Die EKD und der Missbrauchs-Sumpf

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Präses a.D. Annette Kurschus, ehemalige Ratsvorsitzende der EKD (Bild von 2021)
Annette Kurschus

Schon auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) vergangene Woche brodelte die Gerüchteküche. Nun trifft es die EKD wie ein Paukenschlag: Die Ratsvorsitzende Annette Kurschus ist gestern von allen Ämtern zurückgetreten. Der 60-jährigen Ex-EKD-Chefin wird die Vertuschung von sexualisierter Gewalt vorgeworfen.

In den 1990er Jahren soll Kurschus als Gemeindepfarrerin in Siegen von den jahrelangen sexuellen Übergriffen eines Kirchenmitarbeiters auf junge Männer gewusst haben – ohne die Vorgesetzten zu informieren. Das haben zwei Zeugen gegenüber der Siegener Zeitung in einer eidesstattlichen Versicherung ausgesagt.

Gegen den Beschuldigten wird in mehreren Verdachtsfällen ermittelt. Derzeit ist jedoch unklar, ob überhaupt ein strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt, zudem wären die Fälle möglicherweise schon verjährt. Laut Staatsanwaltschaft gebe es bislang "keinerlei Hinweise, dass es zu körperlicher Gewalt oder einer Drohung gegen Leib und Leben gegen eine Person" gekommen sei. Der Beschuldigte ist inzwischen in Rente.

Ihr sei es niemals darum gegangen, Sachverhalte zu vertuschen oder einen Beschuldigten zu schützen, erklärte Annette Kurschus auf einer Pressekonferenz am Montag. Lediglich "die Homosexualität und die eheliche Untreue des Beschuldigten" habe sie wahrgenommen. Erst durch eine anonyme Anzeige gegen den Mann Anfang 2022 habe sie von den Vorwürfen erfahren.

Der Fall wirft ein bezeichnendes Licht auf die schleppende Aufarbeitung von sexuellen Übergriffen in der evangelischen Kirche. Noch deutlicher zeigen sich diese Defizite, wenn es um sexuelle Gewalt gegenüber Kindern und Jugendlichen geht. Erst 2022 wurde ein laut EKD einzigartiges Beteiligungsforum eingerichtet, in dem Betroffene von sexualisierter Gewalt und Kirchenleute sitzen. Auf der EKD-Synode in Ulm zog der Betroffenensprecher Detlef Zander am vergangenen Dienstag eine positive Bilanz der bisherigen Arbeit. "Durch das Beteiligungsforum sind Betroffene endlich handlungs- und sprachfähig geworden", so Zander. "Wir haben vieles erreichen können, was zuvor undenkbar war." Nun seien die Landeskirchen aufgerufen, das Thema einheitlich und betroffenensensibel aufzuarbeiten.

Umfangreiche deutschlandweite Studie wird im Januar vorgestellt

Doch die bekannten Fälle dürften nur die Spitze des Eisbergs darstellen. Wie groß das Ausmaß von sexueller Gewalt in der evangelischen Kirche ist und welche institutionellen Faktoren diese Gewalt begünstigen wird seit drei Jahren in einer umfangreichen deutschlandweiten Studie untersucht. Hierfür wurde eigens der unabhängige Forschungsverbund "ForuM" gegründet, die Veröffentlichung der Ergebnisse ist für den 25. Januar 2024 angekündigt.

Der Name "ForuM" steht für "Forschung zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen". Anders als bei den bisher veröffentlichten Studien zur Situation in der katholischen Kirche liegt hier die Forschung nicht in der Hand der Kleriker – ein bedeutender Punkt angesichts der schweren Verfehlungen von Verantwortlichen wie dem früheren Freiburger Bischof Robert Zollitsch. In seinem Machtgebiet ist offenbar umfangreiches Aktenmaterial verschwunden.

Nach Angaben des Forschungsverbunds sind Forschende aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen beteiligt, genannt werden Soziale Arbeit, Geschichtswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, forensische Psychiatrie, Sexualwissenschaft und Kriminologie, die Fachleute gehören Universitäten, Hochschulen und anderen Instituten an.

In sechs Teilprojekten wollen sie unter anderem die Erfahrungen und Sichtweisen von Personen einbeziehen, die in evangelischen Einrichtungen sexuellen Missbrauch erfahren haben. In diesem Zusammenhang soll auch erforscht werden, welche Strukturen der Organisation Kirche den Missbrauch begünstigt haben. Ein weiteres Ziel der Studie ist die Ermittlung von Kennzahlen zur Häufigkeit von sexuellem Missbrauch im Bereich der evangelischen Kirche.

Laut "ForuM"-Sprecher Martin Wazlawik, Professor für Soziale Arbeit an der Hochschule Hannover, soll die Studie vor allem das Hellfeld, sprich: die in den Landeskirchen bekannten Fälle, betrachten. Zu diesem Zweck habe man den Landeskirchen und der Diakonie umfangreiche Fragebögen geschickt.

Bisher haben laut EKD nur 858 Personen einen Antrag auf sogenannte Anerkennungsleistungen gestellt, davon wurden 816 Fälle anerkannt. Diese freiwilligen Zahlungen betragen bei der evangelischen Kirche insgesamt etwas über 12 Millionen Euro – durchschnittlich also knapp 15.000 Euro pro Person. Das ist erheblich weniger als bei der katholischen Kirche.

Ein Großteil der bisher bekannten Fälle hat sich in Einrichtungen der Diakonie ereignet. Deshalb wurde im Beteiligungsforum Sexualisierte Gewalt eigens eine AG Diakonie eingerichtet, die etwa Themen der traumasensiblen Pflege und der Erinnerungskultur bearbeitet. Auf die große Bedeutung dieser Felder wies Betroffenensprecher Detlev Zander nachdrücklich hin: Viele, die als Kinder oder Jugendliche durch Mitarbeiter der Diakonie sexuelle Gewalt erfahren haben, sehen sich im höheren Lebensalter angesichts einer bevorstehenden Pflegesituation erneut ihrem Trauma ausgesetzt. Dies müsse in der Pflege berücksichtigt werden.

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