Indien: Streit um Gesetz gegen Aberglauben

INDIEN. (hpd) Im Bundesstaat Maharashtra wird über einen Gesetzentwurf diskutiert, der Praktiken rund um grassierenden Aberglauben mit Strafe belegen soll. Kritiker warnen vor einem Gesetz, das von Atheisten gemacht worden sei. Befürworter verteidigen es als notwendig für die Entwicklung des Landes, Rationalisten beurteilen es als zu lasch. Tatsächlich sind die Zustände erschreckend.

Der Glaube an schwarze Magie, das Besingen von Schlangenbissen zur Heilung, Geisteraustreibungen oder das Versprechen von Wundern gegen Bezahlung sind in der indischen Bevölkerung weitverbreitet und traditionsreich. Einige Leute erzwingen Sex von anderen, indem sie sich als Reinkarnationen von Familienmitgliedern oder Vorgesetzten ausgeben. Das Spektrum der als schierer Irrsinn zu bezeichnenden Verhaltensweisen ist breit. Und obwohl es bereits Gesetze gegen einzelne abergläubische Praktiken gibt, haben die obskursten Überzeugungen viele Menschen in der schnell wachsenden Bevölkerung Indiens weiterhin fest im Griff.

Einige Konsequenzen: Im Mai verhinderte die Polizei gerade noch die Tötung eines siebenjährigen Mädchens nordwestlich von Mumbai, dessen Opfer als Teil eines Rituals in der Schatzsuche angesehen wurde. Anfang des Jahres starben über 100 Menschen, welche sich mit Hunderttausenden weiteren Pilgern zur Vergötterung eines himmlischen Lichtes versammelt hatten, nachdem ein Auto in die Menge gefahren war. Im Jahr zuvor wurde ein kinderloses Paar wegen der Tötung von fünf Jungen verhaftet. Dem Paar war von einem Guru erklärt worden, dies könne der Frau bei der Empfängnis helfen. Die Ereignisse sind nur ein winziger Ausschnitt aus der von religiösen und anderen abergläubischen Überzeugungen durchwirkten Gesellschaft auf dem Subkontinent.

Narendra Dabholka, Gründer und Vorsitzender des Maharashtra Blind Faith Eradication Committee (Komitee zur Ausmerzung von blindem Glauben, die Red.), sagte der Nachrichtenagentur AFP, dass unterschiedlichste Formen von Aberglauben in ganz Indien weit verbreitet seien, es aber im Moment kein Gesetz zur Beendigung der darauf fußenden Aktivitäten gebe. Zwar existierten Gesetze, die bestimmte Formen der Hexerei verbieten, sie wären aber zu begrenzt. Der neue Gesetzesentwurf sei wesentlich weiter gefasst, hieß es zur Verteidigung des Entwurfs.

Der Hindu Janajagruti Samiti, Vertreter einer konservativen und nationalistischen Gruppe, nannte die nun vorgesehenen Regelungen ein „drakonisches Gesetz, das auf den Glauben zielt“ und das von Atheisten gemacht werde. Anhänger rief er dazu auf, sich gegen den Gesetzentwurf zu stellen und Änderungen zu fordern. Das neue Gesetz könne dazu benutzt werden, um das „Havan“-Ritual zu verbieten, in dessen Mittelpunkt ein geweihtes Licht zur Vertreibung von bösen Geistern steht, behauptete er.

Sanal Edamaruku, Präsident der Indian Rationalist Association, beurteilte den Entwurf auch kritisch. Er meinte, er ginge nicht weit genug und brächte keine wirklich neuen Vorschläge zur Einschränkung von umstrittenen Praktiken. Edamaruku sieht in den abergläubischen Überzeugungen ein Hindernis für Indiens Entwicklung: „Wir brauchen ein landesweites Gesetz. Wir müssen gegen die Ignoranz kämpfen“, forderte Edamaruku. Und Dabholka als Fürsprecher des neuen Entwurfs wies Vorwürfe zurück, nach denen das Gesetz „antireligiös“ sei. Im gesamten Text sei nicht einmal das Wort Gott oder Religion enthalten, stellte er fest.

Das offene Vorgehen gegen die in der Gesellschaft dominierenden Auffassungen von Anhängern abergläubischer Überzeugungen kann in Indien durchaus noch Folgen für Protagonisten haben, die über eine berufliche oder politische Diskriminierung wie etwa in Deutschland und den USA, hinausgehen.

Erst Anfang Juli war das Haus des Inders Shri U. Kalanathan von einer Gruppe Attentätern angegriffen worden, nachdem er kurz zuvor in einer TV-Debatte vorgeschlagen hatte, in einem Tempel gefundene Edelsteine, deren Wert umgerechnet rund 14 Milliarden Euro entspricht, für allgemeine soziale Zwecke und zur Bekämpfung der dramatischen Armut in Indien zu verwenden. Gläubige hatten den Fund als Wunder bezeichnet und gefordert, dieser müsse ausschließlich der Gottheit des Tempels und den religiösen Zwecken zukommen.

Kalanathan meinte hingegen, die Edelsteine seien vor Jahrhunderten durch die Arbeit von armen Menschen in den Tempel gekommen und der Erlös sollte deshalb heute zu diesen Menschen zurückgehen. Kalanathan ist Schirmherr der Federation of Indian Rationalist Associations (FIRA) und Präsident der Rationalistenvereinigung Kerala Yukthi Vadi Sanghom, Teil der FIRA und International Humanist and Ethical Union (IHEU). Beim wegen dieser Meinungsäußerung durchgeführten Angriff wurden zwar Fenster zerstört und ein Motorrad beschädigt, jedoch kam diesmal niemand zu Schaden. Vertreter säkularer und humanistischer Organisationen verurteilten die hinterhältige Attacke.

Es ist nicht der einzige Fall, bei dem Rationalisten in Indien mit unbequemen Standpunkten gegenüber den in der Region dominierenden Meinungen abergläubischer Menschen auftraten und dadurch heftige Kontroversen auslösten. Kerala Yukthi Vadi Sanghom war zuletzt auch an der Entzauberung des „himmlischen Lichtes“ von Makara Vilakku beteiligt, einem unter Millionen Gläubigen angebeteten Mysterium beim Tempel von Sabarimala. Makara Vilakku ist ein dreimal erscheinendes Licht, das von Sabarimala aus gesehen während eines Rituals ähnlich von Feiern um die Wintersonnenwende, unter dem dort als Makara Jyothi verehrten Stern, entzündet wird.

Die Gläubigen betrachten den Blick auf den Stern am Firmament als hoffnungsvolle Verheißung, der schließlich Teil der religiösen Zeremonien geworden ist, im Effekt vergleichbar mit dem obskuren Kult um den Papstsegen Urbi et Orbi oder die Wirkung von körperlichen Überresten früherer Kirchenführer unter Anhängern von Europas dominierender Religion. In Indien strömten im letzten Jahr nun rund 1,5 Millionen Gläubige zum Tempel von Sabarimala, um das Licht von Makara Jyothi während des Rituals um Makara Vilakku sehen zu können. Das Ereignis wird sogar vom indischen Staat gesponsert. In der Vergangenheit starben aufgrund von Unfällen beim Ereignis aber immer wieder Menschen, weil sie im Glauben an die Wirkung zu den schnell größer werdenden Massenversammlungen gepilgert waren.

Nach Kampagnen von Yukthi Vadi Sanghom und in Folge der sich wiederholenden Unfälle kam es zwar 2008 zu einer öffentlichen Mediendebatte über das himmlische Licht von Makara Vilakku, in deren Ergebnis der Oberpriester von Sabarimala und ein Minister Klarstellungen über den nicht-übernatürlichen Ursprung der Lichter trafen, die Zahl der Pilger steigt jedoch weiterhin ständig an. Die Einkünfte am Tempel, aus Spenden und dem Profit aus Verkäufen von geweihten Gegenständen, ergab allein 2010 bei diesem einen Ereignis umgerechnet über elf Millionen Euro – ein einträgliches Festival des Aberglaubens in einem Land, wo der Wert des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf bei grad 2.500 Euro liegt, kaum einen Zehntel des Werts in Deutschland.

Zum Vergleich: Gläubigen-Spektakel in Deutschland, bei denen – nun ins Verhältnis gerechnet — über 100 Millionen Euro Gewinn von den Veranstaltern eingesammelt werden könnten, scheinen ziemlich undenkbar – auf der anderen Seite überweist der Staat hierzulande den Vertretern der hiesigen Religion in der zu mehr als einem Drittel konfessionsfreien Bevölkerung aber auch jährlich rund eine halbe Milliarde Euro, während er etwa weitere zehn Milliarden Euro von den verbliebenen Gläubigen selbst einzieht und an die Kirchen überweist. Zusätzliche Kollekten erscheinen beim nationalen Vergleich da natürlich in einem anderen Licht.

Für Kerala Yukthi Vadi Sanghom und andere Rationalistenvereinigungen in Indien war die öffentliche Debatte um die Entzauberung des vergötterten Lichts beim Tempel Sabarimala jedenfalls nur ein kleiner Erfolg, denn sie streben nach größeren Veränderungen im Land. „Die Rationalisten in der Bevölkerung Indiens haben viele skeptische und humanistische Positionen, wie sie auch von den Organisationen in Europa und von Indien vertreten werden“, so Anil Kumar, Generalsekretär der Kerala Rationalist Association. Die Trennung der Religion vom Staat und dessen Bildungssystem, der Kampf gegen das traditionelle Kastensystem in Indien und ein einheitliches Zivilrecht im ganzen Land stehen ebenfalls auf der Agenda der indischen Rationalisten, so Kumar.

Rund die Hälfte der Bevölkerung in Indien sind Hindus, ein Viertel sind Muslime, die mehrheitlich aus Pakistan kommen und etwa ein Fünftel Christen, erklärt Kumar weiter. Es gibt Konflikte zwischen den Kasten und den Unterkasten, Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen und zusätzliche Konflikte zwischen den religiösen Gruppen. „Daher brauchen wir in Indien auch ein Zivilrecht, das für alle Menschen in gleicher Weise gilt“, meint er. Immer schreibt die Verfassung des Landes die Trennung von Religion und Staat eindeutig vor. Das werde durch die Politiker aber nicht klar umgesetzt, meint er.

„Wenn wir in unserem Land Frieden zwischen den unterschiedlichen Gruppen und vorwärts kommen wollen, müssen wir für Bildung und gegen den Aberglauben arbeiten.“ Den Hexenglauben etwa findet man in Kerala zwar weniger, so Kumar. Dafür ist der Kampf gegen den Glauben an sogenannte Godmen, „Gottesmänner“, in Gestalt von Hindu-Asketen und charismatischen Gurus, ein zentrales Thema in der Region. „Und obwohl wir hier eine der höchsten Alphabetisierungsquoten in Indien haben, gibt es viele Gottesmänner in Kerala“, erzählt Anil Kumar. Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben reicht deshalb nicht aus, um bei Menschen den irren Aberglauben zu lösen. Gottesmänner behaupten, magische Kräfte zu besitzen und eine Vielzahl von Krankheiten heilen zu können, etwa durch Übertragung von göttlicher Energie durch ihre Fußsohlen. Fernsehkameras dokumentierten in der Vergangenheit die barbarischen Rituale, in denen Gottesmänner auf kleinen Kindern buchstäblich herum trampelten. 

Neben weiterer Bildung braucht die Gesellschaft in Indien daher auch gerechtere Wirtschaftsverhältnisse, die die dramatische Armut verhindern, und Maßnahmen zur Beschränkung von abergläubischen Praktiken, findet er ebenfalls. Seine Organisation selbst kümmert sich um Schulen für Kinder und soziale Projekte, in denen die ärmeren Menschen eine praktische Berufsausbildung erhalten.

Seit 14 Jahren ist Yukthi Vadi Sanghom für die Umsetzung dieser Ziele aktiv, rund 5.000 Mitglieder zählt die Organisation in Kerala heute – der Bundestaat hat über 33 Millionen Einwohner. Kumar: „Es ist hier sehr schwierig, für humanistische und rationale Ideen zu werben.“ Der Kontakt mit Gleichgesinnten in Indiens Nachbarländern ist ausreichend, findet er. Große Missstände gebe es aber im Austausch mit Organisationen in Europa und den Vereinigten Staaten. „Ich denke, wir haben überall die ähnlichen Probleme“, glaubt Kumar. „Wir sollten vielleicht mehr zusammenarbeiten. Sonst schaffen wir es vielleicht nicht so gut wie wir könnten.“

 

 

Arik Platzek