Protestbündnis demonstriert gegen die unzureichende Unterstützung für Missbrauchsbetroffene durch Kirche, Politik, Justiz und Gesellschaft

"Wir sind schuldig!"

Die Giordano-Bruno-Stiftung, der Bund für Geistesfreiheit München und das Aktionsbündnis Betroffeneninitiativen demonstrieren mit der Großplastik "Der Hängemattenbischof" und der adaptierten Bild-Schlagzeile "Wir sind schuldig!" am 27. Januar in München. Außerdem werden symbolisch 26 Aktenkartons an die Staatsanwaltschaft übergeben, um auf deren fehlenden Ermittlungseifer hinzuweisen.

Die Protestaktion findet anlässlich der für morgen um 11:00 Uhr angekündigten Stellungnahme des Erzbistums München zur zweiten Missbrauchsstudie statt. Wie schon eine Woche zuvor, bei der Vorstellung der Studie, wird die Antwort der Kirchenführung mit Spannung erwartet.

Der Leiter der Protestaktion, David Farago von der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), erklärt dazu:

"Viel wichtiger als die Reaktion der Kirche ist aber, wie wir alle – die Gesellschaft, die Politik und die Justiz – auf diesen Skandal reagieren. Fast jeder wird sich wohl daran erinnern, wie die Bild-Zeitung zur Papstwahl 2005 im Überschwang des Freudentaumels titelte 'Wir sind Papst!' – Aber nur die wenigsten werden sich daran erinnern wollen, wie wir alle kollektiv versagt haben. Wie wir den Betroffenen nicht geglaubt haben, wie wir sie im Stich gelassen haben, wie wir ihre Strafanzeigen nicht verfolgt haben, wie wir sie bis heute nicht angemessen entschädigt und uns um sie gekümmert haben. Wie wir die Vertuschung erduldet haben. Wie wir bekannte Täter nicht von Kindern ferngehalten haben. Wie Kirchengemeinden ihren Priester oder Pfarrer verteidigt haben, selbst wenn diese bereits verurteilt wurden. Wie wir die Pflege von Heimkindern nur allzu gerne den Kirchen überlassen haben, ohne sie zu kontrollieren. Wie wir 'gute katholische Richter' den Priestern Strafrabatte haben gewähren lassen. Wie wir seit inzwischen 12 Jahren diese Simulation einer Aufarbeitung durch die Kirchen hinnehmen und sie den Täterorganisationen nicht aus der Hand nehmen. Wie wir es erdulden, dass sich die evangelische Kirche im Schatten der katholischen Skandale versteckt. Wenn die Schlagzeile der Bild jemals gestimmt hat, dann gilt umgekehrt auch: 'Wir sind schuldig!'"

Michael Wladarsch, Vorsitzender des Bundes für Geistesfreiheit (bfg) München, führt weiter aus:

"Wir als Gesellschaft, die mit unseren Steuergeldern sowohl den Religionsunterricht als auch die theologischen Fakultäten finanzieren, haben einen ultrakonservativen Dogmatiker und Missbrauchsvertuscher hervorgebracht, der es an die Spitze der römisch-katholischen Weltkirche geschafft hat. Insofern stimmt es, wir waren Papst. Und wenn die Gesellschaft jetzt der Politik und Justiz genügend Druck macht, dann können wir wenigstens einen Teil unserer Schuld abarbeiten und zumindest den noch lebenden Betroffenen etwas Gerechtigkeit verschaffen."

Matthias Katsch, Geschäftsführer des Eckigen Tisches erklärt für das Aktionsbündnis Betroffeneninitiativen:

"Wir richten daher noch einmal unseren dringenden Appell an Politik und Gesellschaft: Überlassen Sie die Aufarbeitung nicht den Kirchen! Helfen Sie uns Betroffenen, indem wir: Erstens eine staatliche Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission gründen. Zweitens die Betroffeneninitiativen finanziell unterstützen, damit wir einen Dachverband gründen und unsere Arbeit ausbauen können. Und drittens ein Opfergenesungswerk gründen, das den Betroffenen endlich eine angemessene Entschädigung zukommen lässt. Weder die Bundesregierung noch die Parteien, die Parlamentarier und die Gesellschaft dürfen sich wegducken. Wir müssen jetzt handeln, bevor es für viele Betroffene zu spät ist."

Studie der Universität Paderborn stützt die These "Wir sind schuldig!"

Die Betroffenen weisen seit Jahren auf die Kollektivschuld der Gesellschaft hin. Dies bestätigt auch die vor wenigen Wochen veröffentlichte erste Zwischenbilanz der Studie der Universität Paderborn zu "Machtbeziehungen und Strukturen, die sexuellen Missbrauch gefördert und Aufklärung verhindert haben". In ihrer Pressemitteilung kommen die Studienleiterinnen Prof. Dr. Nicole Priesching und Dr. des. Christine Hartig zu folgendem Ergebnis:

"Sowohl Kirche als auch Gesellschaft haben systematisch weggesehen und Straftaten gebilligt oder hingenommen. […] In vielen Familien wurde den Kindern nicht geglaubt. Wenn sie versucht haben, sich zu schützen und etwa nicht mehr zum Ministrantenunterricht gegangen sind, haben manche Eltern Druck ausgeübt, dass sie dorthin gehen. Wenn es doch einmal zu einer Strafanzeige gekommen ist, sind Familien oft an Ermittlungsbehörden geraten, die ihnen nicht geglaubt und den Kindern gedroht haben. […] Es gab keinerlei Sensibilität für den Schaden, den die Kinder genommen haben. Nicht nur im Erzbistum, auch vor Gericht nicht."

Wie die beiden Historikerinnen herausfanden, haben sich Gemeindemitglieder häufig für einen Kleriker eingesetzt, gegen den Vorwürfe bekannt geworden sind, in mindestens einem Fall sogar nach dessen Verurteilung. Außerdem wurde durch Angehörige des Erzbistums Druck auf Betroffene und ihre Familien ausgeübt, keine Anzeige zu erstatten.

Symbolische Aktenübergabe an die Münchener Staatsanwaltschaft

Nicht nur unter den Betroffenen, auch in der Bevölkerung steigt immer mehr das Unverständnis, weshalb die Justiz die Kirchen immer noch mit Samthandschuhen anfasst. Den Vorwurf der Untätigkeit weisen diese in der Regel damit zurück, dass die meisten Taten schon verjährt seien. Doch dies ist für das Protestbündnis keine hinreichende Erklärung. Agnes Wich von der Betroffeneninitiative Süddeutschland erklärt:

"Wenn selbst der Papst offenkundig gelogen hat, dann müssen die Staatsanwaltschaften in ganz Deutschland endlich ihr blindes Vertrauen gegenüber den Kirchen aufgeben. Woher wollen die Damen und Herren Staatsanwälte wissen, dass die Kirchen den von ihr beauftragten Gutachtern tatsächlich alle Akten übergeben haben und dass die schlimmsten Akten nicht noch in den Archiven versteckt werden? Warum glauben sie immer noch, die Kirche werde die noch nicht verjährten Fälle schon freiwillig herausgeben? Warum soll überhaupt die Kirche die teils komplizierten Berechnungen zur Verjährung anstellen dürfen? Es hilft nur eins: Die Staatsanwaltschaften müssen wie bei jeder anderen Form der organisierten Kriminalität sich ein eigenes Bild von der Lage verschaffen und die Archive selbst durchsuchen. Die Justizminister der Länder können und müssen hierzu die Anweisung erteilen."

Da die Staatsanwaltschaften ihrer rechtsstaatlichen Pflicht nicht nachkommen, hat das Protestbündnis Kardinal Marx angeboten, am Donnerstag um 14:30 Uhr alle noch nicht vernichteten Akten zu Missbrauchsfällen der gesamten Nachkriegszeit am Archiv des Erzbistums München und Freising abzuholen und sicher zur Staatsanwaltschaft München I zu transportieren. In seiner E-Mail an Kardinal Marx schreibt Aktionsleiter David Farago:

"Unser Aktionsfahrzeug bietet mehrere Kubikmeter und bis zu einer Tonne Fassungsvermögen, wir hätten ausreichend Transportkisten für Ordner dabei und als angemeldete Versammlung bieten wir polizeilichen Schutz für die gesamte Wegstrecke. Zudem versichern wir Ihnen, dass wir Ihre Akten ungelesen, vollständig und unzensiert bei der Staatsanwaltschaft abgeben werden, und bieten Ihnen zudem an, den Transport durch einen Mitarbeiter Ihres Erzbistums im Aktionsfahrzeug oder im eigenen Fahrzeug dahinter zu begleiten. […] Mit diesem Vorschlag meinen wir es jedoch sehr ernst – und das im Interesse aller Betroffenen, des Rechtsstaates und nicht zuletzt Ihrer Kirche."

Der Staatsanwaltschaft München I hat das Protestbündnis angeboten, diese Akten vor dem Haupteingang des Landgerichts München II um 16:30 Uhr öffentlich zu überreichen. Dies böte der Staatsanwaltschaft auch die Gelegenheit, ihren bislang fehlenden Ermittlungseifer zu erklären. In der Anfrage des Protestbündnisses heißt es: "Wir bedauern sehr, dass Sie in den letzten Jahrzehnten und spätestens im Jahr 2010 nach der Veröffentlichung des bundesweiten Missbrauchsskandals Ihrer Pflicht zur Durchsuchung von Bistumsarchiven nicht nachgekommen sind. Diese Untätigkeit hat somit zur Vernichtung unzähliger Akten beigetragen und leider eine strafrechtliche Verjährung nicht weniger Straftaten ermöglicht."

Sollte das Erzbistum unser Angebot ausschlagen, wird das Protestbündnis symbolisch Akten beim Archiv des Erzbistums München-Freising abholen und dann – beginnend am Königsplatz – selbst zu Fuß zum Landgericht München II tragen. Aufgetürmt wird auf den 26 Archivkartons die Forderung zu lesen sein: "#Urteile statt Gutachten!"

Matthias Katsch erläutert: "Die Zeit der Gutachten ist vorbei. Wir brauchen Urteile, die Missbrauchstäter und Vertuscher strafrechtlich zur Verantwortung ziehen und den Betroffenen angemessene Entschädigungen zusprechen!"

Kirche hat es schon immer vorgezogen, Unrecht totzuschweigen

Es kann wohl nur als trauriger Zufall der Aktion bezeichnet werden, dass die Akten am 27. Januar, dem internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, ausgerechnet in der Pacellistraße abgeholt werden müssen (denn dort liegt das Archiv des Erzbistums München und Freising). Die Straße ist nach Eugenio Pacelli, dem späteren Papst Pius XII. benannt. Dieser hat nicht nur mit Adolf Hitler das bis heute geltende und hochumstrittene Reichskonkordat geschlossen. Pikanterweise muss nach dessen Artikel 16 bis heute vor Amtsantritt jeder neue Bischof den Treueeid beim Ministerpräsidenten leisten. Es kann davon ausgegangen werden, dass auch Joseph Ratzinger daher geschworen hat, "das Wohl und das Interesse des deutschen Staatswesens" vor jedem Schaden zu schützen. Durch den fortdauernden Einsatz pädophiler Seelsorger in seinem Bistum hat er diesen Eid wohl auch gebrochen.

Vor allem aber ist Pacelli beziehungsweise Papst Pius XII. bekannt für sein Schweigen gegenüber den Nationalsozialisten in Bezug auf die Verfolgung und Ermordung der Juden. Es ist einerseits eine Ungeheuerlichkeit, dass diesem Mann zu Ehren immer noch eine Straße in München benannt ist. Andererseits erinnert der Name treffend daran, dass die Kirche es schon immer vorgezogen hat, Unrecht totzuschweigen.

Zur Protestkundgebung aufgerufen hat die Giordano-Bruno-Stiftung, gemeinsam mit dem Bund für Geistesfreiheit München und dem Aktionsbündnis Betroffeneninitiativen. Diesem gehören zahlreiche Betroffenenorganisationen an: 

  • Betroffeneninitiative kirchlicher Missbrauch Süddeutschland e. V.
  • Eckiger Tisch e. V.
  • MoJoRed e. V. – Missbrauchsopfer-Josephinum-Redemptoristen
  • Betroffeneninitiative-Hildesheim 
  • Initiative Ehemaliger Johanneum Homburg
  • Selbsthilfe Missbrauch Münster
  • Selbsthilfe Missbrauch Rhede
  • Initiative für einen Gedenkort am Johanneum 
  • Missbrauchsopfer & Betroffene im Bistum Trier MissBiT e. V.

Ablauf des Aktionstages:

7:00 bis 14:00 Uhr: Demonstration mit dem "Hängemattenbischof" und dem "Wir sind schuldig!"-Banner vor dem Ort der Pressekonferenz in der Katholischen Akademie (Mandlstraße 23 / Gunezrainerstraße, 80802 München)

14:30 bis 15:00 Uhr: symbolische "Aktenübernahme" vor dem Archiv des Erzbistums München und Freising (Karmeliterstraße 1, Eingang Pacellistraße, 80333 München)

15:30 bis 16:00 Uhr: Demonstrationszug vom Königsplatz zum Landgericht München II (Nymphenburgerstraße 16 / Ecke Sandstraße). Dort findet ab ca. 16:00 Uhr die symbolische "Aktenübergabe" an die Staatsanwaltschaft statt.

Missbrauchsbetroffene können sich bei Bedaf an das Hilfe-Portal des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) wenden: www.hilfe-portal-missbrauch.de bzw. Tel. 0800 / 22 555 30

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