BERLIN. (hpd) Am 19. Januar 2011 wurde der Abschlussbericht des Runden Tisches Heimerziehung in den 1950er und 1960er Jahren (RTH) an den Deutschen Bundestag übergeben. Dort werden die Abgeordneten über die Empfehlungen des RTH beraten und entscheiden. Für die betroffenen ehemaligen Heimkinder beginnt nun eine besonders wichtige Phase, denn es wird sich zeigen, wie die Abgeordneten diese Empfehlungen handhaben werden.
Wesentliche Forderungen der ehemaligen Heimkinder wurden im Abschlussbericht nicht erfüllt. An vielen Stellen des Berichtes wurde eine Konsensentscheidung aller TeilnehmerInnen am RTH suggeriert, faktisch handelte es sich jedoch um Mehrheitsentscheidungen der InstitutionenvertreterInnen - in Nachfolge der Täterorganisationen - entgegen den Interessen der ehemaligen Heimkinder.
Eine wesentliche Forderung der ehemaligen Heimkinder war die Anerkennung und Entschädigung der Kinder- und Jugendlichen-Zwangsarbeit (1), die Kinder- und Jugendliche in der Heimerziehung leisten mussten. Im Abschlussbericht des RTH wird diese jedoch verweigert. (2)
800.000 Kinder und Jugendliche haben über einen Zeitraum von 30 Jahren jeweils durchschnittlich drei Jahre lang unbezahlte Arbeit geleistet, was dem Staat und den Kirchen enorme Einsparungen und den Firmen und Betrieben enorme Gewinne ermöglichte. (3)
Im Abschlussbericht des RTH wird zwar zugegeben, dass das Grundgesetz in der Heimerziehung seit 1949 galt (bzw. eigentlich hätte gelten müssen), dass aber die Rechtsauslegung, Rechtspraxis und Rechtsprechung nicht in der Demokratie angekommen war und sich häufig auf Auslegungen, Gesetze und Erlasse aus der Zeit vor 1949 berief. (4)
Dennoch folgen die Institutionenvertreter im RTH-Abschlussbericht der Argumentation der damaligen Heimerziehung, indem sie die Zwangsarbeit zum einen pädagogisch begründen und zum andern die Verflechtung mit der Notwendigkeit der Mitfinanzierung der Heimkosten durch die Arbeit der Kinder zwar benennen, jedoch sei nicht ermittelbar, welcher der Aspekte überwog. (5) Die Heimkinder setzten sich dafür ein, dass im letzten Entwurf des Abschlussberichtes der korrigierende Satz eingefügt wurde: „Kinder- und Jugendliche wurden in der Heimerziehung durch Vortäuschung pädagogischer Maßnahmen arbeitsmäßig ausgebeutet.“ Im endgültigen Abschlussbericht wurde dieser Satz jedoch wieder entfernt, darauf macht der Experte Prof. Dr. Kappeler in seiner fachlichen Stellungnahme aufmerksam. (6)
Prof. Kappeler bemängelt zudem, dass auch die systematische Ausbeutung von Kindern (nicht nur von Jugendlichen) für die Aufrechterhaltung der Binnenstruktur in den Heimen unterschlagen wurde, darauf sei seit den 1950er Jahren in der Fachliteratur immer wieder hingewiesen worden. Nach Artikel 6 GG (7) war der Staat im Sinne eines Wächteramtes umfassend für das Wohl der Heimkinder verantwortlich. Die Institutionen hätten sich somit für die Wahrung des Kindeswohls einsetzen können und müssen, anstatt die Arbeitskraft der Heimkinder auszubeuten. (8)
Um die Situation der Kinder- und Jugendlichen-Zwangsarbeit bei externen Arbeitgebern zu veranschaulichen, hier zwei Kurz-Berichte aus Freistatt, die durch die Heimkampagnen bereits 1972 an die Öffentlichkeit kamen.
Schienenstränge verlegen
"Die einen mussten Schienenstränge verlegen, was natürlich sehr schwer war, es waren 12m-Schienen, die anderen mussten dann Körbe mit Torf füllen - und es wurde immer eine Blaumütze und eine Rotmütze zusammen getan, das hieß also, die Blaumützen, das waren die Vertrauensleute, damit die Erzieher erkennen konnten, aha, da hinten läuft jemand mit der blauen Mütze, der Mann hat Vertrauen...
Der Transport musste also nur im Laufschritt gemacht werden, und der Neuere wurde immer als Vordermann benutzt, damit der Ältere, wenn er zu faul war zum Laufen oder aufhören wollte oder nicht mehr konnte, dass er ihn schieben konnte...“
Torfstechen im Mooreinsatz
„Also ich als Gruppenführer war der Stecher, ich hab den Torf herausgestochen, hab ihn hinter mich geworfen, von dort aus wurde er von dem Jüngsten, der unten im Stich stand, ca. 2 m hochgeworfen zu dem Zweitjüngsten, der muss den Torf wieder zu einem evtl. Drittjüngsten - also eine Kette - weiterwerfen zu dem Drittbesten in der Gruppe, das war der, der den Torf mietenmäßig aufbaute.
Am schwersten hat es der unten im Stich gehabt, wenn so ein Kerlchen von 14 Jahren am Tag vielleicht 300/400 Torfsteine aus dem Kreuz heraus 2 m hoch werfen muß, das ist schon eine kolossale Arbeit...“ (9)
„Das blinde Auge des Staates“
Bereits in den 1970er Jahren gab es Protestbewegungen gegen die Menschenrechtsverletzungen in den Kinderheimen in Westdeutschland – die sogenannte Heimkampagne. Die menschenunwürdigen Verhältnisse waren schon damals bekannt. Die beiden Autoren Marita Schölzel-Klamp und Thomas Köhler-Saretzki weisen in ihrem 2010 erschienen Buch: „Das blinde Auge des Staates: Die Heimkampagne von 1969 und die Forderungen der ehemaligen Heimkinder“ auf die Motive der Verleugnung des Unrechts hin und erklären Zusammenhänge mit der niederschmetternd unzureichenden Entnazifizierung in den ersten beiden Jahrzehnten der Bundesrepublik. (10)
Die unzureichende Entnazifizierung hatte, so die o. g. Autor/innen auch gravierende Folgen für Kinder und Jugendliche, denn zahlreiche NSDAP-Mitglieder konnten bereits 1947 in ihre Positionen in den Polizeibehörden, bei der Justiz und in die innere Verwaltung zurückkehren. Auch die Fürsorgebehörden blieben weitgehend personell unverändert bestehen. Dies hatte zur Folge, dass im Nationalsozialismus entstandene eugenisch-rassistisch begründete Fürsorgebeschlüsse ihre Rechtswirksamkeit ungeprüft weiter behielten. Für die in der NS-Zeit bereits internierten Heimkinder war somit der Wechsel in die Demokratie der Bundesrepublik Deutschland keine Befreiung und Rehabilitierung, sondern die Fortsetzung des Unrechtssystems. (11)