Geschlechterstreit

Des Professors Nebelkerzen

Der Evolutionsbiologe Diethard Tautz fordert, bei Geschlechtern nicht in Kategorien zu denken. Er leugnet zwar nicht, dass es genau zwei biologische Geschlechter gibt, möchte dieser Tatsache aber keine Bedeutung mehr beimessen. Seine Ausführungen überzeugen allerdings nicht.

Diethard Tautz, ehemals Direktor der Abteilung "Evolutionsgenetik" am Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie in Plön, hat im "Laborjournal" einen Artikel veröffentlicht unter dem Titel "Biologisches Geschlecht – Die Illusion der Binarität". Darin plädiert er dafür, Kategorien in Bezug auf die Geschlechter aufzugeben. Das erinnert an Forderungen etwa der postmodernen Philosophin Judith Butler. Die ist nun nicht als Expertin für Biologie bekannt. Tautz dagegen ist nicht irgendwer: Er war Professor an der LMU München und der Uni Köln, Präsident der Deutschen Zoologischen Gesellschaft und wurde mit etlichen Forschungspreisen ausgezeichnet. Wenn sich ein Biologe solchen Kalibers in die Debatte um die Frage nach der Biologie der Geschlechter einmischt, muss man sich mit seinem Beitrag ernsthaft auseinandersetzen. Wie also kommt Tautz zu seiner Forderung?

Während der Titel darauf hinweist, dass Tautz die Binarität des biologischen Geschlechts für eine Illusion zu halten scheint, legt er in seinem Text selbst zuerst einmal ausführlich dar: Das biologische Geschlecht ist … binär.

Anfänglich streut er noch Zweifel: Sex, so schreibt er, "gilt im Allgemeinen als binär". Denn es gibt "zwei Typen von Gameten (Spermien und Eier), die zu Zygoten verschmelzen. Diese sind asymmetrisch und können daher als männlich und weiblich bezeichnet werden. Mit der Asymme­trie der Gameten ist auch eine Binarität der Individuen vorgegeben, die sie produzieren." (Fettung vom Autor.)

Zur Frage nach der Zahl biologischer Geschlechter gibt Tautz also eine klare Antwort. Wieso also soll die Binarität eine Illusion sein, wie der Titel behauptet? Tatsächlich versucht Tautz im folgenden Text etwas Anderes zu erklären: Die Binarität ist zwar eine Tatsache, ihre Bedeutung aber wird überschätzt.

Seine folgenden Ausführungen sind für die Frage nach der biologischen Binarität selbst eigentlich irrelevant. Und bei allem Respekt vor den Leistungen des renommierten Forschers: Tautz wirft hier eine Nebelkerze nach der anderen.

So erklärt er erst einmal, wozu Sex tatsächlich da ist: Er führt zu mehr Vielfalt auf der Ebene der Geno- und Phänotypen – also zu Unterschieden in der jeweiligen genetischen Ausstattung und dem Erscheinungsbild der Angehörigen einer Population und damit zu vielen verschiedenen Individuen. "Die Rolle von zwei Geschlechtern ist", erklärt er, "die Generierung von Diversität, nicht von Binarität!" Hat jemand etwas anderes behauptet? Die biologische Geschlechtlichkeit bleibt aber sowohl beim Geno- als auch Phänotyp binär: Am Ende kommen männliche oder weibliche Individuen heraus, auch beim Menschen. Die sehr seltenen Fälle intersexueller Menschen bringen hier nichts in die Welt, das außerhalb des binären Systems stünde. Sie tragen aufgrund von Entwicklungsabweichungen eben Merkmale beider Geschlechter. Tautz geht es hier also nur darum, die Bedeutung von Diversität zu betonen – das zieht sich durch den gesamten Text.

Irrelevant für die Frage nach der Binarität selbst sind auch seine Ausführungen dazu, wieso sich die Individuen bei der geschlechtlichen Fortpflanzung fast immer im Verhältnis von etwa 1:1 auf die zwei Geschlechter verteilen, und die Frage, ob die Binarität gewissermaßen eine zwingende Folge der Evolution ist. Das ist nicht der Fall, wie Tautz feststellt: Es gibt "kein Naturgesetz, das die Asymmetrie der Gameten vorsieht". Das hat wohl ebenfalls niemand behauptet. In den vergangenen Hunderten von Millionen Jahren ist bei der geschlechtlichen Fortpflanzung der Eukaryoten aber bislang nicht mehr herausgekommen als Isogamie (zwei gleichartige Gameten, etwa bei manchen Algen) und Anisogamie (zwei verschieden große Gameten wie bei Menschen). Das ist der Stand der Dinge.

Nach einer weiteren Erklärung, wieso das binäre Geschlechtssystem entstanden ist, wendet sich Tautz dem "peinlichsten Problem der Evolutionsbiologie" zu: Binärer Sex ist kompliziert und aufwendig, wieso sind wir nicht einfach alle Hermaphroditen (Zwitter)? Aber: Wem sind offene Fragen in den Naturwissenschaften peinlich? War auch das Rätsel der Entstehung des Wirbeltierauges peinlich? Für Anhänger des Intelligent Design war es ein Paradebeispiel für das Scheitern der Evolutionstheorie und ein Beleg für die Existenz eines intelligenten Schöpfers. Inzwischen ist die Entwicklung dieses Organs verstanden. Dass das Phänomen der Binarität (noch) nicht abschließend erklärt ist, ist jedenfalls kein Grund, an der Existenz dieses Phänomens zu zweifeln. Was Tautz dann auch nicht tut. So what?

Besonders irritierend wird der Text, wo Tautz die Vielfalt der Phänotypen innerhalb eines Geschlechts ins Spiel bringt, um die Bedeutung der Binarität der Geschlechter aufzuweichen. Sex soll, wiederholt Tautz, verschiedene Phänotypen hervorbringen, und nicht identische Individuen. "Also auch nicht Individuen, die in nur zwei Klassen eingeteilt werden können", stellt er fest. "Unser Gehirn macht also eigentlich eine schizophrene Entscheidung: Es klassifiziert binär, obwohl es ebenso erkennt, dass jedes Individuum anders aussieht."

Unser Gehirn trifft hier keineswegs eine "schizophrene Entscheidung", sondern ist in der Lage, trotz aller phänotypischen Varianz innerhalb der Geschlechter mögliche Fortpflanzungspartner zu identifizieren. Wären wir dazu nicht in der Lage, wäre die Sache mit dem Sex noch viel komplizierter, als sie sowieso schon ist. Unser Gehirn klassifiziert hier binär, weil tatsächlich etwas Binäres vorliegt: Auch wenn die Individuen alle anders aussehen, lassen sie sich bezüglich des biologischen Geschlechts in eine von zwei Kategorien stecken. (Ausnahme: intersexuelle Menschen, die aber kein drittes oder anderes Geschlecht darstellen.)

Nicht überzeugend ist auch Tautz' Beispiel der Aliens, die auf die Bilder auf der Platte der "Pioneer-10"-Sonde stoßen könnten, die die Grenzen unseres Sonnensystems schon lange verlassen hat. Die Darstellung eines typischen Mannes und einer typischen Frau ist Tautz zufolge ganz gut gelungen. "Für uns selbst ist der Wiedererkennungswert binärer Geschlechtsunterschiede schließlich sehr hoch." Aber die Aliens würden unter realen Menschen ja "kaum jemanden finden, die oder der genauso aussieht wie auf diesen Abbildungen – praktisch alle Individuen, die sie vergleichen würden, würden Abweichungen zeigen. Würden die Aliens dann die primären Geschlechtsmerkmale als wichtiger werten als alle sonstigen phänotypischen Unterschiede?"

Gehen wir von halbwegs intelligenten Aliens aus, lautet die Antwort mit Sicherheit: Ja, wenn sie – wie Menschen – auf die Merkmale achten, die für die Unterscheidung der Geschlechter relevant sind. (Zur Frage, wie Außerirdische Menschen wahrnehmen würden – gerade auch in Bezug auf das Sexualverhalten –, gibt das Buch des Evolutionspsychologen Steve Stewart-Williams "The Ape that understood the Universe" (2020) eine Menge interessantere Antworten.)

Der frühere Max-Planck-Forscher bleibt bei den vielfältigen Merkmalen, die Menschen zeigen: "Ein Prozess", sagt Tautz, "steuert die Entwicklung der Gameten und der Geschlechtsorgane". Diese "allererste Entscheidung in Richtung männlich oder weiblich ist meist binär". Tatsächlich ist sie fast immer binär. Andere Prozesse, fährt er fort, sind dann für die Ausformung der sekundären Geschlechtsmerkmale zuständig und "[...] ein weiterer Prozess steuert die Ausbildung des sozialen Gehirns und damit auch die Ausbildung persönlicher Präferenzen und Verhaltensweisen". Diese Entwicklungen werden durch polygene Prozesse gesteuert, und die "sind dadurch gekennzeichnet, dass ihr Produkt aus einer Kombination von Genetik und Umweltbedingungen entsteht und damit für jedes Individuum etwas unterschiedlich ist". Richtig. Gerade deshalb ist es umso beachtlicher, dass Verhaltensbiologen und Evolutionspsychologen eine Reihe von Verhaltensweisen beobachten, die tendenziell eher bei Männern oder Frauen auftreten. Vor allem Verhaltensweisen, die sich mit den unterschiedlichen Fortpflanzungsstrategien der Geschlechter erklären lassen.

Tautz dagegen beruft sich auf "Sexualforscher und Psychologen", die davon offenbar noch nichts gehört haben. Er verlässt das Feld der Biologie und wechselt in die Geisteswissenschaften hinüber, wo er das "Hilfskonstrukt" Gender findet, also die "gefühlte und/oder soziale Geschlechtsidentität [...], die der biologischen Geschlechtsbestimmung gegenübergestellt wird".

Tatsächlich hat noch niemand Geschlechtsidentität genau definiert. Der letzte Dreh ist hier: Eine Frau/ein Mann ist, wer sich als Frau/Mann identifiziert. Eine Kategorisierung ohne Kategoriemerkmale, also Beliebigkeit. Tautz stört das nicht. Er wünscht sich gerade – wie Judith Butler – dass wir die Kategorien bei den Geschlechtern ganz aufgeben. "Jedes Individuum muss für sich gesehen werden, und jedes Individuum sollte daher auch seine Rolle im kontinuierlichen Spektrum der Verteilungen selbst finden dürfen. Kein Individuum sollte sich gedrängt fühlen, sich der sozialen Norm einer Kategorie angleichen zu müssen. Spätestens hier löst sich die scheinbare Binarität der Geschlechter in eine Illusion auf. Individuen sollten nicht auf ihre Gameten reduziert werden, die evolutionsbiologische und entwicklungsbiologische Realität ist viel komplexer."

Noch einmal zum klareren Verständnis: Da Tautz die Tatsache der biologischen Binarität der Geschlechter ausführlich dargelegt hat, meint er mit der "scheinbaren Binarität" offenbar die Binarität der Geschlechtsidentität. Ihm zufolge fühlen sich Menschen durch eine soziale Norm gedrängt, sich einer Geschlechtskategorie anzugleichen. Der Hinweis auf die Gameten macht deutlich, dass es nicht nur darum geht, Rollenklischees und Geschlechtsstereotype aufzugeben, sondern den Bezug auf die biologischen Geschlechter überhaupt und letztlich damit die Kategorien weiblich und männlich.

Übernimmt Tautz hier die Vorstellungen aus den Gender und Queer Studies von einer "heteronormativen Zweigeschlechtlichkeit"? Diese gehen davon aus, dass Geschlechtskategorien gewissermaßen erfunden wurden, um eine heterosexuelle Matrix in der Gesellschaft zu etablieren: Eine "heterosexuelle Zwangsmatrix", in der erst die Kategorisierung es den heterosexuellen Männern möglich macht, Frauen und Homosexuelle zu unterdrücken. (Siehe Judith Butler, 1991: Das Unbehagen der Geschlechter) Dass die Kategorien sich deshalb auflösen würden (Tautz) – oder aufgelöst werden sollten – ist aber keine logische Schlussfolgerung, sondern beruft sich auf umstrittene geisteswissenschaftliche Interpretationen und Spekulationen.

Tautz und den Anhängern der Gender und Queer Studies lässt sich entgegenhalten: Der Mensch ist nicht von selbst auf die Idee gekommen, die Menschheit nach Geschlechtern zu unterscheiden – und schwups, waren die Geschlechter in der Welt, so wie es dem Manne gefällt. Diese Vorstellung ist schon in sich nicht schlüssig. Außerdem ist die Einrichtung dieser biologischen Kategorien das Ergebnis einer immer wieder bestätigten Erkenntnis: Zur geschlechtlichen Reproduktion müssen sich geschlechtlich unterschiedliche Individuen zusammenfinden. Aus biologischer Sicht reduziert die Tatsache des weiblichen und männlichen Geschlechts niemanden auf die Gameten. Die Biologie beinhaltet keine Forderungen und kann keine Erwartungen festlegen. Sie ist nicht sexistisch, patriarchalisch, sie wertet nicht. Sie schreibt auch nichts vor – aber sie gibt manches vor. Bei der geschlechtlichen Fortpflanzung ist der Sex zweier verschiedener biologischer Geschlechter die Norm, denn Sex zwischen Homosexuellen ist natürlich und natürlich normal – kann aber eben nicht zu Nachwuchs führen.

Und was ist mit der Geschlechtsidentität? Für sie spricht, dass sich fast alle Menschen tatsächlich irgendwie als Mann oder Frau fühlen: Fast 100 Prozent aller Menschen wissen ganz genau, dass sie Mann oder Frau sind, sie stehen nicht irgendwo auf einem "kontinuierlichen Spektrum", sondern gehören biologisch einem Geschlecht an und identifizieren sich auch damit. Selbst Transmenschen bestehen in der Regel darauf, Mann oder Frau zu sein.

Die Geschlechtsidentität dürfte zum Teil tatsächlich im Austausch mit der Umwelt entwickelt werden. Es ist aber nahezu undenkbar, dass sich nicht auch geschlechtsspezifische Verhaltenstendenzen entwickelt haben – weil die Geschlechter versuchen, mit unterschiedlichen Fortpflanzungsstrategien ihren Reproduktionserfolg zu maximieren. Verhaltensbiologen und Evolutionspsychologen beobachten solche Verhaltensweisen bei Menschen genau wie bei anderen Tieren. Dass die geschlechtliche Fortpflanzung dem Verhalten von Tieren aufgrund der Evolution ihren deutlichen Stempel aufprägt, leugnen auch Geisteswissenschaftler kaum. Die Vorstellung, dass das beim Menschen, nur weil die Kultur noch hinzukommt, nicht der Fall sein sollte, ist geradezu grotesk.

Anstatt solche Erkenntnisse aus seinem eigenen Fach zu berücksichtigen, folgt Tautz den Spekulationen der Gender und Queer Studies, die aus der Existenz von Homosexualität und der kleinen Gruppe nonbinärer Menschen die Nicht-Existenz einer originär weiblichen und männlichen Identität künstlich ableiten und zugleich fordern, die Unterscheidung aufzugeben. So fragt er am Ende: "Wann werden wir anfangen, statt in Kategorien in kontinuierlichen Verteilungen zu denken?"

Das ist in vielen Fällen eine gute Idee. Andererseits helfen uns Kategorien doch zu häufig, uns in dieser Welt vernünftig zu orientieren, als das wir Kategorien kategorisch ablehnen sollten. Und wenn es zwei Gruppen gibt, die sich so klar unterscheiden lassen wie biologische Frauen und Männer, die sich zudem fast immer auch selbst als Frauen und Männer identifizieren, warum sollten ausgerechnet diese Kategorien aufgegeben werden? Für die gesellschaftlichen Probleme wie die Diskriminierung von Minderheiten, die Tautz so wohl bewältigen will, muss es andere Lösungen geben als biologische Fakten zu vernebeln.

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