Hijab gegen sexuelle Übergriffe und Islam statt Wissenschaft?

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Viele Muslime sind über die Kritik an ihrer Religion nicht erfreut - doch ist diese Kritik legitim, sofern sie nicht muslimenfeindlich motiviert ist.

Der türkische Kinderarzt Hüseyin Çaksen publizierte mehrere Studien, in denen er zum Kopftuchtragen als Schutz vor Belästigungen rät und Multiple Sklerose als Strafe Allahs betitelt. Keine Einzelmeinung mit wissenschaftlichem Anstrich, sondern ein weit verbreiteter Volksglaube, der Anlass zur Aufklärung über die Schuldumkehr in der Verschleierung und über das orthodox-islamische Verhältnis zur Naturwissenschaft gibt.

Mit einem X-Posting am 4. Januar 2023 wies der türkische Biologe Urartu Şeker auf die bizarre Arbeit des Mediziners Hüseyin Çaksen hin. Şeker rückte eine obskure These des Arztes in den Fokus und kommentierte sie als "gelinde gesagt unhöflich": "Obwohl es nicht wissenschaftlich bewiesen werden kann, glauben wir fest daran, dass die Hauptursache der Krankheit bei einigen MS-Patienten übernatürliche Gründe wie ein Geschenk, Test oder eine Bestrafung von Allah sind", resümierte Çaksen in einem Journal-Beitrag. Weiter, schreibt Seker, sei es "entsetzlich, dass er (Çaksen) diesen Unsinn in einem Artikel veröffentlichen kann" und der Urheber trotz "Wissenschaftslästerung" die Würde eines Professors trage.

Das entfachte sich in der Türkei eine Debatte über die Schriften eines Mediziners, der seine Publikationen nicht selten mit einem religiösen Framing versieht. Hüseyin Çaksen ist Facharzt für Kinderheilkunde und forscht an der Necmettin-Erbakan-Universität in der Stadt Konya. Im Zuge der Enthüllungen kamen mehrere Artikel mit fragwürdigen Ausrichtungen zum Vorschein, von denen nun sieben aufgrund mangelnder "wissenschaftlicher Basis" zurückgezogen wurden. Neben der hanebüchenen Diffamierung von MS-Patienten fiel Çaksens pseudowissenschaftlicher Befund zum muslimischen Schleier auf. So trägt ein weiterer Beitrag den Titel "Hijab schützt jugendliche Mädchen und Frauen vor sexueller Belästigung".

Der Standard griff als erstes deutschsprachiges Medium den Eklat auf und recherchierte zu Çaksens Forschungsaktivität:

"Er war an rund 300 Studien beteiligt, damit wurde er laut der Datenbank Scopus etwa 3.000-mal zitiert. Dabei behandelt er allerdings nicht nur Kindermedizin, sondern auch Themen, die bestenfalls in Randbereiche fallen. 2023 und 2022 veröffentlichte der Pädiater in einschlägigen Fachmagazinen Arbeiten, die sich den Titeln nach etwa mit religiösen Bewältigungsstrategien auf der Neugeborenen-Intensivstation, aber auch Exorzismus (oder heilsame Rezitationen) bei Krebspatienten und historischen Anmerkungen des Science-Fiction-Autors H. G. Wells über islamische Psychologie befassen. Eine weitere Arbeit erinnert an den biblischen Abraham, der seinen Sohn Isaak (beziehungsweise Ismael) Gott opfern wollte – als 'Beispiel der Hingabe (oder: Unterwerfung) für heutige Kinder und Eltern'."

In Sinne Erbakans

Wie erwähnt bekleidet Hüseyin Çaksen einen Posten an der Necmettin-Erbakan-Universität. Kurz nach dem Einprasseln der Kritik auf die Annahmen des Professors veröffentlichte die Universität eine Stellungnahme. Artikel würden grundsätzlich einer "unabhängigen Fachbegutachtung" unterzogen und man zeige sich gegenüber wissenschaftlicher Kritik aufgeschlossen. Die "Kultur der Kritik" gehöre zum Selbstverständnis der Universität, jedoch solle der Konflikt vorzugsweise in Fachmedien ausgetragen werden. Gleichzeitig lobte man Çaksen für seine bedeutsamen Verdienste im Fachbereich und stellte klar, in Bezug auf MS "die neuesten Erkenntnisse und Methoden" anzuwenden.

Nichtsdestotrotz bittet die Universität darum, "systematische Desinformationsaktivitäten" aus der Bewertung der Wissenschaft, der Universität und des verstorbenen türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan, nach dem die Hochschule benannt ist, herauszuhalten. Es erweckt den Eindruck, als befürchte die Universität eine Rufschädigung und möchte die Ehre ihres Lehrmeisters Erbakan retten.

Streng islamische Haltungen, die Forschungsergebnisse beeinflussen, dürften an der Erbakan-Universität nicht verwundern, sondern müssten gewissermaßen Methode sein. Erbakan war der politische Mentor Recep Tayyip Erdoğans. Sein Lebenswerk basiert auf der Vision einer Einigung des Turkvolks unter dem Dach der Nation und des Islam. Er prägte die Schlüsselbegriffe Millî Görüş ("Nationale Sicht") und Adil Düzen ("Gerechte Ordnung"). Die "gerechte Ordnung" meint ein islamisches Weltsystem, das alle irdischen und religiösen Angelegenheiten des Lebens regelt. Dies stehe einer "falschen Ordnung" gegenüber, die vom "rassistischen Imperialismus" namens "Zionismus" unterwandert sei. Der Islam wäre die einzige Rettung der Menschheit, was Erbakan für wissenschaftlich und historisch erwiesen hielt. Kurz gesagt: Wer in Erbakans Tradition forscht, hat kein Problem mit dem radikalen Islam und wird voreingenommene Ergebnisse präsentieren.

Wenn Ärzte meinen, Kopftuch solle Schule machen

Im Zentrum des Islamismus steht die patriarchale Geschlechterordnung. Für eine effektive Umsetzung muss diese von der Wiege an verinnerlicht werden. Vermutlich deshalb lehnt sich auch ein Kinderarzt aus dem Fenster und präsentiert einen Aufsatz mit den Kernaussagen, dass "der Hijab nicht nur für Individuen wichtig ist, sondern auch für Gesellschaften" und Frauen "am Arbeitsplatz seltener sexueller Belästigung ausgesetzt sind, wenn sie sich bescheiden kleiden und ihr Haar bedecken". Auch diese Publikation schmückt sich als Studie, wobei die Größe der Stichprobe unbekannt ist.

Hüseyin Çaksen kommt gemeinsam mit der Co-Autorin Feyza Çaksen zu dem Befund: "Der Hijab befreit die Frauen davon, als sexuelle Objekte der Begierde betrachtet zu werden oder nach ihrem Aussehen oder ihrer Körperform und nicht nach ihrem Verstand und ihrer Intelligenz beurteilt zu werden". Schließlich enden sie mit einer Empfehlung für die Schulerziehung: "Wir glauben, dass der Hijab wichtig ist, um heranwachsende Mädchen vor sexueller Belästigung zu schützen. Daher schlagen wir vor, dass schulische Programme zum Tragen des Hijab entwickelt werden sollten, um sexuelle Belästigung von heranwachsenden Mädchen zu verhindern, unabhängig von den religiösen Überzeugungen, Kulturen und sozialen Positionen der Schülerinnen."

Die Schlussfolgerungen des Autoren-Duos sind nicht innovativ, sondern Konsens postmoderner Kopftuchapologie, in der sich waschechte Islamisten, Durchschnitts-Hijabis und islamische Feministinnen die symbolische Hand reichen. In einer Umfrage des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu den Gründen des Kopftuchtragens in Deutschland gaben 88,6 Prozent der Musliminnen an erster Stelle die "religiöse Pflicht" an. 37,5 Prozent der Befragten vermittelt der Schleier ein Gefühl von Sicherheit. 10,9 Prozent tragen ihn als Schutz vor Belästigung von Männern. Die Ikone des muslimischen Feminismus, Khola Maryam Hübsch, propagiert "Unter dem Schleier die Freiheit". Frauen müssen also erst Unterdrückung ertragen, um sie später als Emanzipation zu affirmieren.

Zäumen wir das Pferd aber mal von hinten auf: Minderjährige mögen, Çaksens zufolge, dazu motiviert werden, ein Kopftuch unabhängig ihrer religiösen Herkunft anzulegen, um sexuellen Grenzverletzungen vorzubeugen. Was hier im Subtext steht, ist die Förderung von Geschlechterapartheit, Frühsexualisierung, Anti-Pädagogik und Beschädigung der Religionsfreiheit. In jungen Jahren sollen Mädchen lernen, dass ihr Geschlecht zweiter Klasse und ihr Körper "Quell der Sünde" ist. Männliche Klassenkameraden müssen keine Impulskontrolle mehr entwickeln, sondern erfahren nun, was schon zu prophetischen Zeiten der Unterscheidung von "unzüchtigen" und "ehrbaren Frauen" diente: Unbedecktes Haar heißt "Freifahrtschein" und Hijab bedeutet "Vorsicht!". Ein Nährboden für den Ausbau eines dysfunktionalen Verhältnisses zur Sexualität.

Hijab als victim blaming

Dieses Wunschdenken hält der Realität nicht stand. Blicken wir in die Länder, wo Verhüllungsformen von Kopftuch bis Burka obligatorische Pflicht sind, erkennen wir ihre negative Vorreiterstellung im internationalen Ranking sexualisierter Gewalt: Afghanistan, Pakistan und Somalia sind Hochrisikogebiete von gender based violence. Die Türkei entwickelt sich unter Erdoğan zur islamistischen Diktatur. Die Zahl der Ehrenmorde steigt sukzessive und man versucht, das Heiratsalter auf neun Jahre zu senken.

Die Kontrolle der weiblichen Sexualität verklausuliert sich im Diskurs des politischen Islam hinter Vokabeln wie Schutz vor Belästigung oder vor sexueller Objektifizierung. Ein Trugschluss, denn, wo sexuelles Begehren tabuisiert wird, lauern überall Versuchungen der Libido. Offenes Haar, eine heraus blitzende Strähne oder Blickkontakt werden nicht selten als "Einladung" zu Übergriffen gegen die sexuelle Selbstbestimmung der Frau "missverstanden". Mann und Frau "unbegleitet" in einem Raum können bereits des Geschlechtsverkehrs verdächtigt werden. Wenn jede koedukative Interaktion als sexuelle Tuchfühlung fehlgedeutet wird und nur die Verbannung der weiblichen Silhouette Abhilfe verschaffen soll, steigt selbstredend die Gefahr von sexualisierten Übergriffen. Mit dem Kopftuch als mutmaßlich antisexistischem Resilienzfaktor wird Männern die Verantwortung für ihr Handeln abgenommen und Frauen aufgebürdet. Wir erleben die Version der Täter-Opfer-Umkehr im islamischen Patriarchat. Nichts anderes, als wenn Beschuldigte bei Sexualstraftaten behaupten, "der Rock war zu kurz gewesen".

Mit der Vermarktung des Hijabs als nicht bloß individuell, sondern ebenfalls gesellschaftlich relevant, trifft das Forscherpaar Çaksens einen Punkt. Die Ursachen für die Verhüllung als scheinbarer Sicherheitsgarant für Frauen liegen im kollektiven Verhältnis von "Ehre", "Scham" und "Schande" sowie in der islamischen Auffassung der Triebsublimation begründet. Näheres habe ich an dieser Stelle erläutert und findet sich auch hier.

Die Rationalisierung des Irrationalen mag Çaksens Forschungsdomäne sein. So seien mir noch ein paar Anmerkungen zur islamisch orthodoxen Wissenschaftsbias des Pädiaters erlaubt.

"Prophetische Medizin"

In der eingangs zitierten Textstelle identifiziert Çaksen die neurodegenerative Erkrankung MS als "ein Geschenk, eine Prüfung oder eine Strafe Allahs" und setzt den Halbsatz "obwohl es nicht wissenschaftlich bewiesen werden kann" voran. Nicht nur diese Zeile, auch weitere Passagen geben Aufschluss über die Weltanschauung des Arztes, die Einzug in sein Wissenschaftstreiben hält. In einem weiteren Leitartikel desselben akademischen Verlages der vorherigen Studien kolportiert der Mediziner einen "spirituellen Blick auf das große Erdbeben in der Türkei". Im Zentrum des Beitrages stehen Helferinnen und Helfer, die mehrere Tage nach der Umweltkatastrophe noch Verschüttete aus den Trümmern bargen. Diese Leistung setzt der Arzt in Verbindung mit Engeln und Dschinns, unsichtbaren Geistern und Dämonen, die nach islamischer Überlieferung für die Menschen unsichtbar sind. Dieser Aufsatz wurde nicht zurückgezogen! Bei derartigen Kausalinterpretationen des Autors kann man sich nur vorstellen, welche Botschaften sein Werk "Islamische Psychologie: Historische Notizen von Herbert George Wells (1866–1946)" enthalten mag.

Seinen Kolleginnen und Kollegen schlug Çaksen Schulungen zu "übernatürlichen Ursachen mit religiösem Kontext" vor. Ein Stichwort, mit dem wir uns in diesem Zusammenhang beschäftigen müssen, lautet "prophetische Medizin". Sie ist der Oberbegriff der islamischen Heilkunde und Gesundheitslehre, aus der die Beziehung des orthodoxen Islams zur Naturwissenschaft und Psychologie hervorgeht. Ihr Wesensmerkmal lautet: Alles Wissen ist bereits im Koran und in den Überlieferungen Mohammeds enthalten.

Bei physischen Erkrankungen helfe der Griff zu Kräutern, Ölen, Honig und anderen Lebensmitteln. Mentalem Leid soll durch religiöse Beschwörungsformeln, Koranrezitationen oder Geisteraustreibungen Abhilfe verschaffen werden. Dies war die Art und Weise, wie Krankenbehandlungen im 7. Jahrhundert abliefen. Hardliner der "prophetischen Medizin" wenden diese auf die Gegenwart an.

Grundsätzlich beinhaltet, dem Politikwissenschaftler Hamed Abdel Samad zufolge, der Koran eine inhärente Anregung zum kritischen Denken und zum "Streben nach Wissen". Jedoch würden Fundamentalisten die "abrahamitische Phase" überspringen und ausschließlich Forschungsergebnisse akzeptieren, die mit den kanonischen Quellen konform gehen. Die konservative islamische Wissenschaft ist kreisförmig. Ihr Resultat steht von Beginn an fest. Nur die "heiligen Quellen" gelten als absolute Wahrheitsinstanz.1

Uns begegnet hier eine theozentrische Sichtweise, die sich durch die Ablehnung von allem Unislamischen auszeichnet. Irdische Ereignisse seien Gott-gewollt und Ausdruck von Sanktion oder Belohnung. Der Mensch ist göttlicher Allmacht ausgeliefert und zu Gehorsam verpflichtet. Mündige Reflexion gleicht der Apostasie. Findet sich etwas nicht im Selbstbedienungsladen "Koran" wieder, muss der Glaube an Wunder, "übernatürlichen Kräften" oder Schicksal herhalten.2

"Ins Verderben gingen jene, die Haarspalterei trieben."3

Blickt man auf die alltäglichen Risiken für Leib und Leben, erkennen wir die Fahrlässigkeit der Losung "Allah statt Wissenschaft". Nehmen wir, wie Çaksen ebenfalls, das verheerende Erdbeben in der Türkei vor einem Jahr zum Anlass, so kommentiere es Erdoğan als "Ding", das im "Schicksalsplan" steht. Der Kinderarzt steht ideologisch wiederholt in einer Linie mit dem türkischen Islamismus, wenn ein vorhersehbares Beben mit Engeln, Dschinns und Aberglauben, statt rationaler Geologie und menschlicher Naturbeherrschung bewältigt wird.

Ein ähnlicher Schlag ins Gesicht ist es auch für 2,3 Millionen MS-kranke Menschen weltweit, die von Çaksen keine neue Erkenntnis, sondern die Produktion von Schuldgefühlen, erhalten. Auch wenn mir der Inhalt von Çaksens Publikation zur "islamischen Psychologie" nicht bekannt ist, lässt mich eine Vorahnung nicht los. Seelisch erkrankte Patienten aus islamischen Gesellschaften oft unterliegen mannigfaltigen Stereotypen und Gewissensbissen. Der Psychotherapeut Burkhard Hofmann schildet in seinem Werk "Und Gott schuf die Angst" Erfahrungen mit muslimischen Patienten.4 Auf mentalen Einschränkungen lastet in der islamischen Welt ein großes Stigma. Betroffene seien "verrückt", "irre", "vom Weg der Rechtleitung abgekommen" oder "von bösen Geistern besessen". Das Outing in der Öffentlichkeit bedeutet nicht selten einen Gesichtsverlust. Folglich beobachtete Hofmann zwanghaftes Rezitieren von Suren und magisches Denken an Talismane als verzweifeltes Heilsversprechen. Von Çaksen verspricht sich auch in dieser Hinsicht keine Linderung.

Aufklären statt Verschleiern

Sein Fall beweist einmal mehr: Der Islam benötigt einen Voltaire, Kant, Einstein und Freud. In einer nicht-islamistischen Türkei wäre der Kinderarzt für seine abstrusen Thesen abgesetzt worden und Aufklärung eingefordert. Der Prozess dahin ist ausgesprochen kein Wunschdenken, sondern politisch machbar. Schließlich existiert eine feministische, demokratische und säkulare Opposition. Man muss sie nur unterstützen.

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Abdel-Samad, H. (2016). Der Koran: Botschaft der Liebe. Botschaft des Hasses. Droemer. München. S. 213-217 ↩︎

Krauss, H. (2013). Der Islam als grund-und menschenrechtswidrige Weltanschauung. Ein analytischer Leitfaden. Osnabrück. S. 95-98 ↩︎

Gopal, J. (2006). Gabriels Einflüsterungen: eine historisch-kritische Bestandsaufnahme des Islam. Freiburg. S. 307 zitiert nach Krauss, H. (2013): S. 97 ↩︎

Hofmann, B. (2018). Und Gott schuf die Angst: ein Psychogramm der arabischen Seele. Droemer. München. S. 211-260 ↩︎