Schweiz: Missbrauchsskandal in der Abtei Saint-Maurice

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Innenraum der Abteikirche
Innenraum der Abteikirche

Erneut wurden Fälle von schwerem Missbrauch in einem katholischen Kloster in der Schweiz aufgedeckt. Gleich neun Geistliche sollen in sexuelle Missbrauchsfälle verwickelt sein.

Der aktuelle Missbrauchsskandal wurde durch einen Bericht der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt der französischsprachigen Schweiz Radio Télévision Suisse (RTS) publik. Im Fokus steht die Augustiner-Chorherren-Abtei Saint-Maurice, die sich im Kanton Wallis in der Westschweiz befindet. Die Abtei gilt als eines der ältesten Klöster des Abendlandes, 2014/2015 feierte sie ihr 1.500-jähriges Bestehen.

Die Recherchen von RTS legen nahe, dass in der Abtei über einen langen Zeitraum sexueller Missbrauch stattfand und die Vorfälle von der Abtei vertuscht wurden. In der Sendungsreihe "Mise au point" wurde am 19.11.2023 in zwei (französischsprachigen) Beiträgen (16 min, 11 min) berichtet, dass insgesamt neun, zum Teil bereits verstorbene Priester mutmaßlich mit sexuellen Missbrauchsvorfällen im Zusammenhang mit der Abtei in Verbindung gebracht werden.

Dem Prior der Abtei, Abt Roland Jaquenoud, wird in dem Beitrag von RTS vorgeworfen, Sex mit einem Novizen gehabt zu haben. Die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) weiß überdies zu berichten, in der Abtei habe man gewusst, dass Jaquenoud bis 2003 einvernehmliche homosexuelle Handlungen vorgenommen habe. Er sei für diesen Verstoß gegen das Keuschheitsgelübde 2004 bestraft worden. In einer ersten Stellungnahme, die der Pressesprecher der Abtei verlas, bestreitet der Abt seine sexuelle Beziehung mit dem jungen Novizen nicht. Er weist jedoch Anschuldigungen des Missbrauchs zurück und erklärt, dass der Sex einvernehmlich erfolgt und der Novize volljährig gewesen sei.

Gemäß den Recherchen von RTS scheint die Glaubwürdigkeit von Abt Jaquenouds Behauptung über ein einvernehmliches sexuelles Verhältnis jedoch auf wackligen Beinen zu stehen. Der Geistliche könnte als direkter Vorgesetzter den Novizen zum Geschlechtsverkehr sogar gezwungen haben. Das mutmaßliche Opfer habe die Vorwürfe gegenüber RTS telefonisch bestätigt, wolle aber anonym bleiben und sich nicht weiter äußern. Da nichts von alldem offiziell bewiesen ist, soll an dieser Stelle auf die Unschuldsvermutung hingewiesen sein.

Laut Bericht von RTS gehen die Verwicklungen noch weiter. So habe die Abtei ursprünglich versucht, den Vorfall mit Priester Jaquenoud zu vertuschen. Ein anderer Novize habe jedoch den Vatikan über die Vorkommnisse informiert. Als Reaktion darauf wurde ein Gesandter des Vatikans geschickt, wobei der Besuch offiziell als "Höflichkeitsbesuch" getarnt wurde. Nach diesem Ereignis sei Jaquenoud angeblich "freiwillig" nach Kasachstan versetzt worden, erst Jahre später kehrte er zurück.

Jaquenoud trat aufgrund der gegen ihn gerichteten aktuellen Anschuldigungen von seinem Amt zurück. Besonders pikant ist hierbei, dass er erst seit zwei Monaten als Prior von Saint-Maurice tätig war. Und das auch lediglich als Interimsabt, nachdem sein Vorgänger, Abt Jean César Scarcella, das Amt nach Missbrauchsvorwürfen im September hatte ruhen lassen.

Abt Jean César Scarcella wurden im Mai dieses Jahres in einem Schreiben an den Vatikan sexuelle Übergriffe vorgeworfen. Der 1951 geborene Ordenspriester stand seit 2015 der Abtei Saint-Maurice als Prior vor. Er ist "Großoffizier des Päpstlichen Ritterordens vom Heiligen Grab zu Jerusalem", Abtprimas der "Konförderation der Augustiner Chorherren" und als Mitglied der Schweizer Bischofskonferenz leitete er das Departement "Glaube, Liturgie, Bildung, Dialog". Laut NZZ stammen die Vorwürfe gegen den vielfachen Würdenträger vom ehemaligen Generalvikar der Diözese Lausanne, Genf und Freiburg. Der Vatikan reagierte mit einer internen Untersuchung. Ein Bischof wurde als apostolischer Sonderermittler eingesetzt. Scarcella gab bekannt, sein Amt vorläufig nicht mehr auszuüben, bis die Ermittlungen abgeschlossen seien und er sicherte dem Bischof seine vollständige Kooperation zu.

Laut RTS ereigneten sich die meisten Fälle in der Abtei zwischen 1995 und 2005. Sollten die Anschuldigungen vor Gericht bestätigt werden, würde dies bedeuten, dass die sexuellen Übergriffe sogar noch stattfanden, als Papst Johannes Paul II. nach den ersten großen Kirchensexskandalen öffentlich eingeschritten war. In einem von ihm persönlich initiierten und verfassten apostolischen Schreiben hatte er seinen Klerus zur Einhaltung des kanonischen Rechts (siehe "Motu Proprio Sacramentorum Sanctitatis Tutela") ermahnt. Während eines Weltjugendtreffens in Kanada im Jahr 2002 verurteilte derselbe Papst die Fälle sexuellen Missbrauchs "als beschämende Sünden". Er betonte, dass Priester und Ordensleute !zum Guten entschlossen! seien, und ermutigte die Gläubigen, der Kirche Vertrauen zu schenken. Diese Botschaft fand jedoch kein Gehör bei den Geistlichen in der Augustiner-Chorherren-Abtei Saint-Maurice. Sie sollen bis 2005 die Übergriffe fortgesetzt haben, trotz der offiziellen Appelle des Papstes und seiner Versicherungen, dass die Kirche sich ändern werde.

Ein Teil der Vorkommnisse, über die RTS berichtete, sind schon länger bekannt. Zum Beispiel war ein Klostermitglied nach dem Missbrauch zweier Kinder bereits Mitte der 1990er Jahre zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt und in den Laienstand zurückversetzt worden. Andere Vorwürfe waren in der Vergangenheit polizeilich untersucht worden, jedoch wurden die Ermittlungen wegen Verjährung oder aus anderen Gründen eingestellt.

Die RTS-Recherche stützt sich auf Aussagen von Opfern und Angehörigen, denen man offenbar nicht glaubte oder die anonym bleiben wollten. Dass die Staatsanwaltschaft nun tätig wird, liegt möglicherweise daran, dass die neue Affäre von einem Generalvikar losgetreten wurde. Am 22. und 23. November begaben sich der Generalstaatsanwalt und Inspektoren der Kantonspolizei Wallis im Rahmen der Voruntersuchung in die Abtei Saint-Maurice, wo sie auf freiwilliger Basis Zugang zu den Archiven der Abtei erhielten.