Deutschland Deine Kinder (1)

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Schatten / Fotos © Evelin Frerk

BERLIN. (hpd) Der „Runde Tisch Heimerziehung“ hat seinen Abschlussbericht vorgelegt. Dazu ist noch einiges zu sagen. Zum einen eine Reflexion von Daniela Gerstner. Zum anderen wird der hpd wöchentlich Erfahrungsberichte von Betroffenen, Aktennotizen und Fachartikel veröffentlichen. Der erste Text ist der Erfahrungsbericht des Heimkindes Roswitha, Jahrgang 1944.

 

 

Kinderrechte & Menschenbilder in Deutschland - Eine Reflexion

Am 13.12.2010 stellte der vom Deutschen Bundestag einberufene „Runde Tisch Heimerziehung“ nach zweijähriger Arbeit die Ergebnisse seiner Tagungen vor.

Zuvor hatte der Petitionsausschuss im Deutschen Bundestag mehr als zwei Jahre lang über mehrere Petitionen getagt, die schließlich zu einer Sammelpetition zusammengefasst wurden, mit dem Ergebnis, den Beschluss zu formulieren, dass der oben genannte „Runde Tisch (westliche) Heimerziehung der 50er und 60er Jahre“ einberufen werden sollte. Formal hätte er dies als staatliche Aufgabe ablehnen können, denn 1961 war die Rechtsgrundlage geschaffen worden, die Heime durch die Landesjugendämter kontrollieren zu lassen. Somit war die Heimaufsicht in Westdeutschland Ländersache.

Doch die Landesjugendämter nahmen ihre Fachaufsicht gegenüber den Heimen der jungen Demokratie der Bundesrepublik Deutschland damals nur ungenügend war (80% befanden sich in kirchlicher Trägerschaft). In den 1960er Jahren wehrten sich vor allem die damaligen Träger konfessioneller Heimerziehung (1949-1975 lebten ca. 500.000 bis 600.00 Minderjährige in kirchlichen Heimen) (1) gegen die Kontrollen durch die Landesjugendämter und benannten diese als unzumutbare staatliche Einmischung in die christliche Erziehungsautonomie.

Die Einberufung eines Runden Tisches konnte also nach jahrelangen Kämpfen der ehemaligen Heimkinder als ein Eingeständnis der mangelhaften staatlichen Fürsorge interpretiert werden. Bemerkenswert war und ist bis heute, dass die Bundeskanzlerin sich nicht dazu geäußert hat. Die damalige Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen schrieb gleich nach der Begründung des Runden Tisches einen Brief, die Bundesregierung wünsche nicht, dass über finanzielle Entschädigungen diskutiert würde. (2)

An der Vorgehensweise, einen Runden Tisch einzuberufen, an dem neunzehn hochrangige Vertreter der Träger, Verbände, des Bundes, der Länder, der Kirchen und Wissenschaftler, in Anzahl und Machtposition deutlich überlegen, drei Opfer (stellvertretend für 800.000 Betroffene) umringten, zeigte sich bereits die Absicht, Frieden zu schließen mit den Tätern und die Opfer zur Resignation zu „ermutigen“. Vertreter der Industrie fehlten am Runden Tisch, sollten erst gar nicht zur Rechenschaft gezogen werden, obwohl namhafte deutsche Firmen von der Zwangsarbeit der Kinder- und Jugendlichen profitiert hatten. (3)

Den drei von Vertretern des Runden Tisches ausgewählten komplex traumatisierten SprecherInnen der Heimerziehungs-Betroffenen, wurde weder die Begleitung durch eigene Rechtsanwälte zur Unterstützung ihrer Anliegen zu den Sitzungen zugestanden, noch die Teilnahme des Sachverständigen Prof. Dr. Manfred Kappeler, dessen Forschungsschwerpunkt die Heimerziehung war und der sich seit Jahren für die Rechte der Geschädigten einsetzt (er war von 1989–2005 Professor für Sozialpädagogik an der TU-Berlin). Prof. Dr. Kappeler konnte daher notgedrungen die Anliegen der Betroffenen nur im Hintergrund unterstützen, indem er eine Berliner Selbsthilfegruppe betreute, mehrere qualifizierte Stellungnahmen zu den Zwischenberichten des RTH verfasste und einen Workshop einberief, bei dem es u. a. darum ging, wie die Akten der Heimerziehung gesichert werden konnten und welche Ansprechpartner sich in den Behörden dafür verantwortlich erklärten. (4)

Auch andere Selbsthilfegruppen wie z.B. der VEH e.V. (Verein ehemaliger Heimkinder), der von der Giordano Bruno Stiftung unterstützt wurde und die „Gegen-Presse-Konferenz“ organisiert hatte, die gleich nach der Abschluss-Konferenz des Runden Tisches am 13.12.2010 stattfand, um der Presse eine erweiterte Perspektive und Hintergrundinformationen mitzuteilen, konnten aufgrund dieser Bedingungen nur „durch das Nadelöhr“ der drei SprecherInnen (die drei Abwesenheitsvertreterinnen ohne eigenes Stimmrecht hatten) auf die Verhandlungen einwirken. Dies führte unweigerlich zu einer Überforderung für die SprecherInnen, denn die Erwartungen und die in sie gesetzten Hoffnungen waren hoch, während es von Beginn an das Interesse der „institutionellen Eltern“ „Vater Staat“ und „Mutter Kirche“ war, die eigene Rechenschafts- und Entschädigungspflicht möglichst gering zu halten.

In diesen vom Petitionsausschuss und schließlich vom Runden Tisch vorgegebenen Bedingungen wiederholten sich den Betroffenen schmerzhaft bekannte Machtstrukturen. Traumatisierte Betroffene wurden gegenüber Vertretern der Institutionen in die unterbürdige Rolle gebracht, ihre Rechte ohne Beistand gegenüber den Täterorganisationen zu erstreiten.

Die Leiterin des Runden Tisches und Theologin Antje Vollmer und die Vorstände der Träger und Kirchen setzten sich selbst in das Recht, die Definitionsmacht über die Betroffenen innezuhaben. Die Selbstbeschreibung in einem Interview vom 13.12.2010 mit Antje Vollmer (es war kurze Zeit online auf der Website der ARD), klang allerdings nach einer Umkehr der Verhältnisse: „Der Runde Tisch ist von sich aus ganz ohnmächtig, er kann nur Lösungen vorbereiten. Wenn ich Ihnen sage, welche Zahlen am Anfang da waren, dann haben wir enorm viel erreicht.“ Dabei verschwieg sie, dass diese vermeintliche „Ohnmacht“ eine bewusste Inszenierung war, denn Staat und Kirchen brachten darin ihr Loyalitätsbündnis zum Ausdruck und entzogen sich der Überprüfung ihrer Vergangenheitsschuld durch eine neutrale Institution. (5)

„Mutter Kirche-Vater Staat“, so lautet der Titel einer in diesem Jahr erschienen wissenschaftlichen Untersuchung über die Geschichte, Praxis und Debatten der konfessionellen Heimerziehung. Traugott Jähnichen beschreibt in dem Kapitel „Von der „Zucht“ zur „Selbstverwirklichung“? - „Ordnung und Zucht“ als Leitmotive der 1950er Jahre:

„Nach der Katastrophe der Dezivilisierung durch den Nationalsozialismus besann man sich mehrheitlich zur Stabilisierung der Lebens- und Wertemuster in den fünfziger Jahren auf die traditionalen Pflicht- und Gehorsamstugenden […]. In diesem Sinn sah man es in der Erziehung als vorrangiges Ziel an, Kinder und Jugendliche durch Erziehung zum Gehorsam gegenüber Autoritäten zu disziplinieren. Die kaum zu übersehende Nähe dieses Erziehungsstils zur Zeit des Nationalsozialismus versuchte man dadurch zu rechfertigen, dass es nun darum gehen sollte, im Gegensatz zur Diskreditierung des Gehorsams in der NS-Zeit den „echten“ bzw. „eigentlichen“ Gehorsam wiederherzustellen. Die Einprägung des Gehorsams gegenüber Autoritäten, ein geradezu monotoner Verweis auf „Ordnung und Zucht“ der Lebensführung sowie eine konstitutiv durch die Notwendigkeit des Strafens bestimmte Pädagogik sind die wesentlichen Merkmale dieser Haltung, wie sie auch theologisch legitimiert und z.T verstärkt worden ist.“(S. 132-133)