Die juristische "Aufarbeitung" des kirchlichen Missbrauchs

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Professor Jörg Scheinfeld (hier bei einem Festakt für Gerhard Czermak)
Professor Jörg Scheinfeld

Zum zweiten Mal in diesem Jahr war ein Themenabend des AK Säkulare in Düsseldorf der "Aufarbeitung" des Missbrauchs in kirchlichen Einrichtungen gewidmet. Matthias Katsch, Begründer und Sprecher der Betroffeneninitiative Eckiger Tisch e.V. hatte im September in einem sehr persönlichen Vortrag den kirchlichen Missbrauchsskandal aus der Perspektive der Betroffenen geschildert. Für die juristische "Aufarbeitung" des Skandals war es dem Düsseldorf AK gelungen, den Mainzer Strafrechtsprofessor und Direktor des Instituts für Weltanschauungsrecht (ifw), Professor Jörg Scheinfeld, als Referenten zu gewinnen.

Bevor es in medias res ging, stellte Professor Scheinfeld das von der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) im Jahr 2017 begründete Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) vor.

Das ifw ist ein Zusammenschluss von ehrenamtlichen Hochschullehrern und Praktikern, Anwälten, ehemaligen Richtern vom Bundesarbeitsgericht, die das Direktorium unterstützen. Im Zentrum der Aktivitäten steht die Befassung mit der ethischen Neutralität im Recht und in der Rechtsanwendung. Es handelt sich nach herrschender Sicht um ein Verfassungsprinzip, das in zahlreiche Bereiche ausstrahlt und immer wieder bedroht ist durch den Einzug von moralischen Vorschriften in rechtliche Regeln, die sich neutral nicht begründen lassen. Das ifw gibt eine mittlerweile 4-bändige Schriftenreihe heraus, erstellt Beschlussvorlagen, flankiert Anhörungen und Publikumsveranstaltungen im politischen Raum. Auch Musterprozesse führt das ifw (Begleitung der Ärztin Kristina Hänel) und unterstützt einzelne Klagen. Ein deutlicher Erfolg war das Urteil des Bundesverfassungsgericht 2020 in Sachen §217 StGB, das den Suizid als Grundrechtsausübung einstufte. Hier war das ifw in Form einer Stellungnahme beteiligt und nahm auch an der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe teil.

Regelmäßig meldet sich das ifw mit Vorträgen und Stellungsnahmen zu diesem Themenkomplex zu Wort. Im Jahr 2021 hatte Scheinfeld, zusammen mit zwei Kollegen, in der ZEIT kritische Worte zum Kölner Gercke-Gutachten geäußert.

Zügig leitete der Referent zum Hauptthema des Abends über und referierte zunächst über die "Aufarbeitung" der Missbrauchsfälle innerhalb der Kirchen durch den Staat.

Strafverfahren

Erhellender Ausgangspunkt der Bemühungen sei die MHG-Studie gewesen, die von Forschern der Universitäten Mannheim, Heidelberg und Gießen, durchgeführt worden war.

Die Bistümer der katholischen Kirche hatten den Forschern anonymisierte Daten zur Verfügung gestellt, die daraufhin untersucht wurden, ob Missbrauchsgeschehen vorzufinden ist. Die Auswahl der Daten oblag dabei den Mitarbeitern der Bistümer. Das Material ergab über 2.000 Fälle des sexuellen Missbrauchs, bei einem erweiterten Missbrauchsbegriff. Allerdings blieb verborgen, wo, durch wen, wann und wer die Opfer waren.

Dieses Ergebnis haben dann sechs Strafrechtsprofessoren 2018 zum Anlass genommen, Strafanzeige zu stellen (davon fünf Beiräte des Instituts für Weltanschauungsrecht).

Viele Staatsanwaltschaften haben dann aber aufgrund der Anzeige gar nicht erst ermittelt, so Scheinfeld, sondern den Anfangsverdacht verneint, der nötig ist, um Ermittlungen zu legitimieren. Während die sechs Kollegen diesen Anfangsverdacht bejaht hatten, war dies bei der überwiegenden Mehrheit der Staatsanwaltschaften nicht der Fall. Einige der Staatsanwaltschaften seien sogar an die Bistümer herangetreten und hatten die Kooperationsbereitschaft abgefragt. War diese "Bittstellerhaltung" der Staatsanwaltschaften angemessen? In einer Stellungnahme aus dem Jahr 2019 hat der Referent den Anfangsverdacht begründet und eine Ermittlungspflicht der Staatsanwaltschaft bejaht.

Was kann der Staat noch tun, wenn die Staatsanwaltschaften nicht agieren?

Die Justizminister der Länder sind die obersten Dienstherren der Staatsanwälte und im Einzelfall können diese also auch angewiesen werden zu ermitteln als "ultima ratio". Es sei verstörend, so Professor Scheinfeld, wenn der aktuelle Justizminister aus NRW, Benjamin Limbach (Grüne) verkündet, er werde sich zur MHG-Studie nicht äußern, weil er sonst in die Rechte anderer Institutionen eingreifen würde.

Dies sei für ihn als oberster Dienstherr aber immer möglich, so Scheinfeld. Es fehle wohl schlicht der Wille.

Die Dinge würden sich ganz anders darstellen, wenn die Staatsanwaltschaften aufgrund der MHG-Studie den Anfangsverdacht bejaht hätten und mit den Befugnissen zur Durchsuchung der Räumlichkeiten der Bistümer weitere Beweismittel hätten sicherstellen können.

Dies ist ein erster gravierender Punkt, an dem der Staat etwas versäumt habe in puncto Missbrauchsskandal: Eine dramatische Fehlleistung des Rechtsstaats, resümierte der Referent.

Was kann ein Strafverfahren leisten?

Bei nicht verjährten Straftaten kann es zu Anklagen und Verurteilungen kommen. Und es hat in Kassel und Köln durchaus schon Ermittlungsverfahren und Verurteilungen gegeben. In Köln war vor dem Landgericht ein Priester zu zwölf Jahren Haft verurteilt worden, nachdem er über einen Zeitraum von über 40 Jahren zahlreiche weibliche Opfer als Serienstraftäter missbraucht hatte – mit gravierenden gesundheitlichen Folgen bei die Betroffenen.

Kein Wunder, so der Jurist, handelt es sich doch um eine der entwürdigendsten Behandlungen, die man als Mensch erfahren kann. Eine "tiefe Verletzung des Persönlichkeitsrechts".

Solche Strafverfahren streben jedoch keine systematische Aufarbeitung an. Es geht immer um den konkreten Fall.

Zivilgerichtsverfahren

Opfer haben einen Anspruch gegen die Diözesen, da es sich um Körperschaften des öffentlichen Rechts handelt. Wenn ein Priester als Amtsträger eine Straftat begeht, dann haftet die Diözese. Eine Anzeigepflicht seitens des Bistums besteht jedoch nicht.

Das Opfer hat keinen rechtlichen Anspruch gegen den Täter selbst, wenn die Tat im Zusammenhang mit dem Priesteramt begangen worden ist. Und laut der Missbrauchsgutachten ist es in der Regel der Fall, dass Priester als Missbrauchstäter ihr Amt für die Begehung dieser Straftaten ausnutzen.

Exemplarisch der Fall Georg Menne, der zuletzt auch medial hohe Wellen geschlagen hat:

Georg Menne wurde im Juni 2023 für über 300 Vergewaltigungen ein Schmerzensgeld in Höhe von 300.000 Euro zugesprochen. Das ist mehr als jemals ein Vergewaltigungsopfer in diesem Kontext erhalten hat, merkte der Referent an. Leider wurde im Fall Georg Menne versäumt, die tiefe Verletzung des Persönlichkeitsrechts zu betrachten. Dazu habe sich das Gericht nicht durchringen können. Vergleicht man die Summe mit Schmerzensgeldzahlungen an Prominente, die gegen die Veröffentlichung privater Momente in Zeitungen vorgegangen sind, kann man über die Summe von 300.000 im Missbrauchsfall Menne nur mit dem Kopf schütteln.

Zivilprozesse streben – noch weniger als die Strafverfahren – keine systematische Aufarbeitung an. Im Fall von Georg Menne und dem Erzbistum Köln hat das Bistum Köln nichts bestritten. Gestritten wurde einzig um die Höhe des Schmerzensgeldes.

Im Vorfeld eines Prozesses vor Gericht besteht im Moment die Praxis der meisten Bistümer darin, die Opfer abzuschrecken, indem man ihnen anwaltliche Schreiben schickt, in denen die Einrede der Verjährung erhoben wird. Auch bei Menne wurde die Einrede zunächst erhoben, dann zurückgezogen. Es gibt allerdings auch noch die Möglichkeit einer außergerichtlichen Einigung: Während das Gericht auf eine gütliche Einigung hinwirken und eine außergerichtliche Streitbeilegung vorschlagen kann, ist bei der Kirche durchaus eine Verweigerung außergerichtlicher Verhandlungen zu konstatieren. Man wolle offenbar das Anerkennungsverfahren schützen und die Opfer anhalten, sich als Bittsteller an die Anerkennungskommission zu wenden.

Dies alles lässt durchaus einen Rückschluss zu auf einen Mangel an Ernsthaftigkeit der Aufarbeitungsbemühungen, resümierte der Jurist. Dabei hatte die Deutsche Bischofskonferenz in einer Pressemitteilung vom 2. März 2011 selber als Maßgabe folgendes geäußert:

"Um Opfer nicht auf einen möglicherweise langwierigen und kostspieligen Rechtsweg zu verweisen, soll bei nicht verjährten Schadensersatz- und Schmerzensgeldforderungen von den jeweils betroffenen kirchlichen Körperschaften eine außergerichtliche Einigung mit den Anspruchstellern angestrebt werden, gegebenenfalls mit Methoden der außergerichtlichen Streitbeilegung (z. B. Mediation)."

"Aufarbeitung" durch die Kirche

Im Rahmen des nächsten Themenpunkts ging der Referent auf die Studien und Gutachten ein, die von der Kirche in Auftrag gegeben wurden und einen wertvollen Beitrag zur Aufarbeitung leisten können. Aktuell bestehe allerdings das Problem der "Herrschaft der Kirche" über die Unterlagen, die zur Verfügung gestellt werden.

Aus dem Bistum Freiburg weiß man zum Beispiel, dass Erzbischof Zollitsch keinen einzigen Fall des Missbrauchs nach Rom gemeldet hat. Und mittlerweile ist auch bekannt, dass Kardinal Hengstbach aus Essen selbst Täter war.

Doch wer selbst Täter (und Bischof) ist, stellt natürlich keine Unterlagen zur Verfügung, mit denen er sich selbst belasten würde, so Scheinfeld.

Auch ist es für jede objektive Begutachtung tödlich, wenn die Kirche selber entscheidet, welche Unterlagen den Gutachtern zur Verfügung gestellt wird und auch wer begutachtet:

Ein weiterer Punkt der Kritik Scheinfelds betrifft die Auswahl der Gutachter und wiederum deren Gutachter. Im Gercke-Gutachten und dessen Begutachtung waren Fakultätskollegen involviert. Diesen Umstand im Blick ist es naheliegend, dass eine entsprechende Beißhemmung groß ist. Der Strafrechtsprofessor Rolf Dietrich Herzberg zog dann auch folgendes Fazit: "Führt man sich die groben Fehler im Gercke-Gutachten vor Augen, ergibt sich eine lange Liste und ein erschütterndes Bild"!

Was kann der Staat tun?

Die Aufarbeitung des Staates findet bisher weitgehend nicht statt, so der Referent. Und auch die Aufarbeitung der Kirche ist kritisch zu sehen.

Was sollte und kann der Staat also tun?

Aus einem Bericht des Chefanklägers des US-Bundesstaats Illinois ist bekannt, dass im dortigen "Fall Kelly" die Anzahl der Missbrauchsfälle tatsächlich viermal so hoch war wie die Anzahl, die die Kirche benannt hatte. In Deutschland könnte es ähnlich aussehen und allein dies sei ein wichtiger Anreiz tätig zu werden.

Auch das Genugtuungsinteresse der Opfer spiele eine Rolle neben dem präventiven Interesse der Gesellschaft.

Geboten wäre die Einrichtung einer interdisziplinär besetzten unabhängigen Aufarbeitungskommission, deren Mitglieder der Staat bestimmt mit dem Ziel, dem Phänomen des sexuellen Missbrauchs nachzugehen und dessen Wirkmechanismen zu verstehen. Nur so können präventive Maßnahmen ergriffen werden. Bedeutsam wäre hier die vollständige Erfassung des Phänomens. Diese Kommission sollte Zugriff auf alle relevanten Unterlagen erhalten mit Ermittlungsbefugnissen, die analog zu denen der Staatsanwaltschaften sind, so die Forderung des Rechtswissenschaftlers.

Fazit:

Die Staatsanwaltschaften und Gerichte betreiben bislang keine richtige Aufarbeitung im eigentlichen Sinne. Auch die Justizminister der Länder hätten längst deutlich mehr Initiative zeigen könnten als oberste Dienstherren der Staatsanwälte.

Die bisherige Aufarbeitung durch die Kirchen weist zahlreiche gravierende strukturelle Fehlerquellen auf. Eine sinnvolle künftige Aufarbeitung sollte vom Staat initiiert werden, interdisziplinär erfolgen und die Untersuchenden mit besonderen Ermittlungsbefugnissen ausstatten. Dies sei nun die Aufgabe der Politik. Es bleibt die Frage, nach dem Wann. Wann folgen endlich politische Taten im tausendfachen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch sexuelle Straftäter?

Es ist der eigentliche Skandal im Skandal, dass bisher von staatlicher Seite so wenig passiert ist.

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