Missionierung goes digital: Wie evangelikale Netzwerke Microtargeting nutzen

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Der digitale Fingerabdruck, den wir im Netz hinterlassen, sagt viel über uns aus. Er ist so wertvoll für die Werbeindustrie, dass sich Datenhandelsunternehmen gebildet haben, deren einzige Funktion es ist, einen möglichst akkuraten Fingerabdruck zu erzeugen. Auch der US-Evangelikalismus hat mittlerweile die üppigen Vorzüge des Microtargetings erkannt und nutzt die App "Bless Every Home", um gezielt Angehörige ethnischer Minderheiten anzusprechen, die als empfänglich für religiöse Botschaften klassifiziert werden.

"Bless Every Home" beschreibt sich selbst als "Erntewerkzeug, um Seelen für Christus einzubringen". Die App bietet evangelikalen Gemeinden Zugang zu einer Geodatenbank, die Personen nach demographischen und ethnischen Merkmalen, aber auch nach ihrer Empfänglichkeit für religiöse Botschaften filtert. Der Algorithmus des Unternehmens nutzt dazu frei verkäufliche Daten sogenannter Data Broker, um Persönlichkeits- und Geoprofile anzulegen.

Die Datenquelle ist also die gleiche, die auch die Werbeindustrie anzapft. "Bless Every Home" allerdings ist darauf ausgelegt, Profile von Menschen anzulegen, die einen Migrationshintergrund haben oder nicht dem christlichen Glauben angehören. Weiterhin können die evangelikalen User selbst Notizen in die Karten eintragen – so zum Beispiel den Vermerk, dass ein enger Verwandter eines Haushalts gerade gestorben oder die Tochter fürs College weggezogen ist.

Kevin Greeson, Vorsitzender eines großen texanischen Missionierungsnetzwerks und begeisterter Kunde der Applikation, gesteht in einem dem Magazin Newsweek vorliegenden Video einer Promoveranstaltung ein: "[D]ieses Ding ist wirklich mächtig – es ist eine Invasion der Privatsphäre". Auf Anfrage von Newsweek sagte Greeson, die eingekauften Daten würden mit anderen Kirchengemeinden geteilt, der Zugang sei allerdings auf ein bis zwei Führungskräfte pro Gemeinde begrenzt.

Spritiueller Krieg

Selbstverständlich sieht die App oberflächlich betrachtet erst einmal harmlos aus. Wenn sich Glaubensgemeinschaften damit zu Flohmärkten oder Grillabenden verabreden, deren Ziel die Gewinnung neuer Anhänger*innen ist, ist das ihr nach US-Verfassung verbrieftes Recht. Fraglich ist viel eher, warum es dafür eine Geodatenbank braucht, die in ihrem Umfang potentiell so detailliert ist, dass Erich Mielke sich in Ehrfurcht verneigen würde. Eben das ist, was uns ob der bloßen Existenz dieser Datensätze Bauchschmerzen bereiten muss: ihr destruktives Potential.

Greeson weist zwar darauf hin, dass sämtliche eingekauften Daten "öffentliche Informationen" sind, das allerdings ist nur partiell richtig. Eigentlich sind diese Daten nämlich für kommerzielle Zwecke bestimmt, für Microtargeting – individuell zugeschnittene Werbung – und Analytik. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich auszumalen, welche Konsequenzen es im schlechtesten Fall haben kann, wenn eifrige Missionierungsnetzwerke das Privatleben bestimmter ethnischer Gruppen fein säuberlich aufgelistet ins Internet stellen.

Erschwerend hinzu kommt, dass nicht unerhebliche Teile des US-Evangelikalismus sich bereits in einer Feedbackschleife der Radikalisierung befinden. Ein evangelikaler Gebetsmarsch am 5. Januar 2021 wird von der Untersuchungskommission zum 6. Januar als "kritisches Element", das der Gewalt des nächsten Tages "den Weg geebnet" habe, zitiert. An diesem 6. Januar erschallten vor dem Kapitol zahllose Shofars, just die Art von Horn, das die biblischen Israeliten bei ihrer siebenfachen Umrundung der Stadt Jericho geblasen haben sollen. Von einem "spirituellen Krieg" um die Seele wahlweise der USA oder der ganzen Welt ist die Rede, von "Dämonen", denen nur mit der "Rüstung Gottes" beizukommen ist.

Diese Schlachtrufe schallen längst nicht mehr nur aus entlegenen Appalachengemeinden, sondern aus der Republikanischen Fraktion im Kongress und konservativen Teilen der Justiz. Eine Sense vermag Getreide, aber auch Köpfe abzuschneiden. So aus dem spirituellen Krieg ein echter werden sollte, wird aus einem Ernte- schnell ein Mordwerkzeug.

Das Pentagon und das Potential des Microtargetings

"Der Algorithmus kennt mich einfach" ist ein Satz, den es in dieser Form noch keine 15 Jahre gibt. "Der Algorithmus", das ist dieser amorphe Blob aus Computercode, der entscheidet, welches klitzekleine Fragment der nicht zu bewältigenden Mengen an Informationen und Inhalten, die in jeder Sekunde ins Internet strömen, unsere Augen und Ohren erreicht. Und doch ist "der Algorithmus" mehr als eine Maschine, mehr als ein Ding. Er beobachtet unser Verhalten und lernt, Vorhersagen zu treffen. Er memorisiert unsere Präferenzen nicht nur, er antizipiert sie und wird so zu einem Etwas.

Um eine Vorstellung davon zu erhalten, wie unfassbar akkurat die Aussagen sind, die Algorithmen heute über unsere Bewegungen, Motivationen und Handlungen abgeben können, sei auf die Tatsache verwiesen, dass anhand frei verkäuflicher Daten einerseits so etwas mondänes wie Affären, andererseits aber auch die Bewegungen von Wladimir Putin und der Ablauf von Spezialoperationen der US-Armee nachvollzogen werden können. Wir haben in Teilen geschafft, was vor zehn, fünfzehn Jahren als eines der zentralen Probleme der Informatik galt, nämlich Big Data zu bezwingen. Unsere Algorithmen sind heute so gut, dass sie aus all den Fetzen und Fragmenten Bilder zusammensetzen können, die die Realität in vielen Bereichen nahezu perfekt emulieren. Sie sind so gut, dass es selbst das Pentagon kaum glauben kann.

Es ist nicht verwunderlich, dass der seit jeher findige Evangelikalismus sich nun ebenfalls dieser potenten Technologie zuwendet. Evangelikale Gemeinden in den Vereinigten Staaten waren im letzten halben Jahrhundert nicht selten Pioniere moderner Technologien. Als sich das Auto verbreitete und die Staus und Pendelstrecken länger und länger wurden, bildete sich ein florierendes Ökosystem evangelikaler Radiosender, das bis heute erstaunlichen Erfolg hat. Mit der Ausbreitung des Kabelfernsehens begann der Boom der sogenannten "Megachurches", die spektakuläre Lichtshows voller Pyroeffekte und menschlicher Passion in jeden Haushalt zu senden begannen. Nach der Partnerschaft mit Sozialen Netzwerken wie Facebook ist es nur logisch, sich nun am Buffet der Datenhandelsunternehmen gütlich zu tun, um weiter zu wachsen.

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