(hpd) Der US-amerikanische Historiker Norman M. Naimark legt eine Abhandlung zu den Verbrechen des sowjetischen Diktators vor, welche er als Ausdruck eines Völkermordes einschätzt. Weitet man das Verständnis von „Genozid“ auch auf politische und soziale Gruppen aus überzeugt dies, für die zur Einordnung allerdings nötigen Belege für eine gezielte Absicht eines Massenmordes mangelt es in einigen Fällen aber an historischen Quellen.
Unter den Bezeichnungen „Genozid“ und „Völkermord“ versteht man allgemein beabsichtigte und durchgeführte gezielte Morde an Menschen, die angeblich oder tatsächlich einer bestimmten ethnischen Gruppe angehören. Doch welche Kategorie oder Zuordnung muss man wählen, wenn die Opfer sich über politische oder soziale Merkmale identifizieren lassen? Kann auch von einem Genozid oder Völkermord gesprochen werden, wenn die Todesopfer durch indirekte Folgen oder unterlassene Hilfeleistung ums Leben kamen? Derartige Fragen stellen sich bezüglich der Millionen von Opern, die auf das moralische und politische Schuldkonto der stalinistischen Diktatur in der Sowjetunion gehen. Ihnen will sich der an der Universität Stanford, Kalifornien lehrende Historiker Norman M. Naimark widmen. Sein Buch mit dem schlichten Titel „Stalin und der Genozid“ leitet er mit der Ankündigung ein, es solle damit begründet werden, „weshalb Stalins Massenmorde in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts als ‚Genozid’ klassifiziert werden sollten“ (S. 9).
Zunächst geht der Autor darin auf die Diskussion um das Genozid-Verständnis ein, habe man doch bei der seinerzeitigen völkerrechtlichen Festlegung aus politischer Rücksicht auf die Sowjetunion auf ein auch auf politische und soziale Opfergruppen bezogenes weites Verständnis verzichtet. Danach schildert er den biographisch-politischen Weg Stalins zu einem Völkermörder, der durch einen multikausalen Ansatz mit Verweis auf ideologische, kulturelle, persönliche und politische Faktoren erklärt wird. Die bislang publizierten Forschungsergebnisse bewiesen eindeutig, „dass Stalin für die Massenmorde in der damaligen Zeit voll verantwortlich und bis ins einzelne über alle wichtigen Aktionen informiert war“ (S. 37). Dem folgend widmet sich Naimark jeweils gesondert einzelnen Verbrechen und erörtert dabei die Problematik ihrer Einschätzung als Genozid. Dabei geht es um die „Entkulakisierung“ der Bauern, den „Holodomor“ in der Ukraine, den „Angriff auf die Völker“ der verschiedenen Nationalitäten und den „Großen Terror“ der 1930er Jahre.
Bilanzierend heißt es dazu, „dass Stalin bei jeder Planung der Massenmorde die entscheidende Figur war und dass Genozid die angemessene Bezeichnung für dies Verbrechen ist“ (S. 134). Naimark begründet diese Einschätzung mit einem weiten Verständnis von „Genozid“, das eben auch politische und soziale Opfergruppen mit in die Definition aufnimmt. So heißt es etwa zur Einschätzung der „Entkulakisierung“ als Bewertung: „Dies kann als besondere Art von Genozid angesehen werden, als Mord an einer identifizierbaren Gruppe sozial ‚Andersartiger’, die nicht in Stalins künftige sowjetische sozialistische Gesellschaft passten“ (S. 137). Ganz am Ende geht der Autor dann auch noch auf die schwierige Frage nach einer Vergleichbarkeit von Hitlers und Stalins Verbrechen ein. Hierzu heißt es, dass der Massenmord an den Juden als allerschlimmster Fall von Genozid angesehen werden müsse. Trotzdem gebe es zu viele Übereinstimmungen zwischen Hitler und Stalin, als dass sie bezüglich ihrer Verbrechen ignoriert werden könnten.
Naimark geht auf Basis des neuesten Forschungsstandes kurz, aber prägnant auf die jeweiligen historischen Ereignisse im Kontext seiner Fragestellungen ein. Damit trägt er dazu bei, den geschilderten Ereignissen den ihnen gebührenden „Platz in der Geschichte des Genozids einzuräumen“ (S. 10) – zumal die Erinnerung daran nicht nur in Russland, sondern auch im Westen zu verblassen droht. Gleichwohl richtet er seine Darstellung all zu sehr nach seiner Ausgangsthese, wonach es sich bei den Ereignissen um Genozide handele. Weitet man das Verständnis auch auf politische oder soziale Gruppen aus oder spricht von einem „Polizid“ oder einem „Soziozid“, überzeugt dies durchaus. Bezüglich eines anderen Aspektes, nämlich der Frage, ob die Taten „absichtlich verübt wurden“, besteht aber offenbar keine Klarheit und es muss auf den fehlenden „Zugang zu russischen Archiven“ (S. 132) verwiesen werden. Dann ist aber Naimarks Kernaussage in dieser Pauschalität nicht haltbar, und es müsste hinsichtlich der Einschätzung der Ereignisse stärker differenziert werden.
Armin Pfahl-Traughber
Norman M. Naimark, Stalin und der Genozid. Aus dem Amerikanischen von Kurt Baudisch, Berlin 2010 (Suhrkamp-Verlag), 157 S., 16,90 €