MASTERSHAUSEN. (hpd) Manche Aussagen stehen so sehr „unter aller Kritik“, dass man sich schämt, dazu Stellung zu beziehen. Die Debatte um die Rede des Bundespräsidenten hat jedoch derartig absurde Formen angenommen, dass es unklug wäre, weiterhin zu schweigen. Ein Kommentar von Michael Schmidt-Salomon.
Christian Wulff hat es zweifellos gut gemeint: Er wollte sich am „Tag der Deutschen Einheit“ als „Präsident aller Deutschen“ erweisen. Leider aber verfehlte er dieses Ziel in einem Ausmaß, das erschreckend ist. Es begann damit, dass Wulff in seiner Rede zwar von Juden, Christen und Muslimen sprach, jedoch die zahlenmäßig größte Bevölkerungsgruppe in Deutschland, die Konfessionsfreien, übersah. Man fragt sich: Hat noch niemand den Herrn Bundespräsidenten darüber aufgeklärt, dass die Kirchenmitgliedschaft in Deutschland auf einen historischen Tiefststand gesunken ist? Dass nur noch 29,7 bzw. 29,6 Prozent der Bevölkerung der Katholischen bzw. Evangelischen Kirche angehören, jedoch die Gruppe der Konfessionsfreien auf 34,6 Prozent angewachsen ist? Weiß das Bundespräsidialamt wirklich nicht, dass es in Deutschland mehr konfessionsfreie Menschen gibt als Katholiken oder Protestanten? Wo also blieben die konfessionsfreien Menschen in der Rede des Bundespräsidenten? 28 Millionen Menschen, mehr als ein Drittel der Bevölkerung, sind doch keine Peanuts, die man so einfach übersehen könnte!
Aber auch in anderer Hinsicht zielte Wulff kolossal an der Realität vorbei. So ging er stillschweigend davon aus, dass die in Deutschland lebenden „Juden“, „Christen“ und „Muslime“ sich mehrheitlich auch als solche religiös definieren würden. Nichts aber könnte verkehrter sein! Denn was bedeuten die Label „Jude“, Christ“, „Muslim“ tatsächlich? In der Regel nicht mehr als das: „Jude“ ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde, „Christ“, wer als unmündiger Säugling in eine Konfession hineingetauft wurde, „Muslim“, wer von einem muslimischen Vater abstammt. Dies sagt nichts darüber aus, was die so etikettierten Menschen wirklich denken. Die religiöse Etikettierung verzerrt die Realität vielmehr in dramatischer Weise: Schließlich wissen wir, dass die Mehrheit der Juden (weltweit wie auch in Deutschland) säkular ist, also: ungläubig im Sinne der jüdischen Religion. Das Gleiche gilt für die Mehrheit der in Deutschland lebenden Kirchenmitglieder. (Fragt man das Glaubensbekenntnis ab, so stellt man fest, dass weniger als 20 Prozent (!) der Kirchenmitglieder die fundamentalen Überzeugungen des christlichen Glaubens teilen. Die „Entchristlichung“ ist in unserer Gesellschaft also bereits viel weiter vorangeschritten als die „Entkirchlichung“). Selbst bei den Muslimen kommt man in Sachen Glaubensfestigkeit zu überraschenden Ergebnissen: Etwa die Hälfte der in Deutschland lebenden Muslime ist faktisch nichtgläubig und müsste eigentlich zur Gruppe der Konfessionsfreien hinzugezählt werden, die somit auf einen Bevölkerungsanteil von über 36 Prozent käme.
Deutschland ist ein säkularer Staat
Worüber sich die Kommentatoren der Bundespräsidentenrede am meisten ereiferten, war Wulffs Aussage, der Islam gehöre zu Deutschland. Auch das war zweifellos gut gemeint. Wulff wollte die Muslime nicht als Bürger 2. Klasse verstanden wissen. Tragischer Weise unterschied er aber nicht zwischen den real existierenden Muslimen und „dem Islam“ (was immer „der Islam“ auch sein soll). Offensichtlich hat der Bundespräsident noch niemals einen Gedanken daran verschwendet, was die Aussage „Der Islam gehört zu Deutschland“ für all die „Muslime“ bedeutet, die aus islamischen Ländern geflohen sind, um hier in einer offenen, d.h. religiös nicht gemaßregelten Gesellschaft zu leben. Werden sie sich nach Wulffs Ansprache wirklich heimischer in Deutschland fühlen? Ganz bestimmt nicht! Ebenso wenig werden sie sich darüber freuen, dass einige scheuklappenblinde SPD- und Grünen-Politiker die Wulffsche Vorlage dazu nutzten, um für islamische Gruppierungen die gleichen absurden Privilegien zu fordern, die eine vernünftige Politik den Kirchen längst schon (!) entzogen hätte.
Denn Deutschland ist ein säkularer Staat. Die Werte, die diesen Staat konstituieren, entstammen weder dem Judentum, noch dem Christentum, noch dem Islam, sondern der reichen Tradition von Humanismus und Aufklärung, die Christian Wulff in seiner Rede peinlicherweise übersehen hat. Vergessen wir nicht, dass die Demokratie im antiken Griechenland erfunden wurde und nach der Machtübernahme des Christentums für ein Jahrtausend von der politischen Bühne verschwand. Vergessen wir auch nicht, dass die Werke der modernen Demokratietheoretiker, etwa die Schriften Rousseaus zur Volkssouveränität oder Montesquieus zur Gewaltenteilung, bald nach ihrem Erscheinen auf dem Index der verbotenen Schriften der katholischen Kirche landeten.
Angesichts der katastrophalen Unbildung, die in der Politikerkaste offensichtlich vorherrscht, muss man hier zudem noch auf die triviale Tatsache hinweisen, dass auch die Idee der Menschenrechte nicht auf religiösem Fundament, sondern im Zuge der Amerikanischen und Französischen Revolution entstand und dabei maßgeblich von dezidierten Freigeistern wie Thomas Paine und Thomas Jefferson geprägt wurde. Von Seiten der religiösen Führer Europas gab es in dieser Hinsicht keinerlei Unterstützung. Im Gegenteil: Bis ins 20. Jahrhundert hinein taten sie sich insbesondere dadurch hervor, dass sie die Menschenrechte als „gotteslästerliche Anmaßung des Menschen“ verunglimpften.
Gleich welchen Aspekt des modernen Rechtsstaats wir auch fokussieren, ob die Freiheit der Meinungsäußerung, die Frage der sexuellen Selbstbestimmung oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau: Die Religionen waren summa summarum keine Motoren, sondern Bremsklötze des kulturellen Fortschritts – und sie sind es bis zum heutigen Tage geblieben! Das heißt nicht, dass Juden, Christen und Muslime nichts zum Erfolg der Aufklärung beigetragen hätten. Nur: Wie gläubig waren jene, die in vorderster Front im Dienst der Aufklärung standen? Waren Spinoza, Marx, Freud oder Einstein fromme Juden? War Immanuel Kant, der in frommen Ritualen bloß „Religionswahn und Afterdienst Gottes“ sah, ein wirklicher Christ? War der große persische Gelehrte Al-Razi, der den Koran als „befremdendes Gemenge von absurden und unzusammenhängenden Fabeln“ bezeichnete, ein gläubiger Muslim? Mitnichten! Die Mär von der angeblich bis heute positiv prägenden Kraft der Religionen bricht wie ein Kartenhaus in sich zusammen, wenn man sich die Mühe macht, etwas genauer hinzuschauen.
Bürger wollen die offene Gesellschaft
Wer heute noch die Rede vom „christlichen Abendland“ strapaziert, oder wie Wulff vom „jüdisch-christlichen Abendland“ spricht (was ideologisch übertüncht, dass Christen über Jahrhunderte hinweg nichts Besseres zu tun wussten, als die vermeintlichen „jüdischen Gottesmörder“ zu lynchen), beweist damit nur eines: seinen akuten Bildungsnotstand. Zugegeben: „Christlich“ war das Abendland tatsächlich einmal – in der Zeit der Kreuzzüge, der Hexen- und Ketzerverfolgungen, zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, ja, selbst noch zur Zeit des Nationalsozialismus, als Bischöfe beider Konfessionen „ewige Treue zu Gott und dem Führer“ von den Kanzeln predigten. Doch diese Zeiten des „christlichen Abendlandes“ sind schon lange vorbei – und das ist auch gut so!
Denn für die Entwicklung des modernen Rechtsstaates war nicht der Einfluss des Christentums entscheidend, sondern vielmehr die Befreiung von ihm. Es war ein kluger Schachzug der Aufklärungsbewegung, den Herrschaftsbereich des Glaubens mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zu verbannen und Religion zur Privatsache zu erklären. Hinter diesen Stand der kulturellen Entwicklung dürfen wir heute keineswegs zurückfallen. Vielmehr gilt es, die unvollendete Trennung von Religion und Politik weiter ausbauen. Die meisten Bürgerinnen und Bürger in Deutschland haben dies längst begriffen (weshalb sie sich mit guten Gründen gegen den politischen Islam wehren – und nicht gegen Muslime!). Leider haben die meisten Politiker die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Sie verhalten sich tatsächlich so, als sei Deutschland „keine zivile, säkulare Republik freier Bürger, sondern die Summe seiner Religionsgemeinschaften, eine Art multikulturelle Glaubenskongregation, ein einziger fortwährender Kirchentag unter dem gemeinsamen Vorsitz von Margot Käßmann, Kardinal Meissner, Charlotte Knobloch und dem Zentralrat der Muslime“ (so Henryk M. Broder und Reinhard Mohr in ihrem lesenswerten „Offenen Brief an den Bundespräsidenten“).
Von Christian Wulff, der dem prämodernen Kreationistenclub von „ProChrist“ nahesteht, darf man wohl nicht mehr erwarten. Aber kann es denn wirklich sein, dass die deutsche Politik fast ausschließlich von Leuten bestimmt wird, die ideologisch so verblendet oder wissenschaftlich-philosophisch so ungebildet sind, dass sie einfachste historisch-politische Zusammenhänge nicht begreifen? Will denn tatsächlich niemand einsehen, dass die meisten Bürgerinnen und Bürger heute jede Form religiöser Bevormundung ablehnen? Ist es so schwer zu verstehen, dass die Mehrheit der Deutschen weder in einer christlichen noch in einer islamischen, sondern in einer offenen Gesellschaft leben möchte?! Darf man in diesem Zusammenhang, wenn schon keine Einsicht vorhanden ist, nicht wenigstens ein bisschen Bauernschläue von unseren politischen Vertretern erwarten? Oder glauben sie allen Ernstes, dass eine mehrheitlich säkular denkende Wählerschaft es auf Dauer tolerieren wird, dass die Politik archaische Kulte hofiert und öffentliche Steuergelder in Milliardenhöhe für innerreligiöse Angelegenheiten verschleudert?
Die unsägliche Rede des Bundespräsidenten zum Tag der Deutschen Einheit sollte, wie ich meine, von säkular denkenden Menschen als Weckruf verstanden werden: Wir dürfen es nicht länger hinnehmen, dass Politik über unsere Köpfe hinweg gemacht wird. Sorgen wir also dafür, dass Politiker an die Macht kommen, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen sind! Dass die momentane Führungsriege der politischen Parteien dazu nicht in der Lage ist, hat die an Niveaulosigkeit kaum zu überbietende Debatte um die Bundespräsidentenrede in aller Deutlichkeit gezeigt.