Interview mit dem Evolutionsbiologen Prof. Dr. Ulrich Kutschera

Die Gott-lose Evolution und ihre Antriebskräfte

BERLIN. (hpd/rdf) Das Lehrbuch zur Evolutionsbiologie des Evolutionsbiologen Prof. Dr. Ulrich Kutschera erscheint in diesen Tagen in einer neuen und stark erweiterten Auflage. In einem Interview erklärt der Verfasser, welche Ergänzungen und Erweiterungen in den 14 Jahren seit der Erstauflage notwendig wurden.

 
Ramona Wagner: Im Juni 2001 ist die Erstauflage Ihres Lehrbuchs Evolutionsbiologie mit dem Untertitel "Eine allgemeine Einführung" im Parey-Buchverlag erschienen, jetzt wird die 4. Auflage 2015 bei UTB ausgeliefert: Was hat sich geändert?

Prof. Dr. Ulrich Kutschera: Die vor 14 Jahren erschienene Version war ein Kurz-Lehrbuch, das auf meinen damaligen Vorlesungen basierte und vom Parey-Verlag/Blackwell-Oxford publiziert wurde. Unser Wissen hat deutlich zugenommen, so dass dann, nachdem die 3. Auflage 2008 (Ulmer/UTB) ins Russische und Portugiesische übersetzt worden ist, eine erheblich erweiterte Neufassung 2015 notwendig war. Sämtliche Kapitel wurden ergänzt, teilweise ganz neu geschrieben. Daher hat dieses aktualisierte Buch auch einen Untertitel bekommen: “Ursprung und Stammesentwicklung der Organismen”, unter Berücksichtigung geologischer Prozesse (dynamische Erde), mit der Beschreibung zahlreicher fossiler wie rezenter Zwischenformen (z. B. der Schlammspringer auf dem Buchcover).
 

Das Werk ist dem renommierten Evolutionsforscher Ernst Mayr, der vor zehn Jahren verstorben ist, gewidmet. Welche Bedeutung haben seine Erkenntnisse noch heute?

Zunächst sei erwähnt, dass Ernst Mayr 2001 einen Kommentar für die 2. Auflage verfasst hatte, die 2015 wieder abgedruckt ist. Als wichtigster Begründer der Synthetischen Theorie und Urvater des Biospezies-Konzeptes hat sich Mayr einen unsterblichen Namen in der Biologiegeschichte erworben. So ist z. B. seine Zurückweisung der "Hopeful Monster-Theorie", wie in der Neuauflage dargestellt, heute so aktuell wie damals: Es gibt, entgegen der Behauptung mancher Kollegen, keine Befunde, die bei Tieren und Pflanzen eine sprunghafte Artenentstehung belegen würden, mit Ausnahme der Zell-Makroevolution (Symbiogenese).
 

Können Sie einige Highlights Ihrer Evolutionsbiologie 2015 kurz zusammenfassen?

Folgende Inhalte sind neu: Abbildung/Beschreibung des aktuellen "Unterwasservulkan-Modells" der chemischen Evolution, Darlegung der 2014 formulierten "Zwei-Primäre-Domänen-Theorie" der Entstehung aller komplexer Organismen, sowie die oben erwähnte "Monster-Hypothese" der Zell-Evolution (Ursprung des Meeresplanktons). Die Symbiogenese, natürliche Selektion und dynamische Erde werden als entscheidende Antriebskräfte der organismischen Evolution herausgestellt und anschaulich präsentiert. Weiterhin habe ich eine neue Doppel-Definition des Begriffs "Makroevolution" geliefert, die evolutionäre Entwicklungsbiologie (EvoDevo-Forschung) ausführlich behandelt, die Abstammung der Wirbeltiere von Axolotl-ähnlichen Urlurchen dargelegt und die evolutionäre Psychologie aufgenommen. Kollegen aus dem Beirat der Giordano Bruno-Stiftung (gbs), wie z. B. Volker Sommer, Collin Goldner, Rüdiger Vaas, Ekkehard Voland und Michael Schmidt-Salomon sind zitiert, und wichtige Thesen dieser Denker werden vorgestellt. Man könnte sagen, die Neuauflage ist ein gbs-Evo-Buch.
 

Im UTB-Werbetext sind Mediziner, Psychologen und Theologen als Lesergruppen genannt. Warum werden diese fachfremden Wissenschaftler von Ihrem Text angesprochen?

Der Mensch, als Biospezies Homo sapiens, zieht sich wie ein roter Faden durch das gesamte Buch, angefangen mit der Abbildung 1.1, bis zur letzten der 214 Grafiken, wo rezente Menschenhorden das Skelett eines ausgestorbenen Riesendinosaurier bestaunen. Sowohl Mediziner, als auch Psychologen und Theologen befassen sich mit Aspekten des Mensch-Seins, und die Humanevolution in all ihren Facetten wird in verschiedenen Kapiteln dargestellt, wobei das Superorganismus-Konzept (unsere Bakterienflora) einbezogen ist.
 

Auffallend ist, dass UTB die Stichworte Atheismus, Kreationismus und evolutionäre Ethik auflistet. Warum sind diese Themen in einem Fachbuch zur Evolution der Organismen so wichtig?

Neben einer umfassenden Darstellung der Stammesentwicklung von Bakterien, Algen, Pflanzen, Tieren und Menschen sowie der Antriebskräfte des Artenwandels habe ich auch weltanschauliche Aspekte eingearbeitet. Die Kapitel zum Thema Kreationismus wurden erweitert und durch noch schlagkräftigere Argumente verbessert, der Atheismus als Grundlage wissenschaftlicher Denk- und Arbeitsweise dargelegt und die evolutionäre Ethik thematisiert. Auch die Bemühungen von Volker Sommer und der gbs, Menschenrechte für Schimpansen zu etablieren, sind erörtert, wobei auch der evolutionäre Humanismus angesprochen wird.