Der Rechtsstaat ist kein Kind der Religion

(hpd) Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt veröffentlicht in dem Band „Religion in der Verantwortung“ Texte aus der Zeit von 1972 bis 2011 aus Sicht eines skeptischen Christen. Schmidt betont darin, dass Demokratie und Rechtsstaat nicht mit dem christlichen Glauben, sondern gegen die christlichen Kirchen erstritten wurden, oder ,dass sich die meisten Religionen friedlich gesinnt geben, aber viele ihrer Repräsentanten aggressiv auftreten.

Helmut Schmidt hat als ehemaliger Bundeskanzler, journalistischer Kommentator, politischer Ratgeber und öffentlicher Raucher im gegenwärtigen Deutschland Kult-Status. Seine Bücher landen auf den Bestseller-Listen. Sie scheinen im Unterschied zu den Werken anderer Politiker sogar gelesen und nicht nur verschenkt zu werden. Schmidts neustes Werk trägt den Titel „Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung“. Es handelt sich aber um keine eigenständige Monographie zu diesem Thema, sondern um eine Sammlung älterer und neuerer Texte aus den Jahren 1972 bis 2011. Manche Beiträge gehen auf „Religion“ entweder gar nicht oder nur marginal ein. Dafür stehen etwa eine Abhandlung zu Kant oder eine Erinnerung an Bach, wobei die Erstere Schmidt als philosophisch reflektierenden Politiker auswies bzw. ausweist. Auch andere Texte von Schmidt wurden etwas krampfhaft unter die Überschrift „Religion in der Verantwortung“ gepackt. Dem Verlag ist offenbar bekannt: Helmut Schmidt „geht“ immer gut.

Der ehemalige Bundeskanzler beschreibt sich in den Texten als Christ und wünscht in einer abgedruckten Rede seinen Zuhörern auch „Gottes Segen“ (S. 114). Gleichwohl bemerkt er: „Ich bin aber immer Skeptiker geblieben, das heißt ein sehr distanzierter Christ“ (S. 229). Er betont etwa einerseits, „die Würde und auch die Freiheit des Menschen bedürfen der Bindung nach oben“ (S. 160), schreibt aber auch andererseits, „Gott hat allzu viele und allzu große Verbrechen zugelassen“ (S. 175). Da die Texte des Buchs chronologisch geordnet sind, fällt eine zunehmende Skepsis gegenüber dem Christentum auf. Dass sich der seinerzeit aktive Politiker in dieser Hinsicht eher zurückhielt, erklärt diesen Entwicklungsprozess nicht.

Auch im Zeitraum zwischen Mitte der 1980er und Ende der 1990er Jahre nahm Schmidt öffentlich meist eine affirmative und unkritische Haltung gegenüber dem Christentum ein. Seit Beginn der 2000er Jahre schein seine Skepsis gleichwohl zugenommen zu haben. Er griff nun vermehrt kritische Ansätze von früher auf und verstärkte sie in der gewählten Formulierung.

„Die Bibel kennt weder Menschenrechte noch Demokratie“

So bemerkte Schmidt etwa 1993: „Es kommt hinzu, dass dem Koran die westliche Vorstellung eines demokratischen Staates ganz fremd ist, genauso fremd übrigens wie der Thora oder der Bibel. Das sind geistige Entwicklungen, die viel später erst nach der Entstehung der heiligen Bücher in die Köpfe der Menschen eingedrungen sind“ (S. 127).

Christen hätten zu allen Zeiten grässliche Irrtümer und fürchterliche Verbrechen begangen. „Die Bibel kennt weder Menschenrechte noch Demokratie“ und solche Werte könnten heute nur mit weit „hergeholten gedanklichen Verbindungen als christlich“ (S. 141) begründet gelten. Die Prinzipien der Demokratie und des Rechtstaats wären erst spät auf dem Boden der europäischen Kultur gewachsen: „Diese Errungenschaften der Aufklärung sind erst seit drei Jahrhunderten langsam und nur schrittweise in unser moralisches Verantwortungsbewusstsein gedrungen“ (S. 179). Unser Grundrechtskatalog sei nicht auf christlichen Lehren aufgebaut, sondern auf dem Prinzip der „unantastbaren Würde“ des Menschen.

Friedliche Theorie – possesive Praxis

Der Christ Helmut Schmidt äußert sich demnach immer wieder religionskritisch, heißt es doch beispielsweise: „Fast alle Religionen geben sich heutzutage friedlich gesinnt. Aber in der Praxis waren und sind bis heute viele ihrer Führer und ihrer Priester – und ebenso viele ihrer Anhänger – possesiv, expansiv und sogar aggressiv“ (S. 236). In dieser Verallgemeinerung handelt es sich hier – angesichts der unterschiedlichen Ausmaße derartiger Einstellungen bei den verschiedenen Religionen – sogar um eine unangemessene Überspitzung. Schmidt erinnert in seinen Betrachtungen an mitunter ignorierte Kontexte, die eigentlich als selbstverständliche Einsichten gelten sollten. So erwähnt er etwa, dass „die Demokratie und der Rechtsstaat nicht als Kinder der christlichen Religion, sondern vielmehr im Kampf mit den christlichen Kirchen und den ihnen verbundenen Obrigkeiten entstanden“ (S. 248). Zwar liefert der ehemalige Bundeskanzler keine neuen Einsichten, formulierte aber kritische Perspektiven als persönliche Autorität im öffentlichen Diskurs.

Armin Pfahl-Traughber

 

Helmut Schmidt, Religion in der Verantwortung. Gefährdungen des Friedens im Zeitalter der Globalisierung, Berlin 2011 (Propyläen-Verlag), 251 S., 19,99 €