Das Molekül der Nächstenliebe

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Oxytocin-Molekül/wikipedia

(hpd) Nächstenliebe und Moral sind zentrale Werte der christlichen Ethik. Für viele Eltern, selbst dann wenn sie selbst nicht gläubig sind, gehören diese zu den wichtigsten Motiven, ihre Kinder in den Religionsunterricht zu schicken. Für diese Leute muss die wissenschaftliche Entdeckung wie ein Schlag ins Gesicht anmuten, dass für Nächstenliebe, Mitgefühl und Moral fast ausschließlich ein chemischer Stoff namens Oxytocin verantwortlich ist.

Oxytocin ist eine kurze Aminosäurenkette, die als Botenstoff zwischen den Nervenzellen arbeitet. Der Stoff wurde erstmals 1953 von dem amerikanischen Chemiker Vincent du Vigneaud isoliert und später auch synthetisiert. Dafür erhielt er zwei Jahre später den Nobelpreis für Chemie. Als eine der ersten Eigenschaften des Hormons fand man heraus, dass es eine besondere Rolle bei der Geburt und danach spielt. Seine Ausschüttung führt unter anderem zu einer Stärkung der emotionalen Bindung zwischen Mutter und Kind. Die generelle Korrelation von Oxytocin mit altruistischem Verhalten wurde aber erst in neuerer Zeit entdeckt und weiter untersucht. So hat Michael Kosfeld an der Universität Zürich Experimente gemacht, bei denen er Probanden ein Investorenspiel mit echtem Geld durchführen ließ. Bei einem Teil der Testpersonen erhöhte er den Oxytocin-Spiegel durch ein Nasenspray. Diese hatten danach mehr Vertrauen gegenüber ihren Spielpartnern und waren eher bereit, einen größeren Teil ihres Geldes abzugeben.

„Doktor Love“

Besonders umfangreiche Untersuchungen der Wirkung von Oxytocin hat der Amerikaner Paul Zak gemacht. Er ist Professor an der Claremont Graduate University in Südkalifornien. Dort leitet er auch das Center for Neuroeconomics. Er schrieb das Buch Moral Markets: The Critical Role of Values in the Economy (Princeton University Press, 2008). Nächstes Jahr wird sein neues Buch mit dem Titel The Moral Molecule erscheinen. Er hat nicht nur Versuche mit Probanden im Labor gemacht, sondern hat auch Personen in besonderen Lebenssituationen untersucht. So entnahm er z. B. bei einer Hochzeit im Bekanntenkreis allen Beteiligten vor und unmittelbar nach der Zeremonie Blutproben und untersuchte diese auf den Oxytocingehalt. Wie fast zu erwarten war, lag dieser Spiegel nach der Zeremonie bei der Braut und ihrer Mutter am höchsten.

Oxytocin wird vom Körper selbst in der Hirnanhangdrüse erzeugt. Ausgeschüttet wird es insbesondere bei intensiven sozialen Kontakten wie Umarmen, Streicheln, Kuscheln, Sex und Massagen aber auch beim Singen. Das hat dazu geführt, dass man auch vom Orgasmushormon, Kuschelhormon oder Treuehormon spricht. Weiterhin wird angenommen, dass die positive Wirkung alternativer Heilmethoden wie z. B. Meditation und Hypnotherapie auf der Ausschüttung von Oxytocin beruht.

Es wäre nun aber falsch, wenn man die Wirkungskette ausschließlich in Richtung Ausschüttung des Hormons als Folge sozialer Kontakte und Handlungen sehen würde. Vielmehr ist es selbst auslösende Ursache für Mitgefühl und moralisches Verhalten. Dieses kann man experimentell nachweisen, indem man den Oxytocinspiegel künstlich erhöht und danach die Änderungen im sozialen Verhalten untersucht.

Bei einem Anteil von etwa fünf Prozent der Bevölkerung ist allerdings die Ausschüttung von Oxytocin gestört. Die Ursache dafür liegt häufig in der frühkindlichen Erfahrung. Wächst ein Kind ohne Zuneigung und körperlichen Kontakt zu seinen Eltern auf, so erlernt das Gehirn diese Funktion nicht richtig. Paul Zak bezeichnet solche Leute im Laborjargon als Fieslinge. Eine Fehleinschätzung wäre es aber, wenn man glauben würde, dass man die Welt verbessern könnte, indem man den Leuten Oxytocin einflößt. Die Wirkung von Hormonen ist sehr komplex. So hat z.B. die Arbeitsgruppe von Carsten K.W. De Dreu herausgefunden, dass Oxytocin zu einer defensiven Aggression gegenüber Außenseitern führt. Die Förderung der Nächstenliebe beschränkt also mehr auf die eigene Gruppe bzw. die nächsten Verwandten.

Ein Hormon, das zum Oxytocin eher gegenteilige Wirkungen zeigt, ist das männliche Geschlechtshormon Testosteron. Es führt zu mehr egoistischem Verhalten und zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft. Aber auch hier sind die Wirkungen komplex, denn immerhin ist dieses Hormon ja für die Fortpflanzung wichtig. Man kann also nicht generell von guten und von schlechten Hormonen sprechen. Auf jeden Fall legen die beschriebenen Zusammenhänge nahe, dass unser Verhalten zu einem ganz erheblichen Teil von Hormonen gesteuert wird. Das moralische Gesetz, das Immanuel Kant in uns allen vermutet hat, ist nichts anderes als ein chemischer Botenstoff, der sich im Laufe der Evolution bei Säugetieren entwickelt hat. Die These, dass Moral letztlich eine freie Willensentscheidung zum guten Handeln ist, wäre damit widerlegt.

Das folgende Video zeigt einen Vortrag von Paul Zak bei TED zu der Frage, woher Moral kommt und warum Oxytocin verantwortlich ist für Vertrauen, Empathie und anderen Gefühlen, die helfen, eine stabile Gesellschaft zu bilden.

 

Das Fazit seiner Untersuchungen ist: Wir brauchen weder Gott noch Regierung, um zu wissen, wie man sich moralisch verhält. Seine Empfehlung, um den eigenen natürlichen Oxytocin-Spiegel zu erhöhen, ist, pro Tag achtmal jemanden zu umarmen. Das hat ihm den Spitznamen „Dr. Love“ eingebracht.

Bernd Vowinkel