Rezension

Die Korrektur eines Mythos – Karl der "Große"

OSTERWITZ/AT (hpd) In Kenntnis der Bücher des Historikers Rolf Bergmeier (z.B. "Schatten über Europa", "Christlich- abendländische Kultur – eine Legende", "Kaiser Konstantin und die wilden Jahre des Christentums") sind die Erwartungen hoch gesteckt und werden – das sei vorweggenommen – nicht enttäuscht.

In klarer Sprache, zuweilen mit Ironie gewürzt, versteht es der Autor, die angebliche Lichtgestalt Kaiser Karl, die seit Jahrhunderten verehrte, in Schul- und sonstigen Büchern sonder Zahl hochgepriesene Figur des angeblichen "Vater Europas" auf seine historisch greifbaren Eigenschaften und Taten zurückzuführen und damit zu entmystifizieren. Mit Akribie und beeindruckendem Kenntnisreichtum gelingt es Bergmeier, die Widersprüche, Verfremdungen und Fälschungen um die Person des Karolinger aufzuzeigen und ein neues Bild des angeblich "Großen" und seiner Zeit zu vermitteln.

Neben Einleitung und Epilog gliedert sich das 320 Seiten umfassende Buch in 10 Haupt- und zahlreiche Unterkapitel, Exkurse und zahlreiche Einschübe zu Begriffsbestimmungen erweitern und vertiefen das Verständnis komplexer Fragen.

Die Bewertung Karls erfordert den Vergleich und so beginnen die Ausführungen des Buches auch mit einem Ausflug in die Antike zu deren schöpferischer Fantasie, zur Idee des "Schönen" und zur Entfaltung des Geistes. Darauf aufbauend formten die Römer eine weit ausgreifende Bildungs- und Zivilisationslandschaft; Wissenschaft, Kunst und Kultur gelangten zu hoher Blüte, blühende Städte mit zahlreichen Bibliotheken und Schulen prägten die Spätantike.
Ab dem 4. Jahrhundert beeinflusst der Streit um das "richtige" Christentum das politische und öffentliche Leben; mit dem Erlass Cunctos populos im Jahr 380 wird das Christentum zur Staatskirche und zur beherrschenden Größe im Reich, ab dem 5. Jahrhundert – zusammenfallend mit der Ausbreitung des Katholizismus – beginnt für das lateinsprachige Mitteleuropa die Periode des Untergangs der griechisch-römischen Bildungskultur.
Über Ursachen dieses "Kultur- und Zivilisationsverfalls", lässt sich streiten, fest steht, dass die katholischen Frankenherrscher im Mittelpunkt dieses Geschehens stehen; unter dem Einfluss der katholischen Lehre von der Nichtigkeit des Diesseits werden dem Volk weder Schulen noch Bibliotheken zur Verfügung gestellt. Unter Karl wird die Politik, das breite Volk von Wissen und Wissenschaft fern zu halten und stattdessen zu einem bedingungslosen Glauben zu erziehen, forciert; er fördert ausschließlich Schulen für den katholische Klerus, rund 95 Prozent der Menschen werden von diesem Schulsystem nicht erfasst.

Historiker sind sich weitgehend einig, eine objektive Darstellung Karls ist nicht möglich, Spekulationen sowie fragwürdige Überlieferungen und phantasievoll lobpreisende Ausschmückungen und Legenden – überwiegend religiös motiviert – bestimmen sein Bild bis heute. Rolf Bergmeier spürt Fälschungen und Mythen nach und entblößt - in detailreicher kritischer Auseinandersetzung mit alten und neuen Quellen - die wahre Gestalt des Kaisers.
Das Resultat ist ernüchternd, Karl verdient weder den Beinamen "der Große", noch ihm zugesprochene Attribute wie "Leuchtturm der Weisheit", "Markstein der europäischen Geschichte", "Retter Europas" usw., auch seine im Jahr 1165 erfolgte Heiligsprechung ist wohl eher seiner rigorosen, extrem brutalen Verbreitung und Durchsetzung des Katholizismus, als einem segensreichen Wirken, oder gar "heiligen" Leben, geschuldet.

Rolf Bergmeiers Anliegen, Karl und seine Zeit, bzw. sein Wirken, objektiv zu erfassen, beschränkt sich nicht auf die Darstellung von Karls Herrschaftswesen mit dessen Auswirkungen auf Wissen, Gelehrsamkeit, Sprache, Schrift, Ökonomie, Architektur etc., sondern zieht auch Vergleiche mit zeitgenössischen Entwicklungen in der arabischen und byzantinischen Welt heran. Die Gegenüberstellungen erweisen, dass das Karolingerreich nicht nur in der Geistes- und Kulturentwicklung deutlich zurückgeblieben war, sondern auch auf vielen anderen Gebieten, wie z.B. in Handel und Verwaltung, in Apathie danieder lag; Karls 40jährige Kriegsführung und seine mindere Bildung (er konnte kaum lesen und schreiben) haben das ihre dazu beigetragen.

Geschichtsaffinen Lesern sei dieses Buch wärmstens empfohlen. Seine Stärke liegt nach Ansicht des Rezensenten nicht nur in der Korrektur der Mythen um Karl, sondern auch in der profunden Darstellung der vor allem durch die Christianisierung ausgelösten negativen Entwicklungen in der spätantiken/frühmittelalterlichen Welt Mitteleuropas.

Rolf Bergmeier, "Karl der Große. Die Korrektur eines Mythos", 320 Seiten. Hardcover, Tectum-Verlag, Marburg, 19,95 Euro (D)/ 20,60 Euro (A), ISBN 978-3-8288-3661-7