Österreich

Der evangelischen Kirche laufen die Mitglieder weg

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Die evangelischen Kirchen in Österreich haben ihre Austritts-Statistiken für das Jahr 2023 publiziert. Die Anzahl der Austritte ist nur ganz knapp kein neuer Rekord, die Austrittsrate hat aber einen neuen Höchstwert erreicht. In nur einem Jahr sank die Anzahl der Mitglieder um mehr als drei Prozent. Wie üblich ist die Information darüber zwar zugänglich, aber nicht einmal die Kirchen selbst berichten darüber. Mittelbar sind die neuen Statistiken auch hilfreich, um die noch nicht veröffentlichten Zahlen der viel größeren römisch-katholischen Kirche zu prognostizieren.

Die evangelischen Kirchen (AB = Augsburger Bekenntnis, HB = Helvetisches Bekenntnis und Methodisten) spielen in Österreich zahlenmäßig eine untergeordnete Rolle. Die jahrhundertelange aggressive Gegenreformation der Habsburger hat zu einer lang anhaltenden Dominanz der römisch-katholischen Kirche geführt, was Österreich im deutschen Sprachraum relativ einzigartig macht. Tatsächlich sind die evangelischen Kirchen zusammen nur die viertgrößte Bekenntnisgruppe nach der römisch-katholischen, der islamischen, und den orthodoxen Kirchen. Sie vertreten zusammen einen Bevölkerungsanteil von 2,8 Prozent, unter ihnen dominiert mit etwa 95 Prozent der Mitglieder das Augsburger Bekenntnis.

Um den 20. Februar herum erschienen neue Statistiken für das Jahr 2023 auf der Homepage der evangelischen Kirchen. Sie sind ganz einfach zu finden: Unter dem Menüpunkt "Kirche/Wir über uns" ist ein Absatz, der den Bevölkerungsanteil von "3 Prozent" nennt. Darunter kann mit einem weiteren Klick der Bereich "Aktuelle Zahlen & Fakten" geöffnet werden. Und dieser Bereich wurde irgendwann in der zweiten Februar-Hälfte aktualisiert, eine Datumsangabe dazu gibt es auf der Seite nicht. Immerhin ist der Datenstand mit 31. Dezember 2023 festgehalten.

In den nächsten Monaten wird das "Amtsblatt" mit dem "Seelenstandsbericht" erscheinen, mit noch mehr Details.

An der Grenze zur Geheimhaltung

Wenn die römisch-katholische Kirche ihre Austrittszahlen bekanntgibt, ist das ein ausführlich diskutiertes und mit fertigen Erklärungen vorbereitetes Medienereignis. Nicht so bei den evangelischen Kirchen. Sie bringen die Tatsache, dass sie neue Zahlen publiziert haben, nicht einmal in ihren eigenen Nachrichten unter. Die eigene Nachrichten-Seite verweist auf Solidarität mit der Ukraine, Gebete für die Ukraine, einen verstorbenen katholischen Bischof und auf die "Toleranzgespräche 2024: Wahrheit – Was ist wirklich?" – eine Diskussionsveranstaltung im kommenden Mai.

Also, was ist wirklich die Wahrheit bei den Zahlen der evangelischen Kirchen in Österreich? Die 6.077 Austritte im Jahr 2023 sind ganz knapp unter dem bisherigen Rekordwert von 6.081 des Jahres 2019. 2019 war für die evangelischen Kirchen ein ganz spezielles Jahr: Im Frühling entschied der Europäische Gerichtshof im "Karfreitagsurteil", dass ein bezahlter Feiertag, der nur für die Mitglieder einzelner anerkannter Religionsgesellschaften gilt, eine unzulässige Diskriminierung ist. Somit fiel dieses Privileg. Eine bis dahin und auch seither nicht erreichte Zahl von Menschen trat im Laufe des Jahres aus den evangelischen Kirchen aus.

Grafik: Balázs Bárány
Grafik: © Balázs Bárány

Es ist auch recht aussagekräftig, die absolute Zahl der Austritte mit den vormaligen Mitgliedern in Relation zu setzen. Die Basis, also die Angehörigen der Religionsgesellschaft im Jahr davor, schwindet ja stark. Die Rekordzahl von 6.081 im Jahr 2019 entsprach noch 2,1 Prozent der vormaligen Mitglieder; 2023 ist dieser Anteil schon 2,3 Prozent. Die Austrittsbewegung verstärkt sich also selbst gegenüber dem speziellen Jahr 2019, als das Feiertagsprivileg fiel.

Grafik: Balázs Bárány
Grafik: © Balázs Bárány

Das ergibt per Ende 2023 genau 257.238 evangelische Menschen in Österreich. Dies entspricht einem Bevölkerungsanteil von 2,8 Prozent. Die Angabe mit 3 Prozent auf der Webseite ist schon lang nicht mehr aktuell, aber mit etwas wohlwollendem Aufrunden noch vertretbar.

Weitere Gründe für sinkende Zahlen

Neben den Austritten spielt ein weiterer Faktor eine große Rolle bei der fallenden Anzahl der Mitglieder der Religionsgesellschaft: Das Verhältnis zwischen Taufen (Neumitglieder) und Beerdigungen (ehemalige Mitglieder). Im Jahr kamen auf jede Taufe 1,74 verstorbene Mitglieder, das ergibt eine Differenz von 1.426 weiteren Abgängen, die neben den Austritten die Gesamtanzahl verringern. Zum ersten Mal war die Anzahl der Taufen in einem normalen Jahr (also mit Ausnahme des Corona-Lockdown-Jahres 2020) mit 1.938 unter zweitausend.

Die gesamte Abgangsrate für 2023 ergibt sich aus dem Unterschied zwischen dem Mitgliederstand der Jahre 2022 und 2023, dividiert durch den Stand von 2022. Diese Abgangsrate stieg im Jahr 2019 (Karfreitagsurteil) plötzlich von unter 2 Prozent auf 2,49 Prozent und blieb seither auch immer über 2,3 Prozent. Der Wert für 2023 ist 3,03 Prozent, also zum ersten Mal über drei Prozent. Der Rückgang der Mitglieder ist nicht einmal nur konstant – er beschleunigt sich.

Über die Gründe des sich beschleunigenden Schwundes der evangelischen Kirchenmitglieder in Österreich können wir von außen nur spekulieren. Die Kirche selbst nimmt ja schon zu den Zahlen nicht Stellung, geschweige denn zu den Gründen des Rückgangs. Die deutsche evangelische Missbrauchsstudie ist erst im Jahr 2024 erschienen, davor gab es nur einige weniger beachtete Ankündigungen und Ereignisse in diesem Bereich. Sonst gab es keine großen Skandale oder auffällige Ereignisse im evangelischen Bereich in Österreich, die diese starke Mitglieder-Auswärtsbewegung erklären würden. Es scheint sich vielmehr um einen gesellschaftlichen Trend zur Säkularisierung zu handeln – die Kirchen schaffen es nicht, ihre Glaubensinhalte den zwangsgetauften "Mitgliedern" so zu präsentieren, dass diese darin eine Relevanz sehen. Die Folge ist, dass über 2 Prozent der Mitglieder sich jedes Jahr für den Austritt entscheiden, während andere ihre Kinder nicht mehr taufen lassen. Und viele Austritte im Umfeld legitimieren für andere den eigenen Austritt, der vielleicht vor einigen Jahren noch gesellschaftlich schwierig gewesen wäre.

Was heißt das für die römisch-katholische Kirche?

Bis 2023 erschienen bereits im Januar die Austrittszahlen der römisch-katholischen Kirche Österreichs fürs Vorjahr, und damit auch die Zahl der Mitglieder dieser Kirche. Diese Veröffentlichung führt dann auch immer zu viel Aufmerksamkeit, einer tagelangen öffentlichen Diskussion auch in den Massenmedien.

Es hat sich bereits 2023 abgezeichnet, dass nach den damaligen Rekord-Austrittszahlen (über 90.000 im Jahr 2022, ein Prozent der Gesamtbevölkerung Österreichs in einem einzelnen Jahr) heuer die katholische Bevölkerungsmehrheit fällt. Hätten wir jetzt schon die Austritts- und Rückgangs-Zahlen für 2023 wie in den Vorjahren, könnten wir schon recht gut abschätzen, in welchem Monat des laufenden Jahres es soweit ist, dass die ehemalige Staatskirche nicht mehr die Mehrheit repräsentiert. Aber das passiert genau nicht.

Im Herbst 2023 wurde nämlich eine Änderung der Vorgehensweise angekündigt. Ab diesem Zeitpunkt werden alle Statistiken erst im Herbst bekanntgegeben. Somit müssen wir auf bestätigte Zahlen jetzt deutlich länger warten als bisher. Dies verzögert zwar nicht den unaufhaltsamen Verlust der Mehrheit, aber zumindest die Medienberichte darüber. Die Medien bekommen im Herbst 2024 noch den Anteil vom Jahresende 2023, der um 50,7 Prozent herum liegen dürfte. Dass zu jenem Zeitpunkt die Bevölkerungsmehrheit eigentlich schon weg sein wird, gibt die Kirche möglichst spät, also erst im Herbst 2025 bekannt. Wenn wir die Austritte und die Abgänge des Jahres 2023 möglichst genau vorhersagen können, wissen wir heuer schon mehr und können den Informationsvorsprung nutzen.

Evangelische Statistiken zu Hilfe

Wie können wir also jetzt eine Prognose für die Austritts- oder Rückgangszahlen für die römisch-katholische Kirche für 2023 erstellen? Aus anderen Quellen, oder mit einer Vorhersage aus den bisherigen Zahlen, oder indem wir versuchen, die evangelischen Zahlen heranzuziehen, unter der Annahme, dass die Säkularisierung der Gesellschaft diese Entwicklungen in einer ähnlichen Weise beeinflusst.

Das ist keine gewagte Annahme. Die Korrelation zwischen den beiden Zahlenreihen (evangelische und katholische Austritte) ist mit 0,737 recht hoch. Bauen wir ein lineares Regressionsmodell aus den bisherigen Austritten und setzen darin die evangelischen Austritte für 2023 ein, ergibt das für die katholischen Austritte im Jahr 2023 eine Spanne (95-Prozent-Konfidenzintervall) von 66.000 bis 84.000, mit 76.915 Austritten als dem wahrscheinlichsten Wert. Dies entspräche der zweit- oder drittgrößten Zahl von Austritten aus der römisch-katholischen Kirche in der jüngeren Geschichte.

Grafik: Balázs Bárány
Grafik: © Balázs Bárány

Mit deutlich weniger Mathematik könnte man aber auch einfach schauen, wie oft es vorkam, dass die Austrittszahlen der evangelischen Kirchen gegenüber dem Vorjahr stiegen, und in wie vielen solchen Jahren auch die katholischen zunahmen. Und das ist in 70 Prozent der bekannten Jahre mit dieser Konstellation der Fall. Diese Methode ergibt keine genaue Zahl als Prognose – aber wir wären eben auch nicht überrascht, wenn die 90.000 Austritte des Jahres 2022 auf dieser Basis im Jahr 2023 noch übertroffen würden.

Andere Datenquellen?

Die Abwicklung des Austrittes aus Religionsgesellschaften ist in Österreich eine Aufgabe staatlicher Behörden, ein relativ normales Verwaltungsverfahren. Da es jedoch noch kein Transparenzgesetz gibt, sind die Gemeinden nicht verpflichtet, Statistiken darüber herauszugeben und tun es auch kaum. Direkte Nachfragen etwa bei den Städten Graz und Linz ergaben, dass deren Statistik-Abteilung die Daten nicht hat und auch nicht liefern kann. Einzig die Stadt Wien publiziert irgendwann im Laufe des Jahres die Austritte des Vorjahres. Leider gibt es auch da keinen zugesagten Termin. Im Statistischen Jahrbuch 2023, das bereits verfügbar ist, sind noch die Austritte aus 2022 angeführt.

Etwas mehr als ein Viertel der gesamten Austritte in Österreich finden in Wien statt. Die Zahlen aus Wien wären also eine noch bessere Grundlage für die Prognose der katholischen Austritte, insbesondere zusammen mit den evangelischen Zahlen. Wir haben sie noch nicht, aber sie könnten deutlich vor der Veröffentlichung der Zahlen durch die römisch-katholische Kirche erscheinen.

Mathematisch-statistische Methoden

Statistische Prognosen von Zahlenreihen funktionieren dann gut, wenn die zugrundeliegenden Mechanismen sich über die Zeit nicht zu stark ändern. Wenn die Vorhersagen dieser Methoden regelmäßig übertroffen werden, deutet das auf eine Änderung der Mechanismen hin. Und genau dies habe ich in einer ausführlichen statistischen Analyse der Austritte beobachtet. Die Zahlen der letzten Jahre liegen regelmäßig über der Prognose.

Die einfachste Vorhersagemethode ist, den Wert des Vorjahres fortzuführen. Dies erscheint naiv, funktioniert aber häufig erstaunlich gut. Etwas zuverlässiger ist der Ansatz, einen Mittelwert der letzten Jahre zu bilden. Hierbei kann man das letzte Jahr etwas höher gewichten.

Für die einmal im Quartal stattfindende Aktualisierung der Konfessionsfreien in Österreich ziehe ich einen gewichteten Mittelwert der Austritte beziehungsweise Abgänge heran: (3 * Vorjahr + 2 * Vorvorjahr + 1 * Vorvorvorjahr) / 6. Länger zurückzuschauen ist bei einer so dynamischen Entwicklung nicht sinnvoll; gleichzeitig ist die Methode noch etwas konservativ, sie hat die Austritte der letzten Jahre regelmäßig unterschätzt. Diese Methode ergibt für das Jahr 2023 etwa 79.000 römisch-katholische Austritte, also vergleichbar mit der Prognose aus den evangelischen Zahlen.

Grafik: Balázs Bárány
Grafik: © Balázs Bárány

Zusammen mit dem beschriebenen Taufdefizit ergibt die konservative Schätzung für das Ende des Jahres 2023 4,65 Millionen katholische Mitglieder bei einer Bevölkerung von 9,16 Millionen. Das entspricht 50,7 Prozent der Bevölkerung zum Jahreswechsel, 1,3 Prozentpunkte weniger als Ende 2022. Es wäre eine besonders überraschende Trendwende, wenn der katholische Bevölkerungsanteil Ende 2024 die 50 Prozent nicht unterschreitet. Die Austritte müssten sich halbieren und die Taufen deutlich zunehmen, dann ginge es sich noch irgendwie aus. Doch dafür gibt es keine Anzeichen. Somit gilt weiterhin die Prognose, dass in Österreich irgendwann im Herbst 2024 die katholische Bevölkerung nicht mehr die Mehrheit darstellt. Inwieweit die Parteien diese Tatsache in ihrem Wahlkampf für die Nationalratswahlen im September schon beachten? Wir werden es sehen.

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