Schweiz

Verschweigen, vertuschen, wegsehen: Der Staat ist mitverantwortlich für den Missbrauch in den Kirchen

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Kapelle in einem schweizer Bergdorf
Kapelle in einem schweizer Bergdorf

Sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche ist ein systemisches Problem. Der gestern erschienene Bericht der Universität Zürich ist für die projektleitenden Professorinnen Monika Dommann und Marietta Meier erst die Spitze des Eisbergs. Das Ausmaß ist gravierend, die Details erschreckend – unter den Missbrauchten sind auch Kleinkinder und Säuglinge. Die Kirche hat bagatellisiert, verschwiegen und teilweise auch Akten vernichtet.

Die Bilanz des neusten Berichts zu Missbrauchsfällen in Schweizer Kirchen zeigt unter anderem, dass die Zahl der betroffenen Menschen massiv höher ist als bisher angenommen. Die Schweizer Bischofskonferenz hatte gemäß Berner Zeitung bisher bloß 380 Meldungen wegen sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche publik gemacht. Die Vorstudie identifiziert allein schon 1.002 sexuelle Missbrauchsfälle seit 1950 in der Schweiz.

Andreas Kyriacou, Präsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz, sagt dazu kritisch: "Es ist auch ein Versagen des weltlichen Staates. Wenn er Religionsgemeinschaften mit einem staatlichen Gütesiegel versieht, dann steht er in der Verantwortung, diese Missbräuche zu verhindern zu suchen und, wenn sie doch vorkommen, die zuständigen Organe des Staates zu informieren und alle nötigen Unterlagen auszuhändigen."

Täter geschützt

In der Vorstudie wurde deutlich, dass Verantwortliche der Kirche sexuellen Missbrauch bis in die 2000er Jahre hinein in den meisten der ausgewerteten Fälle ignorierten, verschwiegen oder bagatellisierten. Wenn sie zum Handeln gezwungen waren, taten sie dies häufig nicht mit Blick auf die Betroffenen, sondern zum Schutz der Täterinnen und Täter, der Institution und der eigenen Position. In vielen Fällen wurde sexueller Missbrauch "ausgesessen", Beschuldigte versetzt sowie Betroffene und Mitwissende zum Schweigen verpflichtet. Dadurch nahmen Verantwortliche der Kirche in Kauf, dass es zu weiteren Fällen sexuellen Missbrauchs kam.

Valentin Abgottspon, Vize-Präsident der Freidenker-Vereinigung der Schweiz merkt an: "Das Ganze ist nicht bloß ein Missbrauchs-Skandal, sondern auch ein Missbrauchs-Vertuschungs-Skandal. Zu oft und bis in die heutige Zeit wurde beschwichtigt, weggesehen und vertuscht. Es ist vielfach belegt, dass kirchliche Institutionen – in der Schweiz wie weltweit – aktiv daran beteiligt waren, dass keine staatliche Strafverfolgung möglich war. Ich verstehe, dass ganz viele Menschen inzwischen kein Vertrauen mehr in diese Kirche haben und ihr den Rücken kehren. Ich wünsche mir aber, dass zumindest der Staat Vertrauen zurückgewinnt, indem er nicht mehr wegschaut, sondern aktiv wird. Die Politik und die Behörden dürfen hier nicht mehr mit Samthandschuhen arbeiten und wegsehen."

Keine Sonderrechte für Kirchen

Der jetzt vorliegende erste systematische Versuch, die Thematik wissenschaftlich zu erfassen und zu umreißen klärte in erster Linie die Fragen des Archivzugangs, des Stands der Erforschung und Dokumentation von Fällen sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche sowie die bislang unternommenen Anstrengungen in deren Aufarbeitung und Vermeidung. Es werden weitere Details bekannt werden. Es wäre erstaunlich, wenn es in der Schweiz anders wäre als in den meisten europäischen Ländern, welche bei der Aufarbeitung teils schon weiter sind. Die Freidenkenden Schweiz bekräftigen ihre Forderung, dass religiöse Gemeinschaften keine Sonderrechte erhalten sollten.

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