München

Aktivisten begleiteten Marx' Pressekonferenz zum Missbrauchsgutachten

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Der "Hängemattenbischof" vor dem Ort der Pressekonferenz
Der "Hängemattenbischof" vor dem Ort der Pressekonferenz

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Symbolische Aktenordner waren auf den Schriftzug gestapelt
Symbolische Aktenordner

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David Farago mit der aktualisierten "Bild"-Titelseite zur Papstwahl Ratzingers
David Farago mit der aktualisierten "Bild"-Titelseite zur Papstwahl Ratzingers

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Symbolische Aktenübernahme vor dem Archiv des Erzbistums München und Freising
Symbolische Aktenübernahme

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Protestzug auf dem Weg zum Landgericht München II
Protestzug zum Landgericht München II

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Vertreter von Betroffenenverbänden und säkularer Organisationen vor dem Landgericht München II
Vor dem Landgericht München II

Eine Woche nach Veröffentlichen des Missbrauchsgutachtens haben sich Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising, und zwei weitere Bistumsrepräsentanten dazu geäußert und sich den Fragen der Journalisten gestellt. Begleitet wurde der Tag von einer Aktion von Betroffenenverbänden in Zusammenarbeit mit säkularen Organisationen.

Am Donnerstag vergangener Woche stellten die drei Juristen Marion Westpfahl, Martin Pusch und Ulrich Wastl das lange erwartete Gutachten zu Fällen sexuellen Missbrauchs im Erzbistum München und Freising zwischen 1945 und 2019 der Öffentlichkeit vor (der hpd berichtete). Darin wird sowohl Ex-Papst Joseph Ratzinger alias Benedikt XVI. als auch Kardinal Reinhard Marx Fehlverhalten vorgeworfen. Der amtierende Münchner Erzbischof hatte es vorgezogen, diesem Termin fernzubleiben und stattdessen eine Stellungnahme für den gestrigen Tag angekündigt. Dazwischen lag eine Woche höchster medialer Aufmerksamkeit und öffentlichen Drucks, die ihre Spuren zu hinterlassen haben scheint, denn die Tonalität war diesmal eine andere.

Man relativiere nicht, sagte Marx, und dass er bereit sei, Verantwortung zu übernehmen. Für ihn bestehe die größte Schuld darin, die Betroffenen übersehen zu haben: "Das ist unverzeihlich. Es gab bei uns kein wirkliches Interesse an ihrem Schicksal, an ihrem Leiden. Das hat nach meiner Auffassung auch systemische Gründe und zugleich trage ich dafür als amtierender Erzbischof moralische Verantwortung." Er hoffe, zeitnah mit Betroffenenbeirat und Aufarbeitungskommission sowie auch mit dem Diözesanrat und anderen Beratungsgremien über das Gutachten und die Konsequenzen für das Erzbistum sprechen zu können. "Wir wissen jetzt genug, damit wir hinschauen und jetzt anders handeln können." Hinschauen und hinhören sei man den Betroffenen und allen Gläubigen schuldig.

Was die Fälle angeht, bei denen ihm persönlich fehlerhaftes Handeln zur Last gelegt wird, werde er diese zusammen mit Fachleuten nochmals aufarbeiten und genau prüfen – "nicht um mich zu verteidigen, sondern um daraus zu lernen und Veränderungen anzugehen". In einem Fall werfe er sich vor, "nicht wirklich aktiv auf Betroffene zugegangen zu sein". "Der Umgang mit Missbrauch in der Kirche war und ist für mich Chefsache", betonte der Münchner Oberhirte, räumte aber auch ein, dass er "noch mehr und engagierter" hätte handeln können. Er kündigte an, sich kritisch hinterfragen zu lassen. Zu personellen Konsequenzen hieß es: "Jeder Verantwortungsträger sollte auf die bisherigen Erkenntnisse schauen und sich überlegen: Was habe ich persönlich zu verantworten? Worin besteht mein Versagen? Wo habe ich mich schuldig gemacht? Welche Konsequenzen muss ich ziehen und was kann ich besser machen? Das gilt auch für die Verantwortlichen, die im Gutachten nicht direkt namentlich genannt werden." Der Offizial Lorenz Wolf etwa, der im Gutachten für sein Verhalten in zwölf Fällen kritisiert wird und die gutachterliche Untersuchung ablehnte, werde alle seine Ämter und Aufgaben ruhen lassen, bis er sich zu den Vorwürfen geäußert hat. Marx stellte klar: "Wer jetzt noch systemische Ursachen leugnet und einer notwendigen Reform der Kirche in Haltungen und Strukturen entgegentritt, hat die Herausforderung nicht verstanden." Es gebe keine Zukunft des Christentums ohne eine erneuerte Kirche. Er kündigte an, in spätestens einem Jahr berichten zu wollen, welche konkreten Veränderungen in Gang gesetzt wurden.

Im Anschluss an Marx' Statement äußerte sich auch der amtierende Generalvikar Christoph Klingan. Es gehe darum, "mehr vom Reden ins Tun" zu kommen; er bat alle Betroffenen, die sich bisher noch nicht gemeldet haben, dies zu tun und verwies auf neue Ansprechangebote. Er hob bereits bestehende Präventionsmaßnahmen wie ein verpflichtendes E-Learning-Programm, Schulungen in Kindergärten oder die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema hervor. Die Amtschefin des Erzbischöflichen Ordinariats Stephanie Herrmann – eine Position, die es erst seit vorletztem Jahr gibt – kündigte an: "Sobald Vorwürfe sexuellen Missbrauchs im Raum stehen, werden Mitarbeitende, die in Pfarreien, Kita oder Schule eingesetzt sind und Kontakt mit Kindern und Jugendlichen haben oder haben können, bis zur Klärung der Vorwürfe suspendiert oder freigestellt und wir arbeiten eng mit den staatlichen Behörden zusammen."

Betroffenenvertreterin: "Marx ist ein guter Rhetoriker"

Agnes Wich von der Betroffeneninitiative Süddeutschland konnte Marx mit seinem Statement nicht überzeugen. Sie kritisiert: Missbrauchsopfer seien nicht nur übersehen, sondern gezielt abgeschoben worden, ihnen sei nicht geglaubt worden. Das Thema Entschädigung habe der Kardinal erneut elegant umschifft. "All die Täter und Vertuscher sind bis auf sehr wenige Ausnahmen bis an ihr Lebensende finanziell bestens versorgt – durch ihre Pensionen inklusive kirchlicher Zusatzversicherungen. Während die Betroffenen weit weniger zur Verfügung haben – in meinem Fall sind das aufgrund einer Erwerbsunfähigkeitsrente monatlich 921 Euro", so die Opfervertreterin. "Ich habe mich heute das erste Mal geoutet mit dieser Summe, weil ich meine, Marx versteht vielleicht, was Zahlen bedeuten, wenn er schon nicht versteht, was Missbrauch bei Kindern für lebenslange Folgen anrichten kann." Die Hauptforderung der Betroffenen sei: "Endlich auf die angemessenen Entschädigungszahlungen ohne Umschweife einzugehen, ohne diese permanenten Lippenbekenntnisse."

"Marx ist ein guter Rhetoriker. Wer dieser Rede glauben will, möge ihm glauben, ich tue das erst, wenn ich wirklich eine ganz konsequente Umsetzung seiner Rede erlebe – und das kann dauern." Wich und das Aktionsbündnis Betroffeneninitiativen fordern, dass der ehemalige Offizial Wolf von allen Ämtern zurücktritt und diese nicht nur ruhen lässt; darüber hinaus müsse Kirche dem weltlichen Recht angepasst werden. Kirche könne auch nicht unabhängig aufarbeiten – "Aufarbeitung gehört in staatliche Hände", stellt Wich klar. "Die Politik muss sich endlich deutlich, unwiderruflich und ganz vehement für Aufarbeitung einsetzen und den Kirchen die Aufarbeitung aus der Hand nehmen."

Angebot des Aktentransports wurde nicht angenommen

Während drinnen die Pressekonferenz stattfand, stand vor der Katholischen Akademie bereits seit dem frühen Morgen der "Hängemattenbischof", der bereits vergangene Woche die Gutachtensvorstellung begleitet hatte. Aktivisten der Giordano-Bruno-Stiftung hatten aus bemalten Aktenkartons den Hashtag "#UrteilestattGutachten" aufgebaut. Darauf gestapelt: Aktenordner mit symbolischen Titeln wie "Brüder im Nebel" (so lautete die Geheimakte des Kölner Kardinals Meisner, in der er auch Missbrauchsfälle sammelte), "Pflichtverletzungen" oder die Namen diverser Diözesen und ihrer Verantwortungsträger.

Versammlungsleiter David Farago hatte im Vorfeld sowohl dem Münchner Erzbischof als auch der Staatsanwaltschaft München I angeboten, am Nachmittag alle noch nicht vernichteten Akten zu Missbrauchsfällen aus der Nachkriegszeit am Archiv des Erzbistums abzuholen, zum Landgericht München II zu transportieren und dort öffentlich zu überreichen. "Leider wurde das Angebot nicht angenommen, daher konnten wir nur bei unserer ursprünglichen symbolischen Aktion im Rahmen eines Protestzuges vom Königsplatz zum Landgericht bleiben." An diesem beteiligten sich Opfervertreter sowie Angehörige des Bundes für Geistesfreiheit München, der Giordano-Bruno-Stiftung und ihrer Münchner Regionalgruppe.

Auch zur symbolischen Aktenannahme ließ sich kein Gerichtsvertreter überreden: "Die Pressesprecherin der Staatsanwaltschaft möchte nicht rauskommen und – ACHTUNG, jetzt kommt DER Treppenwitz der Aktion – der Pressesprecher des Landgerichts wolle wegen seiner Neutralitätspflicht nichts sagen. Kann sich der Staat gegenüber der Kirche bitte auch so 'neutral' verhalten?!", schrieben die Aktivisten auf Twitter. "Die Staatsanwaltschaft wird sich spätestens seit unserem Angebot, alle noch vorhandenen Missbrauchsakten zu überbringen, nicht mehr aus ihrer Pflicht, die Bistumsarchive zu durchsuchen, herausstehlen können. Andernfalls wird sie sich mit Strafanträgen gegen ihr vorsätzliches fortgeführtes Nichtstun in diesem Skandal konfrontiert sehen und Teil dessen werden", resümiert Farago gegenüber dem hpd.

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