Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben

(hpd) Sönke Neitzel und Harald Welzer untersuchen auf Basis von Protokollen abgehörter deutscher Kriegsgefangener deren Gewaltverständnis und Kriegswahrnehmung. Überzeugend können die Autoren anhand von erstmals breiter ausgewerteten historischen Quellen belegen, wie stark der Referenzrahmen hier im Sinne des soldatischen Lebens für das menschliche Sozialverhalten auch und gerade bezüglich des Begehens von Kriegsverbrechen von Bedeutung ist.

Warum begingen deutsche Soldaten während des Zweiten Weltkriegs Kriegsverbrechen? Über diese Frage wird in Öffentlichkeit und Wissenschaft kontrovers diskutiert. Nun legt ein in der Kombination etwas ungewöhnlich erscheinendes Autorenpaar dazu eine Deutung vor: Der Historiker Sönke Neitzel ist durch eine Arbeit, die erstmals Protokolle über abgehörte Gespräche deutscher Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft auswertete, bekannt geworden. Und der Sozialpsychologe Harald Welzer legte bislang eine Reihe von Studien vor, welche die Entwicklung von „normalen Menschen“ hin zu Massenmördern im Kontext von Genoziden analysierte. In ihrem gemeinsamen Buch „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ treffen die quellenkundige Perspektive des Historikers und die analytische Sichtweise des Sozialpsychologen aufeinander. Auf Basis von abgehörten Gesprächen deutscher Kriegsgefangenen wollen Neitzel und Welzer darin die Gewaltwahrnehmung und Tötungsbereitschaft deutscher Soldaten analysieren.

Ausgangspunkt dafür ist die Auffassung, dass Menschen so handeln, wie „es von ihnen erwartet wird. Und das hat viel weniger mit abstrakten ‚Weltanschauungen’ zu tun als mit ganz konkreten Einsatzorten, -zwecken und –funktionen und vor allem mit den Gruppen ...“ (S. 15). Demgemäss stellen die Autoren auf eine „Referenzrahmenanalyse“ ab, ihnen geht es also um die Rekonstruktion von Deutungen und Wahrnehmungen der deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Aus dieser Perspektive heraus untersuchen sie Aussagen wie etwa die eines Oberleutnants der Luftwaffe: „Es ist mir ein Bedürfnis geworden, Bomben zu werfen. Das prickelt einem ordentlich, das ist ein feines Gefühl. Das ist ebenso schön wie einen abzuschießen“ (S. 83). Entsprechend behandelt der „Kämpfen, Töten und Sterben“ überschriebene Hauptteil der Studie anhand von derartigen Aussagen, wie abgehörte deutsche Soldaten die Morde an Juden, die Verbrechen an Kriegsgefangenen oder die Unterdrückung der Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten kommentierten.

Entscheidend ist die soziale Nahwelt

Bilanzierend heißt es: „Insgesamt lässt sich, was die Mentalitäten der Soldaten angeht, weder davon sprechen, dass sie aus ihrer Sicht mehrheitlich einen ‚Vernichtungskrieg’ Noch einen ‚Rassenkrieg’ geführt hätten. Sie orientierten sich vor allem am Referenzrahmen von Militär und Krieg, in dem die Ideologie nur eine nachgeordnete Rolle spielt. Sie haben einen Krieg im Referenzrahmen ihrer, der nationalsozialistischen, Gesellschaft geführt, was sie, wenn sie in diese Situation kamen, auch zu radikal gegenmenschlichen Handlungen veranlasst hat. Um die auszuführen – das ist das eigentlich beunruhigende -, muss man aber weder Rassist noch Antisemit sein“ (S. 299). Demnach sei der entscheidende Faktor für das Handeln im Krieg die soziale Nahwelt der Soldaten gewesen, welche sie zu ihrem verbrecherischen Handeln im Sinne einer gruppenspezifischen Gewaltpraxis motiviert habe. Abstrakte Feindbilder wie das „bolschewistische Untermenschentum“ oder die „jüdische Weltverschwörung“ hätten demgegenüber nur ganz am Rande eine Rolle gespielt.

Die Studie beeindruckt gleich aus mehreren Gründen: Sie wertet erstmals bislang noch nicht genügend berücksichtigtes Quellenmaterial aus. Sie nutzt mit der Referenzrahmenanalyse eine bemerkenswert erkenntnisförderliche Methode. Und sie bringt die geschichtswissenschaftliche mit der sozialpsychologischen Perspektive zusammen. Die von Neitzel und Welzer präsentierte Deutung wirkt überzeugend, zumal sie auch die allgemeine und nationalsozialistische Dimension in der Kriegsführung differenziert bestimmt. Kritikwürdig ist gleichwohl die zu Beginn mehr im Sinne einer apodiktischen Setzung vorgenommene Perspektive in Richtung des Referenzrahmens, wodurch andere Faktoren wie Charakterstruktur und Ideologie zwar nicht gänzlich ignoriert, aber lediglich als randständig erscheinen. Dieser Einwand zielt aber nur auf eine Differenzierung, nicht auf eine Verwerfung des Erklärungsansatzes von Neitzel und Welzer. Er macht in beklemmender Weise auf eine bedenkliche Facette menschlichen Sozialverhaltens aufmerksam.

Armin Pfahl-Traughber

 

Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Frankfurt/M. 2011 (S. Fischer-Verlag), 521 S., 22,95 €