Kreationismus in Europa

ASCHAFFENBURG. (hpd) Vergangene Woche fand an der Universität Gent, Belgien, ein internationaler Workshop zum Thema "The history of creationism in Europe" statt. Prof. Ulrich Kutschera war einer der Redner und berichtete über die „unakzeptable kreationistische Unterwanderung des Biologieunterrichts“ in Deutschland, der bundesweit rund 33.000 Schüler ausgesetzt sind. Der hpd befragte den Evolutionsbiologen zu diesem Meeting.

hpd: Herr Prof. Kutschera, was ist Kreationismus?

Ulrich Kutschera: Wir verstehen darunter einen wörtlich verstandenen, auf biologische Phänomene übertragenen biblischen Schöpfungsglauben, der in der Regel von christlichen Fundamentalisten vertreten wird, aber es gibt auch kreationistische Vereinigungen in anderen Religionen. Weiterhin könnte man darüber diskutieren, ob nicht auch unsere beiden Amtskirchen, insbesondere der amtierende Papst, kreationistisches Gedankengut verbreiten.

 

hpd: Bleiben wir beim Bibel-Glauben. Sie waren in Gent mit dem Vortrag "Creationism in Germany and the Basic Types of Life" vertreten. Wie haben Sie die aktuelle Situation in Deutschland dargestellt?

U. Kutschera: Neben den Zeugen Jehovas und anderen kleineren christlichen Sekten ist in Deutschland insbesondere die "Studiengemeinschaft Wort und Wissen (W+W)" mit der Verbreitung des biblischen Schöpfungsglaubens, u. a. auch im Biologieunterricht, beschäftigt. Diese Gruppe evangelikal-fundamentalistischer Christen ist seit 25 Jahren mit einem sogenannten "evolutionskritischen Lehrbuch" auf dem Buchmarkt vertreten. Dort wird eine unakzeptable Vermischung religiöser Glaubensinhalte und biologischer Fakten dargeboten, die ich in meinen Fachbüchern zu diesem Thema als "Theo-Biologie" bzw. "Pseudowissenschaft" bezeichnet habe. Weiterhin wird über Videos bzw. DVDs mit Titeln wie "Hat die Bibel doch Recht? Der Evolutionstheorie fehlen die Beweise" die Bio-Religion der W+W-Kreationisten öffentlichkeitswirksam verbreitet.

 

hpd: Warum ist diese in Süddeutschland angesiedelte christliche Glaubensgemeinschaft seit Jahren so erfolgreich, obwohl Sie und andere Biologen deren Argumente in Büchern, Publikationen in Nature und in aktuellen Lehr-Videos widerlegt haben?

U. Kutschera: Als vor zehn Jahren mein Kurz-Lehrbuch "Evolutionsbiologie. Eine allgemeine Einführung" erschien, in dem die Argumente der W+W-Kreationisten Punkt für Punkt aufgelistet und widerlegt sind, wurde eine öffentliche Kontroverse "Evolution contra Kreation" eröffnet. Über Jahre hinweg hatte die "Arbeitsgemeinschaft (AG) Evolutionsbiologie" im aufgelösten Verband Deutscher Biologen (VdBiol) eine offene Debatte mit den W+W-Theo-Biologen ausgetragen. Diese Diskussionen haben 2007 zu dem von mir herausgegebenen Sammelband "Kreationismus in Deutschland" geführt, in dem im Grunde alles Wesentliche gesagt ist. Der Erfolg der W+W-Sekte ist u. a. auf die erheblichen Geldmittel zurückzuführen, die von bibeltreuen, evangelikalen Christen aufgebracht werden, um der "atheistische Biologie" eine "theistische Alternative" entgegenzusetzen. Leider verfügt der seit zwei Jahren etablierte Arbeitskreis (AK) Evolutionsbiologie im reformierten Biologenverband VBiO über keine derartigen Zuwendungen: mit "gottlosen" Konzepten findet man hierzulande nur schwer Sponsoren.

 

hpd: Religiöser Glaube wird somit über Privatpersonen gefördert, während die deutschen Biologen mit ihrer Aufklärungsarbeit auf Eigeninitiative angewiesen sind?

U. Kutschera: Das ist leider Realität in Deutschland. Im AK Evolutionsbiologie, der sich u. a. auf die Verbreitung von Lehr-Videos spezialisiert hat, wird ausschließlich ehrenamtlich gearbeitet. Wir haben über unsere ab Juni 2010 veröffentlichte YouTube-Serie "Tatsache Evolution" (Video Nr. 8 ist in Vorbereitung), die inzwischen zu einem eigenen "Channel" ausgebaut wurde, eine erfreuliche Außenwirkung. Unser Kanal wird pro Woche über 800 mal aufgerufen, wobei die Verbreitung der Filme über die Bildungsserver der Bundesländer hinzugerechnet werden muss. Trotz dieser Erfolge müssen wir feststellen, dass die Studiengemeinschaft W+W Anfang Oktober 2011, und somit zum Beginn der Schul-Info-Veranstaltungen, eine neue Internet-Werbekampagne mit bunten Download-Flyern usw. gestartet hat. Diese Aktion habe ich auf dem Workshop an der Universität Gent vorgestellt.

 

hpd: Wie haben Ihre Kollegen aus Europa und den USA auf diese und andere Informationen aus Deutschland reagiert?

U. Kutschera: Obwohl der Kreationismus und andere anti-wissenschaftliche Strömungen europaweit ein wachsendes Problem darstellt, war man über die Situation in Deutschland betroffen. In keinem anderen Land Europas wird ein als Lehrbuch getarntes Machwerk so gut verkauft wie hier: Das von dem evangelikalen Christ und Verleger U. Weyel zu einem Niedrig-Preis vertriebene, bunt bebilderte Kreationisten-Sammelwerk "Reinhard Junker & Siegfried Scherer: Evolution – ein kritisches Lehrbuch, 6. Auflage 2006 (7. Auflage 2012 in Vorbereitung)" ist u. a. auch in den Niederlanden und in Russland in Übersetzungen verbreitet. Die Autoren Junker/Scherer pervertieren die Wissenschaft, um ihren speziellen "Junge-Erde-Intelligent-Design (ID)-Kreationismus Made in Germany" im Biologieunterricht zu verankern. Ein "National Center for Science Education (NCSE)", wie in den USA, gibt es in Europa leider nicht, so dass die Kreationisten hier im Grunde Narrenfreiheit genießen und Laien, bis hin zum amtierenden Papst, mit ihrer theistischen Pseudo-Biologie in die Irre führen können.

 

hpd: Die Grundtypen-Biologie der SG W+W klingt aber nach Wissenschaft, lernen die Schüler denn etwas Falsches?

U. Kutschera: Ja, denn die Junge-Erde-Kreationisten Junker und Scherer verkaufen ihren privaten wörtlichen Bibelglauben unter dem Deckmantel der Wissenschaft. Die unter dem Adam und Eva-Mythos abgeleiteten "erschaffenen Grundtypen" werden auf andere Organismengruppen übertragen (z. B. "Hundeartige", "Kernobstgewächse" usw.) und als "genetisch polyvalente Stammformen" bezeichnet. Laien erkennen nicht, dass hier ein biblisches Dogma, vermengt mit pervertierten, ausgewählten Einzelbefunden der Life Sciences, als "Biologie" verkauft wird. Ich möchte an dieser Stelle meine Bewertung dieses W+W-Dogmas im aktuellen Zeit Online-Artikel "Bibeltreuer Biologieunterricht" vom 12. Oktober 2011 wiederholen: Wissenschaftliche Fakten und religiöse Glaubensinhalte im Biologieunterricht zu vermischen, ist verantwortungslose Volksverdummung.

 

hpd: In dem von Ihnen angesprochenen Zeit-Artikel des Journalisten Bernd Kramer wird von 92 evangelikalen Privatschulen gesprochen. Werden die Schüler dort im Biologieunterricht religiös indoktriniert?

U. Kutschera: Davon müssen wir ausgehen, mir liegen Berichte vor, die das belegen. Das Grundtypen-Buch des Theologen Junker und dem Junge-Erde-Mikrobiologen Scherer, der übrigens über seine Uni-Webpage an der TU München Beiträge im W+W-Studium Integrale-Kreationisten-Journal als seriöse Wissenschaft darbietet, wird in diesen Schulen im Biologieunterricht benutzt. Die süddeutsche Sekte verweist auf ihrer W+W-Webpage ausdrücklich auf "evangelische Bekenntnisschulen", wo offensichtlich das Propaganda-Werk des deutschen ID-Kreationismus positiv aufgenommen wird. Das Wort "evangelisch" statt "evangelikal" ist übrigens bemerkenswert: Da sich die EKD in keiner mir bekannten Stellungnahme davon distanziert hat, wird offensichtlich diese unakzeptable kreationistische Unterwanderung des Biologieunterrichts, den bundesweit ca. 33.000 Schüler ertragen müssen, von der evangelischen Amtskirche befürwortet. Auch der Papst, der u. a. in einer publizierten Rede aus dem Junker-/Scherer-Buch zitiert, hat sich bisher nicht zu dieser Problematik geäußert.

 

hpd: Was können wir tun, um dem Kreationismus im Biologieunterricht in staatlich geförderten Privatschulen entgegenzuwirken?

U. Kutschera: Auf dem internationalen Workshop in Gent wurde dieses Problem ausführlich diskutiert. Unsere beiden Kollegen aus den USA haben auf die Aufklärungsarbeit des NCSE verwiesen, eine Organisation, mit der ich übrigens während meiner Stanford-Aufenthalte regelmäßig in persönlichem Kontakt stehe. Unter Mitwirkung des NCSE wurde z. B. im Dezember 2005 von einem Richter in einem 139 Seiten langen Urteil verkündet, dass "Intelligent Design", eine evolvierte Form des Kreationismus, keine Wissenschaft, sondern Religion ist, und daher im US-Biologieunterricht nicht gelehrt werden darf. Hier in Deutschland sind wir von so einer klaren juristischen Aussage weit entfernt.

 

hpd: Sie haben in Ihrem aktuellen Buch u. a. die Geschichte des Kreationismus, ausgehend von Charles Darwin und Ernst Haeckel, dargestellt. Welchen Bezug können Sie zur aktuellen Debatte herstellen?

U. Kutschera: Es wäre hilfreich, zu den diesbezüglichen Worten des Urvaters der Evolutionsforschung, Charles Darwin (1809-1882), zurückzukehren. Im Buch Darwiniana Nova (2011) habe ich ein vergessenes Darwin-Zitat wiedergegeben. Wir sollten, so Darwin, mit den Kreationisten "Mitleid und Nachsicht" haben, denn "den Strom der Wahrheit können sie nur vorübergehend aufhalten, aber niemals dauernd hemmen". Charles Darwin würde sich im Grabe herumdrehen, wenn er wüsste, dass die Kreationisten noch heute die notwendige Trennung von Wissen und Glauben nicht verstanden haben. Dieses Prinzip habe ich in einem Beitrag in Nature 2008 als "Darwins philosophischen Imperativ" bezeichnet und dafür von bibeltreuen Evolutions-Gegnern der USA eine Reihe beleidigender Zuschriften erhalten.

 

Die Fragen stellte Fiona Lorenz

 

Der an der Universität Kassel und in Stanford (USA) arbeitende Evolutionsbiologe Prof. Ulrich Kutschera ist über seine Bücher, Publikationen und Lehr-Videos als ein Vorkämpfer für ein konsequent-naturalistisches Weltbild bekannt.

Aktuelle Literatur zum Thema Glaube contra Wissen/Kreationismus

Ulrich Kutschera: Darwiniana Nova. Verborgene Kunstformen der Natur. LIT-Verlag, Münster, 2011, 270 Seiten, 340 Abb., kart., 19,90 €, ISBN 978-3-643-10378-9.

Im nächsten Jahr wird aus den Vorträgen an der Universität Gent, Belgien, eine Monographie im Verlag Johns Hopkins University Press (Baltimore, USA) erscheinen. Auf Einladung von Dr. Stefaan Blancke und Prof. Johann Braeckman trafen sich 15 Wissenschaftler aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Niederlande, Spanien und Russland mit Vorträgen zum Kreationismus in Europa. Unter fachlicher Beratung der US-Professoren Barbara Forrest und Ronald Numbers wurde das Problem umfassend diskutiert. Ulrich Kutscheras Darstellungen sollen in der englischsprachigen Monographie ein Kapitel ergeben. Seine Position hat er bereits in seinen Büchern und Artikeln im Fachjournal Reports of the NCSE fundiert dargelegt.

Videos zum Thema Kreationismus in Deutschland:
YouTube-Kanal des AK Evolutionsbiologie im Deutschen Biologenverband (VBiO).