LUXEMBURG. (hpd) Vergangene Woche entschied die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs, auf Verfahren mit menschlichen Stammzellen dürfe kein Patent erteilt werden. Ihre Argumentation weist bei der Analyse eine vollkommene Übereinstimmung mit der extremsten aller ideologischen Ansichten auf, nämlich der Position der vatikanischen theologischen Lehre, nach der eine befruchtete Eizelle bereits ein Mensch sei und damit Menschenwürde habe.
Kürzlich, am 18.10.2011, hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg ein folgenreiches und, wie sich zeigen wird, recht seltsames Urteil verkündet (siehe dazu die Presseerklärung). Es dürfe kein Patent auf Verfahren mit menschlichen Stammzellen erteilt werden, wenn dabei Embryonen zerstört würden. Das verstoße gegen die Menschenwürde und sei sittenwidrig (!). Das Urteil beeinträchtigt die europäische Forschung und Anwendung ihrer Ergebnisse zum Wohl unzähliger kranker Menschen. Aber mit dieser Negativwertung steht man nicht nur im Konflikt mit dem Vatikan, sondern auch mit der politisch und moralisch geachteten Umweltschutzorganisation Greenpeace und vielen Politikern. Europäische Stammzellforscher hatten aber vorsorglich gegen ein mögliches Verbot einer Patentierung protestiert (offener Brief in der Wissenschaftszeitschrift Nature vom 28.4.2011). Worum geht es?
Verfahrensgang
Der jetzt in Bonn forschende Prof. Oliver Brüstle hatte bereits 1997 – zunächst erfolgreich – ein deutsches Patent angemeldet, das unter Verwendung embryonaler Stammzellen im Ergebnis die Transplantation von Hirnzellen in das Nervensystem ermöglicht mit dem Ziel der Behandlung zahlreicher neurologischer Erkrankungen, insbesondere der Parkinson-Krankheit. Das Patent befasst sich mit den technischen Problemen, isolierte „Vorläuferzellen“ (vermehrungsfähige unreife Körperzellen), die aus „totipotenten“ (allseits entwicklungsfähigen) embryonalen Stammzellen gewonnen sind, mit speziellen neuronalen und anderen Eigenschaften unbegrenzt herzustellen. Es geht darum, aus embryonalen Stammzellen gezielt Ersatzzellen für das Gehirn und das Rückenmark zu produzieren.
Das Bundespatentgericht hat das Patent auf Klage von Greenpeace hin bezüglich der Gewinnung der Vorläuferzellen für nichtig erklärt. Beim Bundesgerichtshof (BGH) ist dazu ein Berufungsverfahren anhängig. Wegen des dabei auch anzuwendenden höherrangigen Europarechts hat der BGH beschlossen, das Berufungsverfahren auszusetzen und dem EuGH eine größere Zahl von Rechtsfragen zum europarechtlichen Verständnis des Begriffs „menschliche Embryonen“ zur Vorabentscheidung vorzulegen, die der BGH für entscheidungserheblich hielt. Dabei hatte der EuGH natürlich auch die Argumente von Prof. Brüstle und den o.g. 13 Stammzellforschern zu berücksichtigen, die multinationale europäische Stammzell-Projekte koordinieren. Sie waren besorgt, weil die Entwicklungen ohne die Mitwirkung des privaten Sektors nicht in biomedizinische Anwendungen überführt werden könnten. Innovative Unternehmen benötigten den Patentschutz als Anreiz, wenn sie in Europa aktiv werden sollen. Bei einer Entscheiung gegen Prof. Brüstle könnten europäische Forschungsergebnisse anderswo in die Praxis umgesetzt werden.
Das Verfahren vor dem EuGH
Im Kern ging es um die Auslegung des Art. 6 der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und Rates vom 6.7.1998 betreffend den Schutz biotechnologischer Erfindungen. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift sind „Erfindungen, deren gewerbliche Verwertung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen“, von der Patentierbarkeit ausgenommen. Nach Abs. 2 c gilt als nicht patentierbar u.a. „die Verwendung von menschlichen Embryonen zu industriellen oder kommerziellen Zwecken“.
Zusammengefasst hat der EuGH dazu entschieden (Hervorh. vom Verf.):
„Eine Erfindung ist nach Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 von der Patentierung ausgeschlossen, wenn die technische Lehre, die Gegenstand des Patentantrags ist, die vorhergehende Zerstörung menschlicher Embryonen oder deren Verwendung als Ausgangsmaterial erfordert, in welchem Stadium auch immer die Zerstörung oder die betreffende Verwendung erfolgt, selbst wenn in der Beschreibung der beanspruchten technischen Lehre die Verwendung menschlicher Embryonen nicht erwähnt wird.“
„Der Ausschluss von der Patentierung …bezieht sich auch auf die Verwendung zu Zwecken der wissenschaftlichen Forschung, und nur die Verwendung zu therapeutischen oder diagnostischen Zwecken, die auf den menschlichen Embryo zu dessen Nutzen anwendbar ist, kann Gegenstand eines Patents sein.“ - Ob eine Stammzelle, „die von einem menschlichen Embryo im Stadium der Blastozyste [Stadium ungefähr 5 Tage nach der Befruchtung] gewonnen wird, einen „menschlichen Embryo“ im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 darstellt“, müssten die nationalen Gerichte entscheiden.
Einordnung des Urteils und Kritik
Die Definition des EuGH zum Begriff „Embryo“ stellt eine vollkommene Übereinstimmung mit der Extremposition der vatikanischen theologischen Lehre dar: „Jede menschliche Eizelle vom Stadium ihrer Befruchtung an, jede unbefruchtete menschliche Eizelle, in die ein Zellkern aus einer ausgereiften menschlichen Zelle transplantiert worden ist, und jede unbefruchtete menschliche Eizelle, die durch Parthenogenese zur Teilung und Weiterentwicklung angeregt worden ist, ist ein ‚menschlicher Embryo‘ “, erklärt der EuGH.
Das wirft Fragen auf, denn selbst nach dem ideologisch hoch aufgeladenen 1. Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch von 1975 ist das werdende Leben erst ab dem 14. Tag nach der Befruchtung geschützt, denn erst mit diesem Zeitpunkt der Einnistung in die Gebärmutter ist die Individualisierung abgeschlossen. (Trotzdem können nach deutschem Strafrecht Abtreibungen noch in einem viel späteren Stadium in großem Umfang durchgeführt werden.) Das Embryonenschutzgesetz von 1990 geht noch weiter und definiert – wie der EuGH – das menschliche Entwicklungsstadium bereits ab der Befruchtung als Embryo. Andererseits lässt es (unlogisch) eine künstliche Befruchtung zu, wobei zwangsläufig ein Teil der Embryonen abstirbt. Da diese Embryonen jedenfalls Embryonen im Sinn des EuGH sind, unterliegen sie folgerichtig dem Verdikt des EuGH, das verstoße gegen die „guten Sitten“.
Das Urteil des EuGH wirkt daher schon deshalb recht seltsam, weil es noch strenger ist als die (in sich widersprüchliche) deutsche Rechtslage. Dabei ist das deutsche Embryonenschutzrecht, soweit ersichtlich, ohnehin das strengste in Europa, und es ermöglicht eine inländische Stammzellforschung nur unter Inkaufnahme von Inkonsequenz.
Vollends unverständlich ist die Entscheidung mit ihrer Behauptung, der Patentschutz sei im angegebenen Umfang zu verweigern, weil europarechtlich ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliege. Eine juristische Ableitung dieser Behauptung aus dem Recht der EU ist nicht nur dürftig, sondern im Grunde überhaupt nicht erfolgt. Erforderlich sei eine unionseinheitliche Bestimmung des Begriffs Embryo. Ziel der Regelung sei einerseits die Förderung der Biotechnologie, andererseits die Wahrung der „Menschenwürde“. Daher sei der Begriff des menschlichen Embryos „weit auszulegen“, so dass die Befruchtung des Eies maßgeblich sei.
Es wird überhaupt nicht diskutiert, was der Inhalt des (nicht bekannten) europarechtlichen Menschenwürdebegriffs sein soll (dazu eingehend Felix Ekardt/Daniel Kornack, 2010 ). Dazu gibt es bisher noch keine aussagekräftige Rechtsprechung des EuGH. Dabei hat man bisher bei den Grundrechten jahrzehntelang auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der (jetzt 27) EU-Staaten abgestellt und niemals den größten Schutzstandard für alle vorgeschrieben. Gerade beim Embryonenschutz sind die Regelungen der Länder aber recht uneinheitlich.
Auch eine Abwägung mit den Erfordernissen der Forschung ist nicht erfolgt. Vielmehr hat der EuGH die extremste aller ideologischen Ansichten, nämlich diejenige, die (unausgesprochen) mit der katholischen Lehre vollkommen übereinstimmt, ohne Erörterung im Urteil allen 27 Staaten aufgezwungen: ein beispielloser Vorgang. Er ist auch deswegen so ungewöhnlich, weil das völlig säkulare EU-Recht keinerlei originäre religiös-ideologische Kompetenz hat und die religiös-weltanschauliche Gleichberechtigung (alles in allem) trotz religionsfreundlicher Ausnahmeregelungen stets ein besonderes Merkmal der europarechtlichen Gesetzgebung und Rechtsprechung war. Interessant wären die wahren Gründe, die 13 Richter aus 13 Staaten veranlasst haben, ein derart ideologisch einseitiges und im Knackpunkt skandalös begründungsloses Urteil zu verkünden.
Die theologische Hintergrundproblematik
Man muss sich vor Augen halten, dass das befruchtete menschliche Ei, dem man verbal die Würde eines geborenen Menschen zuerkennt, lediglich 1/1000 mm groß ist und der Embryo ein paar Tage später auch kaum größer. Der Hintergrund der These von der Menschenwürde des befruchteten Eis ist die theologische Überzeugung von der göttlichen Beseelung des Menschen mit einer unsterblichen Seele bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle. Diese theologisch erst seit dem 19. Jh. stark propagierte These wird vor allem von der katholischen Amtskirche vertreten. Zuvor galt die These der Sukzessivbeseelung: nach Thomas v. Aquin erfolgte sie beim Mann 40 Tage nach der Empfängnis, bei der Frau nach 80 Tagen (Anlehnung an Aristoteles). Selbst der Katechismus der Kath. Kirche von 1993 geht auf die offizielle erst seit 1869 geltende entscheidende Lehre von der „Simultanbeseelung“ gar nicht mehr ein. Zuvor galt praktisch eine katholische Fristenlösung, weil der Zeitpunkt der Empfängnis nicht nachweisbar war.
Auf die diversen behaupteten (sämtlich juristisch und rechtsphilosophisch widerlegten) nichtreligiösen Argumente zugunsten der Menschenwürde des befruchteten Eies kann nicht hier eingegangen werden. Jedenfalls kann von wirklich individuellem Leben bis zur Nidation (14. Tag) keine Rede sein, da sich der Embryo bis dahin noch mehrfach teilen kann und erst dann das genetische Programm vollständig ist. Auch werden viele Embryonen vom Körper ganz natürlich abgestoßen. Theologisch unklar ist, was bei einer Embryonenteilung mit der Seele geschieht.
Juristisch defizitäres Urteil – Quelle des Unfriedens
Auch, wer die hier nicht diskutierten Beweggründe des Patentierungsgegners Greenpeace akzeptiert, muss sehen, dass das Gericht in den entscheidenden Punkten keine Begründung und Güterabwägung vorgenommen hat. Die Entscheidung stiftet Unfrieden, behindert die Bemühungen um die Heilung neurologischer Erkrankungen und untergräbt das Vertrauen in eine korrekte Justiz. Die fehlende Zurückhaltung in derart umstrittenen ideologischen Fragen ist unverständlich.
Gerhard Czermak
Dr. Gerhard Czermak beschäftigt sich seit langem kritisch mit der herrschenden Auslegung des Grundgesetzes im Bereich des Religionsverfassungsrechts (traditionell: "Staatskirchenrecht").