Kopf im Sand

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Bearbeitung: F. Lorenz

WIEN. (hpd) 87.343 Menschen sind 2010 aus der römisch-katholischen Kirche ausgetreten. So viele wie nie seit 1945. Dass die Zahl der Katholiken in Österreich halbwegs stabil bleibt, hat die Kirche alleine Neugeborenen zu verdanken. Die Zahl der Taufen geht der Rekordzahl an Austritten zum Trotz nicht zurück. Die Kirchenoberen rotieren und stecken den Kopf in den Sand.

Ein wenig erinnerte die katholische Nachrichtenagentur Kathpress am Dienstag an George Orwells Ministerium für Wahrheit. Fast 90.000 Kirchenaustritte in einem Jahr - ein Rekord in der österreichischen Geschichte. Der Titel der entsprechenden Kathpress-Meldung lautet: „Katholikenzahl leicht rückläufig, Austritte gestiegen“.

Ein akuter Fall selektiver Wahrnehmung. Wenn auch der Befund nicht ganz falsch ist. Die Zahl der Katholiken sank 2010 um etwa 1,4 Prozent. Nur die Taufe hat die Kirche vor einem noch stärkeren Absturz bei der Mitgliederzahl bewahrt. Knapp 50.000 meist Neugeborene wurden neu in das Mitgliederverzeichnis aufgenommen. Das ist nur unwesentlich weniger als im Jahr davor. Und macht die etwa 53.000 katholischen Sterbefälle beinahe wieder wett.

Es ist kaum mehr als ein symbolischer Erfolg, den die Möglichkeit beschert, Mitglieder auch ohne deren ausdrücklichen Willen aufzunehmen. Das verschleiert die schwindende gesellschaftliche Bedeutung der Kirche. Der Katholikenanteil ist 2010 auf unter 65 Prozent gesunken. 1951 lag er bei 89 Prozent. Finanziell wirken sich praktisch nur Austritte und Sterbefälle aus – die römisch-katholische Kirche hat zu Jahresbeginn 2011 fast 140.000 weniger Kirchenbeitragszahler als zu Jahresbeginn 2010. Eine desaströse Tendenz.

Kardinal windet sich

Dessen ungeachtet ringt die Spitze der katholischen Kirchenhierarchie um Erklärungen, die die Entwicklung ins Positive verkehren. Zitat aus einer Kathpress-Aussendung nach einem Gespräch mit Kardinal Christoph Schönborn: Als "Zeichen neuer Freiheit" vor dem Hintergrund der Entwicklung "vom Traditionschristenchristentum zum Entscheidungschristentum" hat Kardinal Christoph Schönborn die Ergebnisse der aktuellen kirchlichen Statistik und die Entwicklung der Kirchenaustrittszahlen bezeichnet. Zugleich betonte er gegenüber "Kathpress", dass jeder einzelne Austritt schmerzlich sei. Der innerkirchliche Missbrauchsskandal habe die hohe Zahl an Kirchenaustritten im Jahr 2010 sicherlich mitbedingt, die Ursachen für einen solchen Schritt würden letztlich aber meist viel tiefer liegen. Die Zugehörigkeit zur Kirche sei eine Sache der freien Entscheidung und nicht mehr der Tradition. Zugleich hob der Kardinal wörtlich hervor: "Die Beziehung jedes Menschen zu Gott geht weiter, auch nach einem Kirchenaustritt. Aus der Liebe Gottes kann man nicht austreten." Zitat Ende. Einen Absatz weiter heißt es: „Der Wiener Erzbischof verwies im "Kathpress"-Gespräch auch auf eine bisher noch nicht veröffentlichte Studie des Pastoraltheologen Prof. Paul Zulehner, wonach bis zu 44 Prozent der Ausgetretenen ernsthaft daran gedacht haben, wieder in die Kirche einzutreten.“ Auch so kann man die Welt sehen.

Und prompt reicht die katholische Nachrichtenagentur die zitierte Zulehner-Studie nach. Die liest sich selbst bei der kirchenfreundlichen Formulierung des Theologen bzw. der Agentur nicht ganz so optimistisch, wie es etwa Schönborn gerne hätte. Und die geschilderten Tendenzen sind bei weitem nicht neu. Zitat: Bis zu 44 Prozent jener Personen, deren Kirchenaustritt nicht länger als ein Jahr zurückliegt, halten "unter bestimmten Umständen" einen Wiedereintritt für möglich. Das geht aus einer noch unveröffentlichten Studie des Wiener Pastoraltheologen Prof. Paul Zulehner hervor. Die Verantwortlichen in der Kirche müssten sich daher überlegen, wie sie neue Bindungskräfte zu den Kirchenmitgliedern (und bereits Ausgetretenen) aufbauen können. Das könne nur dann gelingen, wenn die Kirche den direkten Kontakt zu den Menschen sucht und findet.

Hochburgen brechen weg

Besonders schlimm erwischte es die Kirche in ihren Hochburgen. Österreichweit stieg die Zahl der Austritte um 64 Prozent – in erzkatholischen Bundesländern wie Salzburg, Tirol und Vorarlberg waren es jeweils um die 80 Prozent, in den eher ländlichen Gebieten der Diözesen St. Pölten und Eisenstadt verdoppelte sich die Zahl der Austretenden beinahe. Die bekannt gewordenen Fälle körperlicher, psychischer und sexueller Gewalt an hunderten Jugendlichen in kirchlicher Obhut scheinen dort Dämme gebrochen zu haben. Bisher hatte in diesen Gebieten die soziale und wirtschaftliche Vormachtstellung der Kirche für aus Sicht der Geistlichkeit geordnete Verhältnisse gesorgt.

Dass die gesellschaftliche Bedeutung der Kirche auch am Land langsam schwindet, geht auch aus der Studie hervor. Laut der hätte „jedes dritte Kirchenmitglied (32 Prozent) in Österreich schon an einen Kirchenaustritt gedacht (…). „Ob es dann tatsächlich dazu kommt, hängt von Trennungskräften (Irritationen) bzw. Bindungskräften (Gratifikationen) ab. Unter Trennungskräften versteht Zulehner beispielsweise "vordergründige" Kirchenskandale sowie "klerikalen Machtgebrauch", "Reinheitswahn" im Bereich der Sexuallehre sowie der Umgang mit Frauen in der Kirche.“

Aus Sicht von Erwin Peterseil, Betreiber von atheisten-info.at ist die Kirche mit einem blauen Auge davongekommen: „Man kann also sagen, die katholische Kirche hält sich trotz allem recht gut. (…) wenn man dazu noch die hohe Zahl der Menschen ins Auge fasst, die zwar Kirchenmitglied sind, aber praktisch religionsfrei leben, dann sind die Austritte eigentlich überraschend wenig.“

Dennoch kommt er zum Schluss: Die Zeiten der katholischen Allmacht sind vorbei. Unumkehrbar vorbei.