wie er schreibt, in den Griff zu bekommen. Er ahnt, dass die Ursache seiner Unzufriedenheit mit dem Hang zur Depression irgendwo in seiner Kindheit zu finden ist. Die zunächst verfolgte Spur – ein sexueller Missbrauch als 12jähriger – stellt sich als falsch heraus. Die erschütternde Erkenntnis, die Bergner mit dem Leser teilt: Das Missbrauchs-Erlebnis hat ihn nicht annähernd so geprägt wie der Übergriff auf sein Genital durch die Beschneidung im Alter von acht Jahren. Im nächsten Schritt findet er heraus, welches die sexuelle Funktion der Vorhaut ist und beginnt zu ahnen, was ihm durch deren Entfernung entgangen ist, wo die Probleme in seiner Ehe herrühren und warum er seine eigene Sexualität niemals als erfüllend zu empfinden vermochte.

Die wohl intimste Passage ist die Auseinandersetzung mit den Eltern. Bergner sucht das Gespräch mit seiner Mutter, um sich über die Motive der Operation Klarheit zu verschaffen. Man atmet gemeinsam mit ihm auf, wenn die Mutter glaubhaft versichert, dass es der ärztliche Rat war auf den sie damals hörte. Bergner macht seinen Frieden mit den Eltern, wobei klar wird, dass dies einer der wichtigsten Schritte auf seinem Weg zu sich selbst ist.

Gleichzeitig zur Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit blickt Bergner in die Zukunft und beginnt, seine Vorhaut zu "restoren" [Anm.: Durch kontinuierliches Dehnen der verbliebenen Haut am Penis wird die Haut zum wachsen angeregt. Je nach Länge der Prozedur kann so neue Haut "gewonnen" werden, um irgendwann die Eichel wieder zu bedecken]. Der lange und mühevolle Prozess, den er dabei auf sich nimmt, lässt keinen Zweifel mehr daran, dass er die Beschneidung bzw. Genitalverstümmelung als Ursache vieler seiner Probleme erkannt hat. Wenn er beschreibt, wie er langsam einen Teil seiner verlorengegangene sexuellen Empfindsamkeit zurück erlangt, geht seine Erzählung besonders da unter die Haut, wo er das gemeinsame sexuelle Erleben mit seiner Frau beschreibt. An dieser Stelle wird klar: Beschneidung wirkt sich nicht nur auf den Körper und die Seele des Beschnittenen Menschen aus, sondern ebenso auf dessen Partnerschaft und somit auf die beteiligten SexualpartnerInnen.

Bei all seinen Ausführungen betont Bergner immer wieder, dass nur "wahr" ist, was der Mensch selbst fühlt. Er distanziert sich damit ausdrücklich von einer Pauschalisierung nach dem Motto "wenn es mir aufgrund der Beschneidung schlecht geht, geht es allen Betroffenen schlecht." Er gesteht vielmehr ganz selbstverständlich jedem einzelnen zu, darüber individuell zu empfinden. Die Betroffenen, die im Anschluss an seine Geschichte zu Wort kommen, sind jedoch allesamt negativ durch ihre Beschneidung geprägt. Bergner beschränkt sich auf diese Sicht, da, wie er sagt, es genau jene Stimmen sind, die bislang nicht gehört wurden.

Was nun folgt ist die Abhandlung einzelner Teilaspekte der Folgen von Beschneidung. Betroffene äußern sich über die Motive, aus denen sie beschnitten wurden, über den Eingriff selbst, über körperliche und seelische Schäden, über sexuelle Auswirkungen, das Restoring und sie benennen die Schwierigkeiten, über all diese Tabus privat oder öffentlich zu sprechen.

Durch Bergners sehr sachliche und zurückhaltende Ein- und Überleitungen in den einzelnen Kapiteln, lässt er den Betroffenen Raum, eigenständig zu Wort zu kommen. Bemerkenswert ist die enorme Vielfalt, was den Hintergrund seiner Interviewpartner betrifft. Neben solchen mit (pseudo)-medizinischer Indikation kommen auch zahlreiche Betroffene mit kulturellem bzw. religiösem (muslimischem und jüdischem) Hintergrund zu Wort. So einleuchtend unterschiedlich die Erzählungen über den Eingriff und dessen Bedeutung selbst sind, so verblüffend ähnlich sind die Schilderungen der Folgen. Dabei stellt sich heraus: Was in der Debatte noch vollkommen fehlt, sind eine fundierte Dokumentation und Erforschung von Langzeitfolgen von Beschneidungen. Die verfügbare Literatur bezieht sich bis jetzt ausschließlich auf die unmittelbar aus dem Eingriff resultierenden Komplikationen wie etwa Blutungen und Nachbehandlungsbedarf. Sobald die Wunde verheilt ist, ist der Fall aus medizinischer Sicht abgeschlossen. Mit welch gravierenden Folgen gesundheitlicher und sexueller Natur die Betroffenen danach ein Leben lang zu kämpfen haben, scheint selbst Urologen weitestgehend unbekannt zu sein. Viele Betroffene sprechen von Unverständnis und Ungläubigkeit gerade jener Ärzte, denen sie sich offenbaren, um sich Rat zur Linderung von Schmerzen zu holen. Die von Bergner geleistete Sammlung und Auswertung dieser Betroffenen-Aussagen könnten vielleicht ein erster Schritt zur weiteren wissenschaftlich fundierten Erforschung der Thematik sein. An Material dürfte es nicht mangeln: Bergner hat viele Männer befragt und damit den Mythos von "wenigen Einzelfällen" widerlegt. Diese vielen leiden: Unter wenig Empfindung beim Sex, unter Schmerzen an den Operationsnarben, unter dem Gefühl, von den Eltern verraten und missbraucht worden zu sein und nicht zuletzt darunter, sich nicht als ganzer und intakter Mann zu fühlen.

Ein weiteres Puzzle-Teil zum Verständnis der Tragweite des Phänomens der Beschneidung sind die Berichte der befragten SexualpartnerInnen. Auch sie ähneln sich in ihren Aussagen. Gerade diejenigen Frauen und Männer, die Sex mit beschnittenen und intakten Männern erlebt haben, sprechen oft dieselbe Sprache. Sex mit Beschnittenen wird als "Arbeit" empfunden. Es ist von Schmerzen die Rede, von Problemen beim Benutzen von Kondomen, von Erektionsstörungen und vom häufigen Ausbleiben eines Orgasmus des Beschnittenen. Und immer wieder wird die Beschneidung auch als Grund für Probleme in der Partnerschaft bis hin zur Trennung genannt.

Das bewegendste Kapitel des Buches jedoch sind die Aussagen der wenigen Eltern, die bereit waren, sich zu äußern. Die von Bergner gesammelten Stimmen kamen hierbei überwiegend aus den USA, wo Säuglingsbeschneidung bis vor wenigen Jahrzehnten noch routinemäßig an über 90% der Neugeborenen praktiziert wurde. Hier schimmert eine Erkenntnis durch, die vielleicht eine der wichtigsten in der gesamten Debatte um die Beschneidung von Kindern sein könnte: Alle Eltern lieben ihre Kinder; Beschneidung schadet trotzdem.

"Ent-hüllt!" ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Enthüllung. Wer mit dem Thema bereits vertraut ist, der wird in diesem Buch vieles wiederfinden und dennoch ist die Masse und die brutale Ehrlichkeit neu, mit der die Betroffenen sich äußern. Beschneidungsgegner werden durch die Lektüre sicherlich in ihrer Haltung bestätigt. Die Befürworter von Beschneidung sollten danach zumindest die Behauptung aufgeben, es gäbe keinen Mann, der unter seiner Beschneidung litte.

Nicht zuletzt findet sich in diesem Buch auch ein Plädoyer für ein "neues" Männerbild, das dem Kampf der Geschlechter eine Absage erteilt: Viele der zu Wort kommenden Männer wenden sich ab vom Ideal, sexuell "ausdauernder" zu sein und im Bett den "Rammler" zu geben. Eine erfüllende Sexualität, die auf Zärtlichkeit, Einfühlungsvermögen und physischer wie psychischer Verbindung zur Partnerin baut, ist ebenso eine Herzensangelegenheit wie der Wunsch, der geliebten Frau beim Geschlechtsverkehr nicht wehzutun.

Clemens Bergner: “"Ent-hüllt! Die Beschneidung von Jungen - Nur ein kleiner Schnitt?", ISBN: 978–3–7323–4012–5, tredition-Verlag, 324 Seiten, 17,90 Euro