Atheismus im Mittelalter

(hpd) Die Historikerin Dorothea Weltecke verweist in ihrer Studie darauf, dass es auch in der vor-aufklärerischen Zeit des Mittelalters Artikulationsformen des Glaubenszweifels und Unglaubens gab. Damit handelt es sich um eine wichtige Ergänzung der wenigen Studien zur Geschichte des Atheismus mit differenzierter Bewertung und innovativer Forschungsmethode, die gleichwohl mit einer anderen Darstellungsform die Inhalte deutlicher hätte transportieren können.

Die Annahme, Atheismus, Glaubenszweifel und Religionskritik seien erstmals in Folge der Philosophie der Aufklärung aufgekommen, ist weit verbreitet. Demgegenüber gilt das Mittelalter als Ära eines in Denken und Gesellschaft tief verankerten christlichen Glaubens, sahen sich doch bereits geringste Abweichungen von ihm des Vorwurfs der „Häresie“ und der „Ketzerei“ ausgesetzt. Doch trifft dieses Bild aus historischer Sicht tatsächlich zu? Die Frage stellt sich die Historikerin Dorothea Weltecke, Professorin für die Geschichte der Religionen und des Religiösen an der Universität Konstanz, in ihrer Studie „’Der Narr spricht: Es ist kein Gott’. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit“. Darin will sie die Konstruktionen vom gläubigen Mittelalter auf Basis historischer Quellen und innovativer Textinterpretationen hinterfragen. Als Motto gilt Weltecke dabei: „Historisches Denken hat die Aufgabe, Entstehen, Wandeln und Vergehen nachzuzeichnen. Zweifel an der Existenz Gottes und Nichtglauben sollen hier der Gegenstand sein“ (S. 21).

Ausgangspunkt ihrer Arbeit ist der Abschied von den Annahmen, wonach der Atheismus die größte Entfernung vom Glauben und Rationalität für radikale Religionskritik erforderlich sei. Wenn man die Gottesleugner jenseits der Neuzeit finden wolle, müsse man sich von diesen Vorstellungen verabschieden. Die beabsichtigte Historisierung des Atheismusdiskurses geht die Autorin mit einem kritischen Überblick zum Forschungsstand und eine Untersuchung ausgewählter mittelalterlicher Quellen an. Bei Letzterem geht es etwa um die Auffassungen des Grafen Jean von Soissons und von Kaiser Friedrich II., von Kaiserin Barbara von Cilli und Thomas Scotus. Danach untersucht Weltecke die Verbreitung und das Verständnis von Begriffen wie „Unglauben“ und „Zweifel“ in den historischen Quellen. Hierzu gehören etwa Texte der Gesetzgebung oder Handbücher der Inquisitoren. Mit der Frage nach dem Bestehen von Aussagen zur Leugnung der Existenz Gottes sollen damit Annahmen zur Verfolgungsthese in der Atheismusgeschichte geprüft werden.

Bilanzierend formuliert Weltecke für den Untersuchungszeitraum von 1100 bis 1500 für das damalige Europa, „dass Nichtglauben, Ungewissheit und Ablehnung des Glaubens sehr wohl sehr präsent waren. Ebenso bekannt war die berühmte Frage, wie der Widerspruch zwischen der christlichen Gotteslehre und den innerweltlichen Erfahrungen von Willkür, Gewalt, Unrecht und sozialer Ungleichheit zu erklären sei.“ Doch die anerkannten Prinzipien des Denkens hätten dazu geführt, dass die Gelehrten mit wenigen Ausnahmen eine Erörterung solcher Gedanken verhinderten. Die Rede vom Nichtsein Gottes habe nicht als Gipfel der Bosheit, sondern der Narretei gegolten. Derartige Auffassungen seien als Blindheit des Herzens und des Verstandes angesehen worden. „Verantwortlich für die im Verhältnis verzögerte philosophische Entfaltung des Atheismus in der lateinischen wissenschaftlichen Welt waren also die Gelehrten selbst“ (S. 465). Eher könne man in den zweifelnden Gedanken der spirituellen Literatur die Avantgarde des späteren Atheismus entdecken.

Welteckes Studie stellt eine wichtige Ergänzung zu den wenigen Arbeiten über die Geschichte des Atheismus dar wie sie etwa von Hermann Ley, Fritz Mauthner und Georges Minois vorgelegt wurden. Bezüglich einer Wirkung des Glaubenszweifels auf die Aufklärung argumentiert sie wohltuend differenziert, indem einerseits das Fehlen einer entwickelten Theorie des Atheismus konstatiert, andererseits aber auf das Vorhandensein bis heute wiederholter Positionen der Religionskritik verwiesen wird. Dabei korrigiert die Autorin auf Basis intensiver Quellenauswertung weit verbreitete Annahmen und kann auch durch eine innovative Methode der Forschung beeindrucken. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob der komplexe historische Stoff nicht durch die Anwendung einer überhistorischen Typologisierung besser darstell- und analysierbar gewesen wäre. So bleibt ihre heutige Sicht auf die Erscheinungsformen des Glaubenszweifels doch all zu sehr der Perspektive rational nicht näher entwickelter damaliger Auffassungen verhaftet.

Armin Pfahl-Traughber

Dorothea Weltecke, „Der Narr spricht: Es ist kein Gott“. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit, Frankfurt/M. 2010 (Campus-Verlag), 578 S., 49,90 €