Deutschland Deine Kinder (Teil 2)

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Schatten / Fotos © Evelin Frerk

(hpd) Kinderrechte und Menschenbilder. Im Jahr 2010 breitete sich die öffentliche Debatte um Kriminalität in der Heimerziehung der Nachkriegszeit aus auf Straftaten an männlichen Kindern der Mittelschicht, deren Eltern sich bei deren Einschulung sicher waren, ihrem Nachwuchs beste Karrierechancen zu ermöglichen, indem sie sie auf katholische Eliteschulen schickten. (1)

Doch die Eltern der Jungen, die Opfer sexualisierter Gewalt durch Kleriker wurden, gaben ihre Kinder preis, als sie sie den Händen der Männerhierarchie der römisch-katholischen Kirche anvertrauten. Zwar gelang vielen Betroffenen eine gesellschaftlich anerkannte Karrierelaufbahn, jedoch war der Tribut, zu den „Kultivierten und Erwählten“ (2) zu gehören, sich einem sadistischen Schweigekartell zu unterwerfen. (Im Anhang zwei persönliche Erfahrungsberichte von ehemaligen Schülern des Aloisius-Kollegs in Bonn-Bad Godesberg.)

Längst ist offenkundig geworden, dass es sich keineswegs, wie von Kirchentreuen immer wieder suggeriert, um tragische Einzelfälle gehandelt hatte, sondern um systematische Straftaten an Kindern. (3)

Mitten im Prozess der Aufarbeitung und den Hilferufen der Betroffenen rief die amtierende Bundeskanzlerin Angela Merkel im Oktober 2010 zu vermehrter christlicher Missionstätigkeit auf. (4) Sie bestärkte mit dieser Handlung die Position der Amtskirche und schwächte (ob bewusst oder unbewusst) die Perspektive und Forderung der Opfer von Kirchenkriminalität nach Aufklärung, Rechenschaft und Prüfung, ob das christliche Menschenbild für eine menschenwürdigen Erziehung von Kindern überhaupt geeignet ist. (5) In den östlichen Bundesländern etablieren sich inzwischen christliche Institutionen zunehmend in den Branchen Gesundheit und Soziales und nutzen diesen staatlichen Versorgungsauftrag gleichzeitig, um die Bevölkerung - ungefragt und möglicherweise ungebeten - zu missionieren. (6) Parallel dazu wehren sich im Westen Menschen, die als hilflose Säuglinge per ritualisierter Wassertaufe in den Kirchenstaat assimiliert werden sollten, wenden sich als erwachsene Bürger von der Amtskirche ab und kündigen ihre Mitgliedschaft.

Während nach dem zweiten Weltkrieg ca. 800.000 westdeutsche Kinder und Jugendliche (häufig Kinder alleinerziehender, nicht verheirateter Mütter) als Ausgestoßene der Gesellschaft - christlich begründet als „Kinder der Sünde“ diffamiert - in der Heimerziehung unter elenden Bedingungen leben mussten und von Bildung ausgegrenzt wurden (7), entstand für die Kinder der westlichen Mittelschicht ein neues Bildungssystem in Form von Elite-Schulen und Klosterinternaten für Jungen. Für Mädchen sollte nach der Wiederaufbauleistung durch die so genannten „Trümmerfrauen“ die christliche Idee der Einengung von Frauen (im katholischen Sprachgebrauch „Ideal“ genannt) auf die alleinige Rolle der Hausfrau und Mutter durchgesetzt werden. Frauen sollten, so das Bestreben christlich-konservativer Politiker, wieder aus dem Erwerbsleben verdrängt werden. (8)

In der Dissertation von Christian Schmidtmann „Katholische Studierende 1945-1973“ wird diese Entwicklung beschrieben:
"Wenn es eine Institution in Deutschland gab, die im Mai 1945 nicht 'verlor', sondern 'gewann', dann war das die katholische Kirche. Ihre Rolle nach dem Zusammenbruch wird jedenfalls in der Forschung als 'Siegerin in Trümmern' akzentuiert. In ihrer Sichtweise als 'Repräsentantin der geistigen Gegenmacht zum Nationalsozialismus' fühlten sich die Bischöfe als 'bestätigt und legitimiert, auf der Grundlage des Christentums eine neue Ordnung in Staat und Gesellschaft aufzubauen'. Diese 'Hochstimmung in der Kirche' fand ihren Halt in einem scheinbar weitverbreiteten 'kirchlichen Hochgefühl' der Nachkriegszeit, für die Zeitgenossen sichtbar in überfüllten Kirchen, machtvollen Prozessionen und anfänglicher Hochschätzung kirchlicher Instanzen bei den Besatzungsmächten. Neuere Forschungen haben freilich die Haltlosigkeit der Erwartung einer durchgreifenden Rechristianisierung der Gesellschaft unter Führung der Kirche gezeigt, und auch das vermeintliche religiöse Revival der Nachkriegsjahre empirisch differenziert. Auf statistischer Grundlage wurde die Nachkriegsbeteiligung am kirchlichen Leben höchstens als Reaktivierung alter Bindungen interpretiert, im Vergleich zur Weimarer Republik sogar eine Abnahme der Kirchenbindung konstatiert. (9)

Die Reorientierung an der christlichen Religion in den Jahren der Nachkriegszeit kann als verzweifelte Suche einer tief in eigene Täterschaft verstrickten, kriegstraumatisierten Gesellschaft nach Stabilisierung und Halt verstanden werden.

1955 wurde das Cusanuswerk gegründet, eine katholische Begabtenförderung, die seit 1956 staatlich umfangreich bezuschusst wurde. Dort wurden ausschließlich männliche Studierende zugelassen, „die sich durch eine hervorragend intellektuelle und gesamtmenschliche Begabung, durch hohe charakterliche und männliche Qualität, sowie durch klare religiöse und kirchliche Gesittung auszeichnen“. (10) Das erklärte Ziel war die Einflussnahme auf Politik und Gesellschaft. Daher wurde ausdrücklich formuliert, dass nicht Rechtsanwälte, Landärzte oder Buchhalter gefördert werden sollten, sondern potentielle Minister, einflussreiche Professoren und Wirtschaftsführer.

Zu dieser so geförderten katholischen Elite gehörten z.B. Dietmar Grimm und Paul Kirchhof (Verfassungsrichter), Hans Tietmeyers (Bundesbankpräsident), Heinz Riesenhuber (Bundesminister), Oskar Lafontaine: Physiker, Politiker. (11)

Im Klappentext von Christian Schmidtmanns im Jahr 2006 veröffentlichten Dissertation steht:
„Man könnte sie die 'Ratzinger Generation' nennen, die katholischen Akademiker, die unmittelbar nach 1945 ein Studium aufnahmen und später Schlüsselpositionen in Kirche und Politik, in Medien, Wirtschaft und Gesellschaft besetzten: Rainer Barzel, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Ernst Elitz, Helmut Kohl oder Josef Ratzinger."

Nachdem die katholische Kirche in Deutschland im Jahr 2010 die sexualisierte Gewalt und religiöse Einschüchterungs-Indoktrination an ihren Klosterschulen nicht mehr leugnen kann und in der Öffentlichkeit bekannt wurde, dass der damalige Kardinal Ratzinger die Befehlsmacht des Geheimschreibens von Kardinal Ottavani von 1962 im Jahr 2001 erneuerte und bestätigte, indem er die „ausschließliche Kompetenz des Vatikans“ für pädosexuelle Straftaten betont und sämtlichen Bischöfen befiehlt, alle Fälle ausschließlich dem Vatikan zu melden und bei Übertretung die Exkommunikation androht, wird die „Ratzinger Generation“ aus einer anderen Perspektive gesehen. (12)

Die enge Verschmelzung zwischen Staat und Kirche und die Besetzung höchster Ämter durch katholisch sozialisierte männliche Führungskräfte erklärt die Zurückhaltung bei den Aufklärungsbestrebungen und bei der Erschließung von Hilfeangeboten. Zu groß ist die Angst vor Ansehensverlust der „Privilegierten“, wenn offenkundig würde, wie gedemütigt und entehrt zahlreiche Führungseliten sich im Inneren fühlen müssen.

In den 1970er Jahren kam es bereits zu großen Kirchenaustrittswellen, da die Bevölkerung sich unzumutbaren sexualfeindlichen Anforderungen der Kirchen widersetzte. In den 1980er Jahren wurde die Problematik der sexualisierten Gewalt durch die Frauenbewegung verstärkt öffentlich thematisiert. Aus dieser Zeit stammt auch der Slogan „Kinder ermutigen Nein zu sagen“. Das Engagement für Menschenrechte von Kindern muss ein fortdauernder Prozess sein. (13) Wie wir heute wissen (könnten), reicht es nicht aus, Kinder im Nein-Sagen-Können zu stärken, denn Kinder wehren und wehrten sich durchaus und auf vielfältige Weise, z. B. indem sie sich wegdrehen, weinen, den Mund fest zusammenpressen, nachts sicherheitshalber so lange wachbleiben, wie es nur geht, zwei Unterhosen tragen, weglaufen, betteln, „dort“ nicht mehr hingehen zu müssen. Die Idee, dass ein Kind sich hätte schützen können, wenn es nur deutlicher Nein gesagt hätte, ignoriert die realen Machtverhältnisse. Täter ignorieren dieses kindliche Nein offensiv, bis es bricht und resigniert. Angehörige und Vertrauenspersonen, so zeigen die Erzählungen von betroffenen Kindern, „halten nicht für möglich“, was „nicht sein darf“ und lehren ihre Kinder, ebenso autoritätshörig und opportunistisch zu sein wie sie selbst. (14)

Es muss also darum gehen, Kinderrechte zu stärken und damit einhergehend die empathische Verantwortung der Bezugspersonen. Diese Blindheit für die potentielle Täterschaft durch Menschen „geweihten Lebens“ (kath. Bezeichnung für Kleriker und Nonnen) (15) ist durch die Definition der Selbst-Heiligsprechung der katholischen Kirche (16) mit ihren Gehorsamkeitsansprüchen den Gläubigen quasi verordnet. Die Kirche stellt sich damit in einen rechtsfreien Raum, da sie sich als „nicht von dieser Welt“ betrachtet und erschwert den Einsatz der Eltern für ihre Kinder. (17) Daher ist eine spezifische Betrachtung der Kriminalität im religiösen Kontext notwendig.

Zu wünschen ist, dass diese durch unethische religiöse und politische Machtinteressen in Ausgestoßene und Eliten dissoziierte Gesellschaft sich solidarisieren kann und die so verschieden sozialisierten Betroffenengruppen miteinander ins Gespräch kommen.

Daniela Gerstner

 

Deutschland Deine Kinder (1) 17.12.2010

Redaktion: Evelin Frerk

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Anmerkungen:

(1) Prof. Dr. Manfred Kappeler: Praxis der Vertuschung.
(2) Vgl: Wulf D.Hund: Rassismus, Bielefeld, 2007
(3) Vgl. z.B.: Zum Gutachten des sexuellen Missbrauchs im Erzbistum München durch die Juristin Marion Westpfahl.
z.B. Untersuchung am Aloisiuskolleg
(4) Bundeskanzlerin Angela Merkel
(5) Vgl. Franz Buggle: Ist christliche Erziehung heute noch verantwortbar? In: Yvonne Boenke: Lieber einen Knick in der Biographie als einen im Rückgrat, Münster, 2010
(6) Vgl. zur Finanzierung der kirchlichen Institutionen aus allgemeinen Steuergeldern: Carsten Frerk: Violettbuch Kirchenfinanzen, Aschaffenburg 2010
(7) Vgl. z.B. Wanderausstellung über das Kinderheim Glückstadt; siehe auch einen weiteren Bericht.
(8) Vgl: Daniela Gerstner: Folgen intensiver katholischer Mädchenerziehung, in: Yvonne Boenke (Hrsg.): Lieber einen Knick in der Biographie, als einen im Rückgrat, Münster, 2010
(9) Christian Schmidtmann: Katholische Studierende 1945-1973. Ein Beitrag zur Kultur- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Paderborn, 2006 (S. 33)
(10) Geschichte des Cusanus Werk.  (S.4,5)
(11) Vgl: Schmidtmann, (S. 177, 178)
(12) Vgl. Uta Ranke-Heinemann: Der Papst weint Krokodilstränen, in: Yvonne Boenke (Hrsg.): Lieber einen Knick in der Biographie, als einen im Rückgrat, Münster, 2010
(13) Vgl. Kinderrechtskonvention
(14) Vgl. Prof. Dr. Kurt Singer über Zivilcourage in der Schule.
(15) Vgl. Predigt von Papst Benedikt
(16) Vgl. Katechismus der Katholischen Kirche.
(17) Vgl. Prof. Dr. Kurt Singer: Elternsprechtag – Wie beim Beichten?

1950

Bei den Frischlingen

Der Missbrauch beginnt in einer kleinen Stadt am Rhein. Der Tatort: eine katholische Kirche, ein Beichtstuhl. Ein Kind wird sehr inquisitorisch über seine Keuschheit befragt. Der finstere Mann in dem unheimlichen Kasten kann nicht genug Details aus ihm herausfragen. Wie oft? Wo? Allein oder mit anderen? Als Buße für seine Sünden, die es nicht versteht, bekommt das Kind drei „Vater unser“ und drei „Gegrüßet seist du Maria” aufgebrummt.

Das Kind bin ich.

Eine wahrlich geniale Erfindung: Der Mann im Kasten, der mir eben die Sünden eingeredet hat, ist auch der, der sie mir daruf gleich wieder vergibt. Und nebenbei ist für ihn und seine Erbauung sogar auch noch etwas abgefallen.

Ob der Papst in seinem Erlass zur Beichte, in dem er „Unkeuschheit vor, in oder nach der Beichte“ besonders verwirft, wohl meinen „Einzelfall“ im Auge hatte?

Von nun an kommt mir alles ziemlich sündig vor. Mädchen, Frauen, mein Körper, Sünde, alles Sünde. Zumal der große Zauberer, der mich samstags im Beichtstuhl so streng einvernommen hat, sonntags im Hochamt einen höchst beeindruckenden Auftritt hinlegt: irrwitzige Festkleidung, blauer Weihrauchsqualm, wichtiges Gebrabbel, mächtiges Orgelbrausen, eine sehr eigene Choreographie mit drei Schritten rechts, drei Schritten links, wieder Gebrabbel, diesmal mit Gefuchtel in der Luft. Selbst meine Eltern gehen auf seinen Befehl hin zu Boden. Vor uns singt eine Frau sehr laut: “Ave Jesu, wahres manhu, genitori genitoque, laus et jubilatio”. Ich bin beeindruckt. Endlich jemand, dem man glauben kann. Und muß.

Wie ich zu meinem “Peiniger SJ” kam …

Mit meinem eigenen kleinen Sündenrucksäckchen bin ich also schon bestens präpariert, als es zur Aufnahmeprüfung am Aloisiuskolleg geht. Am Fuße des heiligen Berges muss sich mein Vater von mir verabschieden: “Geh nur den ganzen Leuten mit ihren Kindern nach, dann kommst du oben richtig an.”

Ich stehe mit meinen neun Jahren etwas verloren in der Menschenmenge vor dem Kolleggebäude. Da kommt ein riesiger Mann in einem schwarzen Rock auf mich zu. Den breiten Gürtel, der sein Gewand hält, hat er fast bis unter die Achseln gezogen. So kommt er mir noch größer und gewaltiger vor. Er lächelt mir auf eine seltsame Art und Weise zu. Trotzdem fühle ich mich unbehaglich. Was ich noch nicht weiß: Ich bin dem Mann begegnet, der mich drei Jahre lang mit seltsamen Wünschen und seltsamen Ritualen in Angst und Schrecken versetzen wird.

Der schwarze Riese leitet auch die Aufnahmeprüfung. Es sitzen so viele Jungen in diesem Klassenraum mit den hölzernen Bänken. Aber warum ist er ständig an einem Platz? Warum legt er beim Diktat seinen Riesenfinger auf die “langstiehlige Schippe”? Warum hilft er mir flüsternd bei der Rechenaufgabe, die ich nicht ganz verstanden habe.

Von wegen – Früherinnerungen gibt es nicht! Ich kann ihn heute noch riechen.

Zwischen 1950 und 1953 bestellt mich der große schwarze Mann in unregelmäßigen Abständen in sein Zimmer. Es liegt irgendwo am Ende eines langen Flures im Kollegsgebäude. Ich muß immer am späten Nachmittag kommen.

Es ist, wie es immer ist: Der große schwarze Mann legt sich auf sein Bett und ich soll im Raum umhergehen. Dabei läßt er mich nicht aus den Augen. In der Ecke steht ein Betstuhl. Auf dem Schreibtisch liegen Klassenarbeitshefte. An der Wand hängt ein Bild des Gekreuzigten. Die Wunden müssen furchtbar weh tun. Nach endlosen Minuten, ich weiß ja, was jetzt kommt, weil es immer kommt, muß ich mich zu ihm auf die Bettkante setzen. Dann fängt er an, mich zu befingern. Ich erstarre zur Salzsäule. Er greift in meine Hose. Hinter mir liegend, tut seine Hand, was sie will. Mein Ekel ist unbeschreiblich.

Die unregelmäßigen Abstände meines Erscheinens in der Klausur erklären sich im Nachhinein sehr einfach: Da er für die Aufnahmeprüfungen zuständig ist, gibt es wohl stets Nachschub nach eigener Wahl. Auch bei den Badeausflügen in die abgelegene Natur („Blauer See“) wird er wohl reichlich Vergleichsmöglichkeiten gehabt haben.

Für den Knaben von damals kaum ein Trost. Als wir in Geschichte den Damokles behandeln und sein Schwert, weiß ich, was über mir hängt.

Meinen Eltern werden diese nachmittäglichen Bestellungen ins Kolleg – ich war externer Schüler – schließlich unheimlich. Eines Abends höre ich, wie meine Mutter meinen Vater fragt, ob er sich denn nun endlich erkundigt habe. Meine Beine werden schwach. Jetzt kommt alles heraus! Alle Sünden, alles. Dann höre ich den Vater beruhigend zur Mutter sagen, sie solle sich keine Sorgen machen, es gehe bloß um seelsorgerische Fürsorge…

Ein anderer Mann in schwarz. Nicht so wie der Riese. Aber jähzornig bis zum äußersten. Wir haben ihn in Religion. Einmal wird die ganze Klasse in das Haus vor den Toren des Kollegs bestellt. Er hat es für seine Jugendarbeit zugewiesen bekommen. Er führt uns in einen Gruppenraum. Wir sollen uns schon einmal setzen, sagt er. Wir lassen uns an den Wänden nieder. Dann ist er verschwunden. Wir sitzen da, eine Schulstunde lang, ratlos. Auf einmal fällt mir auf, daß in der Zimmertür im oberen Feld eine Ecke der Verglasung fehlt. In diesem Loch blinkt das Brillenglas unseres Religionslehrers rhythmisch zu dem, was man nicht sehen kann.

Das Aloisiuskolleg, eine Eliteschule?

Wie wurde man überhaupt Elite? Durch eine brutale und (a)soziale Auslese über mehrere Instanzen: Zunächst verbreitet man (mit wenig Berechtigung) überall das Gerücht, man sei eine Eliteschule. Das schreckt schon einmal die ersten ab! Gut so. Als nächste Stufe kommt die Aufnahmeprüfung, dann folgt ein hemmungsloses Aussieben in den unteren Klassen. Kurz vor dem Prima noch bricht man noch schnell den schwächeren Schülern das Genick, denn am Aloisiuskolleg fällt bekanntlich keiner im Abitur durch.

Was in den oberen Klassen an Schülern am Ende übrig blieb, waren sozusagen Selbstläufer, die eigentlich auch ohne die vielen mittelmäßigen Lehrer hätten auskommen können. Am besten hätte man ihnen einfach ein paar Bücher auf das Pult gelegt.

Mit 16 Jahren hatte ich das Landesbestenzeugnis mit Urkunde und Geldprämie und beschloss, in den Gleitflug zu gehen. An der Universität Bonn hörte ich Vorlesungen bei den Professoren Speiser, Lützeler, von Einem und Bandmann. Im Vergleich mit Freunden von anderen Schulen begriff ich bald, daß wir Akoschüler (außer in Latein) in allem meistens nur Durchschnitt gewesen waren. Und manchmal sogar bloß nur Nieten.

Ich möchte, nachdem ich mich so schmerzhaft an das erinnert habe, was mir bei den Patres widerfahren ist, noch einige andere Gedanken anschließen:

Die goldene Abiturfeier (50 Jahre) schlug die erste Bresche in die Schweigemauer, mit der ich mich umgeben hatte. Während der gedanklichen Auseinandersetzung mit dem Ereignis brach völlig unerwartet über mir alles zusammen, ein richtiger Dammbruch. Aber outen? Nicht vor der Klasse! Ich habe anschließend nur wie beiläufig zu meinen beiden besten Freunde gesagt, ich sei damals missbraucht worden. Ansonsten habe ich lediglich gehörig Dampf abgelassen zu unserem scheinheiligen Aufsatzthema “Die Kultur der Seele ist die Seele der Kultur – interpretieren Sie dieses Wort von Michael Kardinal Faulhaber“. Zur Seele habe ich nichts gesagt, aber einiges zu dem Münchener Kardinal und Hitlerverehrer.

Mit 18 Jahren hatte ich meine erste Freundin. Sie war von einer anderen Schule gekommen. Wir waren insgesamt vier Jahre zusammen und haben auch gemeinsam unser Architekturstudium begonnen. Sexuell war ich der perfekt abgedrehte Jesuit. Sünde! Sünde! Sünde! Wir haben nie zusammen geschlafen. Ich habe immer die Flucht ergriffen und alles von mir weggeschoben. Diese Abwehrmechanismen sitzen leider bis heute.

Ein halbes Jahrhundert nach meinem Missbrauch und nach 46 Jahren Ehe habe ich dann die ganze Geschichte öffentlich gemacht in einem Film, den der WDR hier in Menton gedreht hat. Hier hat meine Frau zum erstenmal von allem erfahren und unter Tränen erkennen müssen, warum die ganze Familie in der zurückliegenden Zeit so unter mir manchmal hatte leiden müssen, aber jetzt verstünde sie wenigstens einiges besser.

Josef Ratzinger war selbst von 1959 bis 1969 des öfteren am Aloisiuskolleg. Er kennt meinen Peiniger persönlich. Als Papst und oberster Aufklärer sollte er endlich die abertausend Missbrauchstaten aus den Akten des Vatikans offenlegen und mutig zu seiner eigenen Schuld an diesen Vorfällen stehen. Noch 2001 verlangt er in seinem “De delictis gravioribus” das Schweigen, anderweitig drohe Ausschluß und Exkommunikation. Dass der Missbrauch dem “pontifikalen Geheimnis” unterliege, ist nur eine Umschreibung für weiteres Lügen und weiteres Vertuschen, eine Haltung, die viele neue Opfer kosten wird.

Hans Küng spricht öffentlich von “Ratzingers Verantwortung” und Eugen Drewermann meint, er denke mit Schaudern an die ungezählten weiteren Missbrauchsfälle in Ländern wie Polen, Spanien, Portugal, Lateinamerika. Ländern also, in denen die katholische Kirche noch die Macht hat, alle Vorfälle mit dem Gesetz des Schweigens zu belegen. Dass man aus diesen Ländern so wenig in dieser Angelegenheit hört, läßt für mich also eher den Schluss zu, dass dort die katholische Omerta noch funktioniert.

Was wir als Missbrauchsopfer zur Zeit in Deutschland erleben, ist immer noch allzu oft die Fortsetzung dieses arroganten Verhaltens der Kirche. Wenn wir nicht vereinzelte Bekenntnisse zu den Schandtaten des Ordens erzwungen hätten, wäre es weiter still in der selbsternannten Hochburg von Ethik und Moral.

In den 1860er Jahren gab es im Preußischen Abgeordnetenhaus schon einmal eine Debatte zu Missbrauchsfällen an katholischen Schulen: Rudolf Virchow, der berühmte Arzt und Naturwissenschaftler, sagte damals, er habe zunächst an Einzelfälle geglaubt, jetzt wisse er, es liege in der Struktur dieser Einrichtungen.

Man kann ihm nur zustimmen. Hat sich bis heute wirklich etwas daran geändert? Die welt- und menschenfremde Leibfeindlichkeit der engen katholischen Lehre erweist sich auch heute noch am gipsweißen Aloisius in der Eingangshalle des Kollegs. Nicht nur ich frage mich, wie man heute noch eine Schule nach einem jungen spanischen Adeligen benennen kann, der mit zehn Jahren das “Gelübde der ewigen Jungfräulichkeit” abgelegt hat.

Wie wenig er übrigens als Schutzpatron der Jugend taugt, habe ich an mir selbst erfahren, als ich als Sextaner an jenen dunklen Nachmittagen ihm vorbeigeschlichen bin auf dem Weg zu meinem jesuitischen Peiniger...

1972

Komm unter meine Dusche

Ich bin in den siebziger Jahren Schüler am Aloisiuskolleg gewesen. Ich bin dort von einem Pater seelisch und körperlich misshandelt worden, weil er offenbar von mir besessen schien und mich unbedingt brechen wollte, um mich zu besitzen.

Ein Satz, der sich nicht so leicht hinschreibt. Aber er stimmt. Drei furchtbare Jahre bin ich von diesem Mann wie von einem enttäuschten Liebhaber gequält und gedemütigt worden. Und was war sein Ziel? Mich unter seine Dusche zu bekommen. Ein Satz, der sich nicht so leicht glauben lässt. Doch auch er stimmt.

Am Ende stand für mich das Ende: Der Verweis von der Schule – und zwar ohne Schulabschluss. Nach diesem Hinauswurf war ich nicht mehr in der Lage, eine andere Schule zu besuchen. Dass ich trotzdem noch meinen Weg ins Leben gefunden habe, ist nicht das Verdienst des Kollegs.

Aber der Reihe nach. Ich stamme aus katholischem Milieu. Die Eltern waren noch vor dem Mauerbau aus der DDR ins Rheinland geflohen, nicht zuletzt wegen der Verfolgung allen christlichen Lebens durch die Kommunisten. Und so fühlte ich mich am Aloisiuskolleg zunächst einmal recht wohl. All die Gebete, die Heiligen Messen, der Religionsunterricht, das schien so ganz meine Welt zu sein. Auch bei der Jugendorganisation, dem ND, dem Bund Neu Deutschland, hatte ich mich gleich als Sextaner angemeldet. Ich war bis zum Ende dabei, hatte wohl kein einziges Ferienlager verpasst, wurde sogar "Jungritter". Und genauso ritterlich fühlte ich mich auch. Meinen Mitschülern gegenüber immer hilfsbereit, mit großen Respekt vor dem anderen Geschlecht.

Mit den Lehrern kam ich gut zurecht. Meine Leistungen waren ordentlich. Nur in Mathematik war ich ein wenig zurück. Ich betete darum, dass es bloß keine Nachhilfe geben würde.

Für diese war nämlich der Internatsleiter zuständig. Ein vielbeschäftigter Mann. Der hatte nun wirklich alle Hände voll zu tun. Nicht nur mit der Pflege des naturwissenschaftlichen Bereichs der Schule, sondern auch mit anderen Dingen. Er war als der große "Nackte-Jungens-Fotograf" bekannt. Als großer "rektaler Fiebermesser". Als großer "Kleine-Jungens-Abduscher".

Als Internatsleiter war er schon damals innerhalb des Kollegs mächtig, brachte er doch die Spendengelder der wohlbetuchten Internatseltern ein. Ein weiteres Hobby war der Park. Sein Park. Hier durften dann die Eltern besonders der Schüler, die in schulische Schwierigkeiten geraten waren, Bäume spenden. Dies half wundersamer Weise auch bei den schlechtesten Schulnoten. Interessanterweise auch in solchen Fächern, mit denen er als Mathematiklehrer gar nichts zu tun hatte.

Beim Anlegen des Parks durften dann auch strafwürdige Schüler zur Hand gehen. Strafwürdig war man, wenn man zum Beispiel über den Gang hastete. Aber auch wenn man bummelte. Also: Hemd aus, Spaten in die Hand, und nachher half dann der Pater persönlich, den ehrlich erworbenen Schweiß wieder abzuduschen.

Außerdem war er damit befasst, sich ständig neue Bestrafungen einfallen zu lassen. Von denen sollte ich bald auch ein paar zu schmecken bekommen.

Aber noch waren wir uns ja noch nicht begegnet, da ich externer Schüler war und er meistens im Internat beschäftigt war. Dort hingen auch die erotischen Jungens-Bildchen, die er tagsüber so schoss, an den Wänden. Er war eigentlich den ganzen Tag von nackten Jungens umgeben, auf Bildern, beim Duschen, beim Fiebermessen und beim Bestrafen. Im Schulpark stand und steht noch heute die Statue mit den zwei vornüber gebeugten nackten Jungen mit kleinen Penissen. Wie bitte, alles ganz harmlos? Wieso stehen dann vor der Godesberger Nonnenschule nicht auch zwei nackte Bronzemädchen mit gespreizten Beinen...

Während der Schulferien nahm er sich vier oder fünf Jungs mit zum Segeln nach Korsika oder zum Saunen nach Finnland. Eigentlich hätte man erwartet, dass ein Pater (Vater!) seine Filii (Söhne!) mit nach Rom oder Lourdes nimmt. Und zwar bekleidet. Musste er im Unterricht nicht gelitten haben wie ein Hund, da dies die einzige Zeit des Tages war, wo er keine nackten Jungs zu sehen bekam! Allerdings wusste er sich auch hier Abhilfe zu verschaffen und so musste der eine oder andere sich in den Pausen bei ihm zu einer Kleideranprobe oder zum Beschnuppern, dem "Gestankstest", einfinden.

Dieser sollte auch mir noch blühen, aber dazu später. Er war auch bekannt dafür, unbotmäßige Jungs nackt in dunkle Räume einzusperren oder in den eiskalten Brunnen steigen zu lassen. Von all dem hatten wir natürlich bereits gehört. Dann mussten das aber doch auch die anderen Lehrer gewusst haben! (Warum taten sie nichts?)

Ich hatte also schon Angst, als ich erfuhr, dass er unser neuer Mathematiklehrer werden sollte.

Vielleicht hatte ich mich deshalb nach den Sommerferien, obwohl ich mich bereits im Übergang in die Pubertät befand, noch einmal so richtig knabenmässig "schulfein" gemacht. Wie zur Empfängnis des Kommunionssakramentes. Mit Seitenscheitel, Kragenhemd und Bügelfalte in der Hose. Ich sah das neue Schuljahr als Chance für einen neuen Start und als Sprungbrett in die Oberstufe und wollte nichts falsch machen. Ich wusste nicht, dass dies der Anfang zu einem zwei Jahre dauernden Martyrium werden sollte.

Den Tag, an dem ich jenem Dämon buchstäblich in die Arme gelaufen bin, vergesse ich nicht. Ausgerechnet vor jener Stunde, als wir das erste Mal bei ihm Unterricht hatten, musste ich noch einmal rasch zur Toilette. Ich war spät dran und drängte zur Tür. Unser neuer Mathematiklehrer war viel zu früh da und kam gerade in die Klasse. Ein erstaunter Blick - mein braver Aufzug muss ihm aber gefallen haben. Jedenfalls fragte er mich unendlich milde und ein wenig kumpelhaft, wohin ich denn hinwolle. Ich sagte ihm, dass ich noch rasch zur Toilette müsste. Und mit lächelnden Augen und einer sehr freundlichen Handbewegung forderte er mich auf, dem doch in aller Ruhe nachzukommen. Ich war glücklich. Der von allen gefürchtete Mann war auf Anhieb mein Freund geworden. Also alles nur Gerüchte. Oder wussten alle, die sich da beschwerten hatten, offenbar nur nicht, wie man mit diesem grundgütigen Mann umzugehen hatte?

Naja, jedenfalls – mein Einstand in das neue Schuljahr schien gelungen. Auch sonst lief es nicht schlecht. Durch meine zurückhaltende Art hatte ich mir bald den Respekt der Klasse verschafft. Privat stellte sich bald schon die eine oder andere liebe Freundin ein. Das neugewonnene Selbstbewusstsein drückte sich auch bald schon in etwas modischerer Kleidung und in sicherem Auftreten aus.

Aber ach! Genau dies waren die Dinge, die mich bei jenem Pater, der nun unser neuer Mathematiklehrer geworden war, in Ungnade fallen ließen. Während ich in der Phase, in welcher jener bestrebt gewesen war, ein Vertrauensverhältnis zu mir aufzubauen, nur Milde und Freundlichkeit von ihm spürte, sollte ich nun zu bemerken bekommen, welche zerstörerischen Kräfte in diesem leidenschaftlichen Manne wüteten.

In der folgenden Zeit benahm er sich wie ein zurückgewiesener Liebhaber. Mal beleidigt und jähzornig, mal kalt berechnend bei seinen vielen Versuchen, mich doch noch unter seine Kontrolle zu bekommen.

Es begann zunächst langsam. Er starrte mich dauernd an. Versuchte mich einzuschüchtern. Vielleicht war dies aber auch noch die Test-Phase. Ich konnte dieses seltsame Verhalten mit meinem Knabenverstand natürlich nicht begreifen und reagierte daher auch nicht. Das provozierte ihn nur noch mehr. Er forderte mich fast jeden Tag vor versammelter Klasse heraus. Bald forderte er mich zu Armdrücken und kleinen Kämpfchen auf. Ich hielt stand, besiegte ihn sogar im Armdrücken. Dabei galt der großgewachsene Mann als sehr stark, verteilte üble Kopfnüsse, nahm Schüler in den Polizeigriff und machte uns während des Mathematikunterrichts Turnübungen vor. Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es dumm von mir war, ihn im Armdrücken zu besiegen. Inzwischen aber bin ich überzeugt, dass dieser Sieg mich vor noch schlimmeren Übergriffen bewahrt haben könnte.

So gab es einmal die Situation, wo er mich in einen Spind eingeschlossen hatte. Ich spürte die Gefahr, die davon ausging, dass ich mit ihm auf so engen Raum alleine eingesperrt war. Es war zuerst dunkel und er fummelte rum, ich dachte, er suche nach dem Lichtschalter, hörte Geräusche, die ich nicht einordnen konnte, genauso wenig wie die nassen Flecken auf dem Boden. Ein paar mal hat er mich im Dunkeln berührt. Ich weiß nicht mehr, wie lange das gedauert hat, aber ich weiß heute noch, wie erleichtert ich darüber gewesen war, dass ich mich doch hatte nicht ausziehen müssen – wie in jenen Geschichten, die man sich heimlich in den Pausen erzählte. Ich weiß nicht, warum mir das damals erspart blieb. Er muss seine Zweifel gehabt haben. Sich vielleicht vor meiner Reaktion gefürchtet haben.

Er hat dann erstmal weiter versucht, mich weich zu kochen. Mich als dumm und ungehobelt abzustempeln. Machte abfällige Bemerkungen über mich. Diese Schikanen und öffentlichen Demütigungen steigerten sich. Bald schon wurde es mir morgens zur Qual, den Berg zur Schule hinauf zu gehen. Jeden Morgen ein Gang zum Schaffot. Jedenfalls an den drei Tagen, an denen wir Mathematikunterricht hatten. Aber auch an den Tagen dazwischen konnte ich mir nie ganz sicher sein. Meine Erfolge in Mathematik waren ihm nicht recht. Dabei war ich sein bester Schüler. Ich hatte fast immer schon in der ersten Stunde, in der ein neues Thema angesprochen wurde begriffen, um was es gehen würde.

Meine Klassenarbeiten waren fehlerlos. Aber wegen angeblich schlechter Schrift oder Form oder ähnlichem hat er mir nie eine Eins gegeben sondern nur Zweien. Meine Klassenarbeiten musste ich bald allein in einen Putzspind eingeschlossen schreiben. Dann hat er verboten, dass ich während der Pausen den Klassenraum verlasse, damit die teuren und zahlenden Internatseltern meine schreckliche Gestalt nicht sehen sollten und nicht abgeschreckt würden. Er sagte, ich wirke abstoßend auf die Umwelt. Ich war jetzt also zu hässlich geworden für seine schöne Schule. Wie er das mit dem Arrest für mich während der Pausen durchgesetzt hatte, begreife ich nicht. Die Fluraufsicht wurde instruiert darauf zu achten, dass ich den Klassenraum nicht verlasse.

Schließlich wurde von ihm vor der ganzen Klasse behauptet, dass ich stinke, alle Mitschüler sollten gefälligst mal an mir riechen. Auch er selbst hat an mir rumgeschnuppert. Überall! Besonders da, wo er den Gestank so vermutete. Da, am Hosenstall, unter den Armen! Freilich, nicht jeder meiner Klassenkameraden hatte bei dieser Aktion mitmachen müssen. Er wusste schon, wen er da auswählen konnte. Sie hatten sich in einer Reihe aufzustellen, ein gutes Dutzend, und so kamen sie einer nach dem anderen an die Reihe, mich zu beschnuppern und ihr Urteil abzugeben. Abschließend presste er selbst noch einmal seine Nase und seinen Mund auf mein Geschlecht, holte tief und lange Luft und sagte dann: "Ekelhaft!"

Besonders enttäuscht bin ich, einige der Schnupperer auf der Liste der 500 wackeren Zeitgenossen gefunden zu haben, die das Aloisiuskolleg mit ihrem (die Opfer verletzenden) Schreiben als vorbildliche Schule verteidigen. Ich hatte eigentlich Mitleid mit denjenigen gehabt. Ich war davon ausgegangen, dass es ihnen peinlich gewesen war, so wie ein Hund an mir herumschnüffeln zu müssen. Keiner sagte direkt, dass ich stinken würde, nur so „naja“ und „vielleicht“.

Im Anschluss führte mich der Pater in einer Art Polizeigriff, der sehr schmerzhaft war, aus der Klasse geradewegs zum Direktor. Die ganze Klasse habe sich darüber beschwert, wie ich stinke! Man wolle dort meinen Gestank nicht mehr aushalten. Der Direktor solle doch bloß auch einmal an mir riechen.

Das hat er dann auch getan. Allerdings mit gerunzelter Stirn und aus respektvollem Abstand.

Darauf schloss sich eine Besprechung im Nebenzimmer an. Ich musste warten. Offenbar sollte mit dieser Aktion versucht werden, vom Direktor die Erlaubnis zu erlangen, dass ich als externer Schüler abgeduscht werden dürfte. Das tat er, mein Mathematiklehrer, ja bei den Internatsschülern regelmäßig, aber bei mir, als nicht im Internat Lebenden, hatte er normalerweise kein Recht dazu.

Anscheinend hatte ihm aber auch der Direktor die erhoffte Erlaubnis nicht gegeben. Jedenfalls kam mein Mathematiklehrer mit hochrotem Kopf aus dem Zimmer heraus, ging an mir vorbei, ohne mich anzuschauen und knallte die Tür hinter sich zu. Kurz darauf kam der Direktor heraus. Auch mit rotem Kopf. Er selbst hätte zwar nichts gerochen, aber er wolle mir empfehlen, doch morgens zu duschen und Deo zu benutzen.

Dieses obsessive Verfolgen schien nun zur Manie geworden zu sein. Wenn ich einmal krank war, wurde mir von ihm jedesmal nach Hause hinterher telefoniert. Er stieß dann am Telefon alle möglichen Drohungen gegen mich aus. Sagte, dass er mich immer unter Beobachtung hätte und dass ich ihm nicht entgehen könne. Jedesmal schien er enttäuscht, mich zu Hause angetroffen zu haben. Hätte er doch sonst den Beweis gehabt, dass ich in sein Internat gehöre. Es war absolut nicht üblich, dass ein Lehrer einem externen Schüler hinterher telefonierte. Man brachte am nächsten Tag eine von den Eltern unterschriebene Entschuldigung mit, fertig. Mich aber verfolgte er bis nach Hause.

Nachdem sich also meine Eltern erfolgreich seinem Ansinnen widersetzt hatten, mich seinem Internat einzuverleiben, mich ihm also ganz auszuliefern, war jetzt seine Strategie, dass ich endgültig aus seinen Augen zu verschwinden hatte. Deshalb erzählte er jetzt alle möglichen Geschichten über mich.

Schließlich hatte ich einen Unfall, meine Abwesenheit hat der Pater dann genutzt, um zwei Wochen vor Abschluss der mittleren Reife eine Konferenz einzuberufen und mich feuern zu lassen. Der blaue Brief kam zu mir ins Wald-Krankenhaus, der Schule verwiesen wegen Subversivität! (Unter heutigen Gesichtspunkten verstehe ich das durchaus als eine Auszeichnung!). In dem Schreiben stand nur, dass ich der Schule verwiesen war, mit dem Hinweis auf subversives Verhalten. Zu irgendwelchen Vergehen hat mich nie jemand befragt. Was ich getan haben sollte, kann ich auch nur erahnen oder erraten, aus Gesprächen mit Eltern und Lehrern im nach hinein. Es ging wohl um sehr schwere Vorwürfe, die der Pater gegen mich erhoben hatte. Drogenhandel, Körperverletzung, Erpressung und natürlich: Vergewaltigungen! Das wurde alles ungeprüft geglaubt, aber nicht etwa bei der Polizei angezeigt, sondern ich wurde der Schule verwiesen.

So hat dieser Mann drei Jahre lang dermaßen viel Energie auf mich gerichtet, dass man wohl sagen kann, er war von mir nahezu besessen. Manchmal frage ich mich, wie er zu anderem überhaupt noch Zeit haben konnte. Vor allem aber frage ich mich, wieso die Schulleitung damals nichts getan hat.

Heute unterscheide ich zwischen Täter und Verantwortlichem. Mein Täter war ein raffinierter und intelligenter, aber brutaler Mann. Er ist in meinen Augen sadistisch und pädophil veranlagt gewesen, hat sich später der Rechtfertigung durch Demenz entzogen. Andere Täter haben sich in den Tod gerettet.

Mein Täter war aber auch ein Getriebener. Durch den Austausch mit anderen Betroffenen habe ich nachvollziehen können, wie aus dem lüsternen Jüngling aus den Frankfurter Exerzitien der frühen 60er ein mächtiger Mann wurde, der sich auf dem heiligen Berg sein Päderasten-Fürstentum aufgebaut hat. Andere Täter wiederum haben Hilferufe in Form von Briefen an den Provinzial verfasst. Es war ihnen vor sich selbst nicht geheuer. Es waren Getriebene, für die ich heute eine Mischung aus Ekel, Abscheu und Mitleid empfinde.

Ich begreife aber nicht, wie man sie nicht hat aufhalten können. Nicht hat stoppen wollen. Waren sie wirklich so wichtig für den Schulbetrieb, für den Orden? Gut, sie haben viel Geld eingebracht. Das Internat vollgemacht. Aber war es nur Habgier, die die Verantwortlichen zum Wegschauen veranlasst hat?

Ich weiß, die Täter können nichts wieder gut machen. Sie sind mir auch egal. Ich möchte von ihnen und ihren Gespenstern nicht mehr belästigt werden. Ich habe ihnen nichts zu entschuldigen. Ich bin mir sicher, dass sie an ihrer eigenen Hölle leiden.