Volkszählung mit Ungereimtheiten

Ungarn: Religiöse deutlich unter 50 Prozent der Bevölkerung

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Menschen in Budapest.

Fast ein Jahr nach der Volkszählung in Ungarn sind deren Ergebnisse erschienen. Wie in vielen anderen europäischen Ländern ist der Anteil der Religiösen unter die Hälfte der Bevölkerung gefallen. Die Vorbereitung der Volkszählung und auch die Veröffentlichung der Ergebnisse waren von Ungereimtheiten begleitet, die in einem Land, dessen Regierungspropaganda immer vom "christlichen Ungarn" spricht, leider an der Tagesordnung sind.

Im Oktober 2022 fand in Ungarn nach elf Jahren erneut eine Volkszählung statt. Sie war, bedingt durch Corona, um ein Jahr verschoben worden; die vorherigen Volkszählungen waren 2001 und 2011 durchgeführt worden.

Die Ergebnisse werden in der ungarischen Gesellschaft sicher zu einigen Diskussionen führen: 40,1 Prozent haben die freiwillige Frage nach ihrer Religionszugehörigkeit nicht beantwortet, weitere 16,1 Prozent gaben an, konfessionsfrei zu sein ("gehört nicht zu einer religiösen Gemeinschaft oder zu einem religiösen Bekenntnis"). Damit bekennen sich nur noch 43,4 Prozent der Ungar*innen zu einer der christlichen Kirchen und insgesamt unter 44 Prozent zu irgendeiner Religion. Ungarn ist damit in der Gruppe der Länder angekommen, in denen die Nicht-Religiösen in der Mehrheit sind.

Beispielbild
Grafik: © Balázs Bárány

Wie der hpd berichtete, mussten die ungarischen Atheist*innen kurz vor der Volkszählung Alarm schlagen: Anders als in der Volkszählung 2011 war "Ateista" (Atheist*in) plötzlich keine Überkategorie (auf derselben Ebene wie Religion und ohne Bekenntnis) mehr, sondern in die Liste der Bekenntnisse "gerutscht". Einerseits lief man so Gefahr, den wahren Anteil der bekennenden Atheist*innen (die natürlich nicht religiös sind) falsch auszuweisen, andererseits hätte jede Meldung als Atheist*in bei oberflächlicher Betrachtung die Anzahl der "Religiösen" (zumindest in Kontrast zu "ohne Bekenntnis") gesteigert. Das Statistische Zentralamt berief sich auf internationale Standards und Vergleichbarkeit über die Zeit – die aber gerade 2011 so nicht gegeben war. In den Gesprächen zwischen der Ungarischen Atheistischen Gesellschaft (MATT) und dem Statistik-Amt wurde immerhin zugesichert, die Antwort "Ateista" zu den Konfessionsfreien zu zählen. In den Ergebnissen ist diese Kategorie, vermutlich aus genau diesem Grund, verschwunden: Wie so oft auch in internationalen Erhebungen konnte man sich somit nicht explizit als Atheist*in deklarieren.

Ein weiteres Versprechen, zumindest in den erläuternden Texten den Sachverhalt zu erklären, wurde nicht erfüllt.

Im August 2023, also zehn Monate nach der Erhebung, bestätigte ein Gericht, dass die Rechte der ungarischen Atheist*innen dadurch, dass sie sich nur als Religiöse deklarieren konnten, schwerwiegend verletzt wurden. Das ist also auch in Ungarn keine "Befindlichkeit" einer "kleinen, lauten Minderheit", sondern eine Grundrechtsverletzung. Der Prozess wurde gegen den Ombudsmann für Grundrechte eingebracht, der die Beschwerde ohne Prüfung abwies. Jetzt muss neu geprüft werden – ob das an der nächsten Volkszählung etwas ändert, wird sich noch zeigen.

Ob diese unwürdige und die Ergebnisse verzerrende Vorgehensweise politisch diktiert wurde, konnte bisher weder belegt noch widerlegt werden. In einem Land, dessen autokratische, alles kontrollieren wollende Regierung sich regelmäßig auf "christliche Werte" und eine "christliche Tradition Ungarns" beruft und die Säkularisierung im Westen als schädlichen "liberalen" Verlust europäischer Werte ansieht, ist das jedenfalls keine aus der Luft gegriffene Hypothese.

Kirchen, die der Regierungslinie folgen, werden finanziell großzügig gefördert, Schulen in religiöser Trägerschaft bekommen pro Schüler*in höhere Zahlungen als säkulare, in Budapest findet ein "eucharistischer Kongress" statt, der Papst kommt vorbei und christliche Lehren werden herangezogen, um die Rechte von LGBTQ+-Personen einzuschränken. Selbst die auch in Ungarn vorhandene katholische Kindervergewaltigung wurde lange Zeit in den regierungskonformen Medien totgeschwiegen. Vor der Volkszählung gab es eine gut dotierte und öffentlich sichtbare Kampagne insbesondere der katholischen Kirche, dass man sich zu ihr bekennen möge. Es hätte also für religiöse und "restreligiöse" oder "gesellschaftsreligiöse" Menschen genug Gründe gegeben, sich einem Bekenntnis zuzuordnen. Der hohe Anteil der Nichtantworten – die größte Gruppe überhaupt – zeigt jedoch, wie wenig sich die Menschen in Ungarn überhaupt noch ums Thema Religion kümmern. Innerhalb derjenigen, die die Frage beantwortet haben, sind Katholiken die größte Gruppe (30,1 Prozent der Bevölkerung, 50,2 Prozent der Antwortenden, 68,7 Prozent der bekennenden Religiösen), an zweiter Stelle kommen hier auch schon die Konfessionsfreien (16,1 Prozent der Bevölkerung, 26,9 Prozent der Antwortenden). "Református" mit 9,8 Prozent und "Evangélikus" mit 1,8 Prozent der Bevölkerung sind dann noch die anderen "größeren" Gruppen.

Das Christentum ist eine sehr starke "Bekenntnisreligion" und die Umstände für so ein Bekenntnis waren (und sind) in Ungarn sicherlich vorhanden. An diesen Ergebnissen werden die einzelnen Religionsgemeinschaften und auch die Regierungspropaganda sicherlich einiges zu Interpretieren und Wegzuerklären haben. Die Ungarische Bischofskonferenz freut sich in einer knappen Erklärung immerhin darüber, dass von denjenigen, die sich als religiös bekannten, mehr als zwei Drittel katholisch sind. Dass die Zahl der Katholiken in Ungarn nur mehr 52 Prozent der Anzahl von vor 20 Jahren beträgt, dass der Rückgang der Bekennenden gerade bei den katholischen Kirchen (römisch- und griechisch-katholisch) am stärksten ausfiel, dass seit der Volkszählung wohl weitere circa 90.000 Menschen sich nicht (mehr) als katholisch ansehen, war in der Erklärung kein Thema.

Die Religionsgemeinschaften werden sich auch darüber nicht freuen, dass in der jüngsten Altersgruppe (also bei Kindern, die es sich noch nicht aussuchen können) sowie bei 20 bis 29-jährigen Menschen (die als junge Erwachsene frei wählen können) der Anteil der Konfessionsfreien bei zwei Dritteln liegt. Eine religiöse Mehrheit gibt es nur mehr in den Altersgruppen ab 60 Jahren.

Beispielbild
Grafik: © Balázs Bárány

Die Kirchen hätten sich in Ruhe etwas Sinnvolles für die Kommunikation überlegen können. Medienberichten zufolge bekamen nämlich die größeren Religionsgemeinschaften bereits eine Woche vor der Veröffentlichung der Daten eine Vorinformation vom Statistischen Zentralamt. Dass dieses Amt bereit ist, seine Glaubwürdigkeit mit der bevorzugten Behandlung gesellschaftlicher Gruppen aufs Spiel zu setzen, zeigt leider auch den politischen Druck, dem die Behörden in Ungarn ausgesetzt sind, und die Verflechtung staatlicher Stellen mit den Kirchen.

Doch auch die weitgehende Kontrolle der Gesellschaft und der Medien und die zugunsten der christlichen Kirchen verzerrten Bedingungen können nichts daran ändern, dass Säkularisierung und die Abwendung von Religion in entwickelten Ländern mit guter Bildung wichtige, sich beschleunigende Trends sind und die Zukunft Ungarns und Europas konfessionsfrei ist.

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