„Handbuch des Antisemitismus“, Band 1

(hpd) Das auf sieben Bände angelegte „Handbuch des Antisemitismus“ will die Erkenntnisse der interdisziplinären Forschung zur Judenfeindschaft im Sinne eines Nachschlagewerkes zugänglich machen.

Einerseits kann der hohe Gebrauchs- und Informationswert gar nicht hoch genug eingeschätzt werden, andererseits lassen sich aber auch konzeptionelle Mängel in Inhalt und Struktur des ersten Bandes zu „Länder und Regionen“ nicht verschweigen.

Mit dem „Handbuch des Antisemitismus“ hat sich das Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin ein ambitioniertes und wichtiges Projekt vorgenommen. In sieben Bänden sollen in Form von Lexikonartikeln die wichtigsten Informationen zur Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart ohne räumliche und zeitliche Begrenzung zusammengetragen werden. Dabei plant man für die einzelnen Ausgaben unterschiedliche Schwerpunkte „Länder und Regionen“ (Band 1), „Personen“ (Band 2), „Begriffe, Theorien, Ideologien“ (Band 3), „Ereignisse, Dekrete, Kontroversen“ (Band 4), „Organisationen, Institutionen, Bewegungen“ (Band 5), „Publikationen“ (Band 6) und „Film, Theater, Literatur und Kunst“ (Band 7). Der erste Band, der von dem langjährigen Leiter des Zentrums Wolfgang Benz herausgegeben wurde, enthält demnach 85 Artikel zum Antisemitismus in einzelnen Ländern und Regionen. Sie wollen alphabetisch geordnet die wichtigsten Informationen zum Thema mit weiterführenden Literaturhinweisen präsentieren.

Dabei liegt der Schwerpunkt zwar auf Europa, was an der entsprechenden Länge der einzelnen Artikel unschwer abzulesen ist. Gleichwohl sind auch ausführliche Artikel zu anderen Regionen der Welt enthalten. Dies gilt insbesondere für den arabischen Raum, wo es nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zum Aufblühen des Antisemitismus im Kontext der Konfrontationspolitik mit Israel kam. Aber auch die Beiträge zu den osteuropäischen Ländern, wo es ab 1990 zu einer Renaissance von Judenfeindschaft kam, verdienen aufgrund der Aktualität des Themas inhaltliches Interesse. Dass es sich beim Antisemitismus um ein globales Phänomen handelt, machen darüber hinaus die Beiträge zu den asiatischen und lateinamerikanischen Ländern deutlich. Jeder Artikel sollte nach den Worten des Herausgebers zunächst die Situation der Juden in den jeweiligen Ländern behandeln, danach auf die Interaktion von Mehrheit und Minderheit eingehen und schließlich ausführlich über die Formen und Protagonisten des Antisemitismus ebendort berichten.

Da es bislang an einem einschlägigen Handbuch mangelte, ist die Herausgabe eines solchen Werkes schon Grund genug für Anerkennung und Lob. Auf engem Raum kann man so wichtige Informationen zu den unterschiedlichsten Aspekten des Antisemitismus finden und erhält weiterführende Hinweise zur intensiveren Beschäftigung mit dem jeweiligen Spezialthema.

Bei aller Anerkennung für dieses Projekt können aber kritische Bemerkungen für den ersten Band nicht unterbleiben. Zunächst fällt auf, dass den Autoren aus unterschiedlichen Ländern und Wissenschaftsdisziplinen kein einheitlicher Arbeitsbegriff von „Antisemitismus“ für ihre Beiträge vorgegeben wurde. Benz selbst nimmt im Vorwort nur eine kurze Typologie vor, welche religiös motivierten christlichen Antijudaismus, rassistisch begründeten Antisemitismus, sekundären Antisemitismus und Antizionismus unterscheidet. Mit dieser Einordnung könnte man aber antisemitische Auffassungen wie die vom „jüdischen Finanzkapital“ oder von der „jüdischen Verschwörung“ typologisch gar nicht erfassen.

Auch in den einzelnen Länderportraits geht es mit den Bezeichnungen „antijüdisch“, „antisemitisch“ und „antizionistisch“ ständig durcheinander. Manchmal nutzen die Autoren die Bezeichnungen offenkundig synonym, manchmal macht man wohl Unterschiede. Eine Begründung oder Erläuterung findet man leider weder für die eine noch für die andere Vorgehensweise. Darüber hinaus unterscheiden sich die einzelnen Artikel in Analyse- und Informationsgehalt. Zu Ägypten erhält man gleich am Beginn eine Einteilung von Stereotypen (vgl. S. 11f.), die in vielen anderen Beiträgen fehlt. Der Text zu Italien widerlegt die Auffassung, das faschistische Regime sei nur spät und verhalten antisemitisch gewesen (vgl. S. 170). Gerade solche Stellen stehen für die Stärken des Handbuchs. An einer bilanzierenden Einschätzung des Gefahrenpotentials in den jeweiligen Ländern mangelt es aber nicht selten: Mitunter bleibt unklar, ob einzelne aktuelle Ereignisse mehr für einen gesellschaftlichen Entwicklungstrend oder marginale Phänomene stehen.

Armin Pfahl-Traughber

 

Wolfgang Benz (Hrsg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 1: Länder und Regionen, Berlin 2008 (Neuausgabe 2011) (Walter de Gruyter-Verlag), 443 S., 99,95 Euro.