Zur Gesellschaftstheorie von Rosa Luxemburg

Anfang 2014 erschien der 6. Band der "Gesammelten Werke" von Rosa Luxemburg. Die darin enthaltenen Texte über Religion, den Diskussionen besonders zur "Staat-Kirche-Trennung", wie sie um 1900 im sozialdemokratischen Umfeld der Freidenker in Deutschland geführt wurden und bis heute fortwirken, wurden in einer Rezension im hpd vorgestellt. Der nun im März 2017 erschienene, abschließende Band 7 (1233 S., 2 Teilbände) ist ebenfalls von den Historikern Annelies Laschitza und Eckhard Müller ediert. Er wird im Folgenden von Horst Groschopp vorgestellt.

Die "Gesammelten Werke" der linken Sozialdemokratin, Mitbegründerin der KPD in der Novemberrevolution 1918/1919 und durch Angehörige der "Garde-Kavallerie-Schützen-Division" ermordeten Rosa Luxemburg (1871-1919) umfassten ursprünglich fünf Bände. Sie erschienen zwischen 1970 und 1975. Spätere Forschungen, vor allem durch die beiden Herausgeber, erschlossen zahlreiche weitere Texte, die jetzt das vollständige deutschsprachige Werk von Rosa Luxemburg dokumentieren. Hinzu kamen polnischsprachige Texte. Während Anfang 2014 mit Band 6 die Texte aus der Zeit von 1893 bis 1906 um 270 Dokumente ergänzt wurden, enthält der vorliegende Band zusätzliche 152 Dokumente aus der Zeit von 1907 bis 1918. Im Vorwort von Annelies Laschitza wird die schwierige Editionsgeschichte dargelegt (vgl. 7/1, S. 15-20).

Damit können, nach über fünfzig Jahren fortlaufender Erschließung und Edition, die "Gesammelten Werke" durch sämtliche seit den 1970er Jahren bis heute aufgefundenen und identifizierten Reden und Schriften Rosa Luxemburgs in deutscher Sprache abgeschlossen werden. Band 7 hat gegenüber Band 6 zudem eine völlig andere Struktur, denn er publiziert viel mehr handschriftliche Texte, darunter zahlreiche Exzerpte (eine Vorliebe von Rosa Luxemburg), Notizen, Randglossen usw. Der vorliegende Band zeichnet sich auch dadurch aus, dass er sowohl ein umfängliches Personenregister (S. 1141-1209) als auch ein ebensolches Geographisches Register (S. 1210-1233) enthält, eine Fleißarbeit sondergleichen.

Die transkribierten, im Original lediglich handschriftlich vorliegenden Texte füllen fast die Hälfte des Bandes. Es sind größtenteils undatierte Fragmente, die mittelbar oder unmittelbar in engem Zusammenhang mit dem Hauptwerk von Rosa Luxemburg stehen, der "Akkumulation des Kapitals". Dieses Werk von 1913 ist noch immer aktuell hinsichtlich der dort dargelegten Imperialismustheorie, besonders der Analyse der Kolonialpolitik, deren Folgen heute hierzulande in den Fluchtbewegungen spürbar werden, deren Ursachen letztlich weit zurückliegen. An der politischen Oberfläche bleibende Interpretationen der Vorgänge, sozusagen "von der Hand in den Mund"-Ansichten, haben Rosa Luxemburg schon vor über hundert Jahren genervt. Schon deshalb lohnt sich das Lesen ihrer Ansichten zur Friedensfrage und ihrer Beobachtungen zum Verlauf der Russischen Revolutionen vom Frühjahr und Herbst 1917.

Der Ertrag ihrer sozialökonomischen Studien wird auch gegenwärtig durch die Abwertungen, die Rosa Luxemburg durch den wirkmächtigen Stalinismus erfahren hat, als auch durch die Abkehr der Sozialdemokratie von einer grundsätzlichen Gesellschafts- und Kapitalismuskritik seit den 1920er Jahren verdeckt. Für Letztere steht noch immer die große Wortmeldung zum "organisierten Kapitalismus" im Raum, "Das Finanzkapital" von Rudolf Hilferding (1877-1941), ein Epochenwerk, das Rosa Luxemburg dankbar aufgriff, mit dem sie rang und das sie erweiterte. Hier besonders interessant die Vorlesungsmitschriften zu ihrer Marx-Interpretation in den Vorlesungen von 1912/1913 von Rosi Wolfstein (vgl. 7/1, S. 409-563; zu Person und Dokument-Historie vgl. Vorwort, S. 28 ff.) und das knappe Resümee von Rosa Luxemburg zum Ergebnis ihrer Imperialismus-Untersuchungen: "indirekte Steuern u. Schutzzoll … Schwinden des Liberalismus, Verfall des Parlamentarismus. Summa: steigende wirtsch. Anarchie (Weltkrisen) … polit. Anarchie (Weltkriege)." (S. 190)

Die spätere Entwicklung der KPD zu einer Gefolgspartei der sich zu einem Zwangsarbeitslager wandelnden Sowjetunion hat auch den Beitrag verdeckt, den Rosa Luxemburg zum Demokratieverständnis geleistet hat. Meist wird nur ihr Eintreten für die Rechte von Minderheiten in ihrer Lenin- und Bolschewismuskritik positiv vermerkt. Der vorliegende Band vermittelt ihre viel breitere Sicht anhand der Wahlrechtskämpfe von 1910 (vgl. 7/1 bzw. 7/2, S. 577-625), zur Massenstreikdebatte (vgl. 7/2, S. 760-788), aber auch zu den polnischen Kämpfen (vgl. 7/2, S. 754-759) und zum Widerspruch von Militarismus und Volksfreiheit, verschiedene Fassungen einer Rede (vgl. 7/2, S. 825-845).

Bei zahlreichen Artikeln konnten die Herausgeber in nahezu kriminalistischer Analyse die Autorschaft von Rosa Luxemburg nachweisen. Dazu gehört auch der anonym am 27. September 1910 im "Vorwärts" erschienene Text über "Freidenkertum und Sozialdemokratie", der sich auf polnische Parteiauseinandersetzungen und gegen dortigen freidenkerischen Antisemitismus positionierte: "Die Freidenker, die diesen Namen wirklich verdienen, treten für die Idee des Weltbürgertums ein, wenden sich gegen den bornierten Chauvinismus und Rassenhaß. Wenn dieses Freidenkertum in Ländern des Westens auch wenig leisten kann für die Verwirklichung dieser Ideen, wenn es sich von der Arbeiterbewegung … abwendet, so kommt ihm immerhin das Verdienst zu, daß es das Bürgertum an seine früheren Ideale erinnert." (7/2, S. 659)

Noch heute beeindruckend ist ihr tagesaktueller, aber stets grundsätzlicher Journalismus. Wenn man nicht wüsste, dass Rosa Luxemburg auch zu leben verstand, organisieren konnte oder auf Sitzungen herumsaß (oder im Gefängnis unter Aufsicht stand), man könnte annehmen, die Frau habe den ganzen Tag nur geschrieben – und seien es Geologische und Botanische Notizen (vgl. 7/2, S. 1117-1135).

Rosa Luxemburg: Gesammelte Werke. Band 7. 1907 bis 1918. Herausgegeben und bearbeitet von Annelies Laschitza und Eckhard Müller. Mit einem Vorwort von Annelies Laschitza. Berlin: Karl Dietz Verlag 2017, 2 Teilbände, 1233 S., Bd. 7/1: ISBN 978-3-320-02332-4; Bd. 7/2: ISBN 978-3-320-02333-1. Je Band 49,90 Euro.