(hpd) Der anarchistische Theoretiker Peter Kropotkin veröffentlichte 1902 erstmals sein Buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“, worin er im Gegensatz zur damals vorherrschenden sozialdarwinistischen Fehldeutung auf den hohen Stellenwert von „Empathie“, „Kooperation“ und „Solidarität“ im Sozialverhalten des Homo sapiens hinwies.
Mit der Neuedition ist dieser frühe „Klassiker“ einer modernen Soziobiologie wieder greifbar, kann er doch als Bestätigung neuerer Erkenntnisse der Evolutions- und Verhaltensforschung gelesen werden.
Neuere Forschungsergebnisse aus den Bereichen der Evolutions- und Verhaltensforschung betonen „Empathie“, „Kooperation“ und „Selbstlosigkeit“ als konstitutive Merkmale der Kultur und Natur des Menschen: Nicht ausgeprägter Egoismus, sondern gegenseitige Hilfe sei das herausragende Merkmal von Homo sapiens. Dabei verweist man gelegentlich auch auf eine frühe Publikation, die als anarchistischer Klassiker in die politische Ideengeschichte eingegangen ist: Peter Kropotkins „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ von 1902. Mit diesem Buch wollte der Autor eine natur- wie sozialwissenschaftliche Begründung für seine politische Theorie eines herrschaftsfreien Miteinanders ohne Staat liefern. Dies erklärt auch, warum darin mit enormen Arbeitsaufwand die zeitgenössische Forschung zur Entwicklung des Sozialverhaltens der unterschiedlichsten Arten von Tieren wie von Menschen aufgearbeitet wurde. Unmittelbar reagierte Kropotkin mit seinem Buch als Gegen-Position auf den aufkommenden Sozialdarwinismus.
Bereits im Vorwort heißt es dazu: „Diesen Standpunkt konnte ich nicht akzeptieren, da ich überzeugt war, dass die Annahme dieses erbarmungslosen Bürgerkriegs in jeder Spezies und die Wertung dieses Krieges als Bedingung des Fortschritts etwas zugeben hieß, was nicht nur nicht beweisen war, sondern auch die Bestätigung durch direkte Wahrnehmung ermangelte“ (S. 18). Für eine gegenteilige Auffassung sah Kropotkin genügend Belege bei der Beobachtung des Sozialverhaltens von Tieren, dem er die ersten beiden Kapitel seines Buchs mit Berichten über Affen, Ameisen, Nagetieren und Vögeln widmete. Als Ergebnis hält der Autor im erklärten Gegensatz zu sozialdarwinistischen Positionen fest: „’Streitet nicht! – Streit und Konkurrenz ist der Art immer schädlich, und ihr habt reichlich die Mittel, sie zu vermeiden!’ Das ist die Tendenz der Natur, die nicht immer völlig verwirklicht wird, aber immer wirksam ist. Das ist die Parole, die aus dem Busch, dem Wald, dem Fluss, dem Ozean zu uns kommt. ‚Daher vereinigt euch – übt gegenseitige Hilfe ...“ (S. 76).
Die folgenden sechs Kapitel enthalten dann Darstellungen und Einschätzungen zur „Gegenseitigen Hilfe“ bei den Menschen, jeweils untergliedert für die „Barbaren“ und „Wilden“ (so die zeitgenössisch üblichen Formulierungen) sowie für Mittelalter und Gegenwart. Auch hierbei richtet Kropotkin seine Kritik gegen die Annahme eines Kampfes aller gegen alle, was anhand von Dorfgenossenschaften und Stammesstrukturen ebenso wie Arbeitsverbänden und Selbstverwaltung nachgezeichnet wird. Bilanzierend heißt es: „All diese Tatsachen zeigen, dass eine rücksichtslose Verfolgung persönlicher Interessen ... nicht das einzige Kennzeichen des modernen Lebens ist. Neben dieser Strömung ... gewahren wir einen harten Kampf der ländlichen und der Industriebevölkerung, um wieder stehende Einrichtungen zu gegenseitiger Hilfe und Unterstützung einzuführen und wir finden in allen Klassen der Gesellschaft eine weit verbreitete Bewegung, die auf die Errichtung unendlich verschiedenartiger .... Institutionen zum selben Zweck abzielt“ (S. 221).
Die Trotzdem Verlagsgenossenschaft legt nun eine Neuausgabe von Kropotkins Klassiker mit einem Vorwort des Evolutionstheoretikers Franz M. Wuketits vor. Dieser macht deutlich, dass es keineswegs einen Gegensatz zwischen den Auffassungen von Darwin und Kropotkin gab: „Wenn Kropotkin meint, Geselligkeit sei genauso ein Naturgesetz wie der ‚Kampf’ gegeneinander, dann kann man ihm aus Darwins Perspektive voll beipflichten“ (S. 12). Das Buch beseitige ein heute wie damals bestehendes „darwinistisches“ Missverständnis und könne als frühes Werk der Soziobiologie gelesen werden. In der Tat besteht in beiden Gesichtspunkten die auch gegenwärtig gültige Bedeutung der Schrift. Mit der Betonung auf „Hilfe“ statt „Kampf“ mag sie einseitig ausgerichtet sein, ist hier aber als wichtige Gegenposition zu anderslautenden Auffassungen zu sehen. Die pauschalen Negativ-Urteile gegen die Institution des Staates lassen den anarchistischen Theoretiker deutlich werden. Seine empathische Lesart von Darwin verdiente und verdient gleichwohl Aufmerksamkeit.
Armin Pfahl-Traughber
Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Mit einem Vorwort von Franz M. Wuketits, Aschaffenburg 2011 (Trotzdem Verlagsgenossenschaft), 253 S.
Das Buch ist auch im denkladen erhältlich.
Der Rezensent veröffentlichte auch eine ausführliche Darstellung und Kritik zu Kropotkins Schrift: Armin Pfahl-Traughber, Darwin in anarchistischer Deutung. Peter Kropotkins „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“, in: Aufklärung und Kritik, 17. Jg., Nr. 1/2010, S. 132-144.