Vollends in die Welt der Absurditäten wurde das Publikum geführt, als der Psychologe und Autor Colin Goldner über tibetischen Buddhismus referierte: „Das Phallusgefährt“ zeigte die vor allem sexuellen Besonderheiten des tibetischen Buddhismus à la Dalai Lama auf. Dieser Vajrayana-Buddhismus hat – bis auf die Begrifflichkeiten – mit anderen Formen des Buddhismus nichts zu tun, ist zum Teil gar in deren Gegenteil verkehrt.
Die Phallus-Variante verspricht der Kaste der Lamapriester die Möglichkeit, innerhalb eines einzigen Lebens Erleuchtung zu erlangen und aus dem leidvollen Kreislauf der Wiedergeburten auszusteigen. Und zwar durch rituelle Sexualpraktiken mit realen Frauen unter (Pseudo-) Beibehaltung des Zölibats. Wie ist das nur möglich? Für die geheimen Praktiken, die den Vajrayana-Mönchen nicht einmal bekannt sind – diese müssen masturbieren und sich Frauen dabei nur vorstellen – werden Frauen benötigt, denen weisgemacht wird, sie könnten durch Sex mit einem Lama positives Karma erwerben und dann vielleicht in einem späteren Leben als Mann, vielleicht gar als Lama, wiedergeboren zu werden. Ihre Verwandten werden durch Einschüchterung und Höllendrohungen gefügig gemacht. Die Rituale beinhalten körperliche Ausscheidungen jeder Art (Sperma, Menstruationsblut, Kot) sowie Fleisch (Elefanten, Hunde, Menschen), die verspeist werden. Ziel der Übungen ist es, nicht zu ejakulieren, sondern die weibliche Energie mit dem Penis aus deren Körpern auszusaugen und diese im Lama-Gehirn aufzunehmen, auf dass er ein Übermensch werde. Da inzwischen auch amerikanische Frauen missbraucht wurden, die Verfahren gegen Lamas anstrengten, wurden diese Praktiken bekannt. (Wer sich etwas ausführlicher mit dem Thema befassen möchte, kann dies hier tun).
Dan Barker freute sich, dass gegenwärtig überall auf der Welt Kongresse von Atheisten stattfinden, er sei bereits auf den Philippinen und in Mexiko gewesen, wo dieses Jahr die jeweils ersten Kongresse dieser Art durchgeführt wurden. Barker war früher einmal evangelikaler Priester und beschrieb in seinem Vortrag „Losing Faith In Faith“ – vom Prediger zum Atheisten“, wie er zum Atheisten wurde. Heute ist er mit seiner Frau Annie Laurie Gaylor Co-Präsident der Freedom From Religion Foundation (FFRF), der größten Vereinigung von Atheisten und Agnostikern in den USA.
Als er des Flügels ansichtig wurde, der in Bühnennähe stand, begab er sich daran und präsentierte, zum ersten von mehreren Malen während der Convention, seine musikalischen Künste: „Beware of dogma... there’s no excuse for ignorance“ und „I’m your neighborhood atheist“. Etliche Lieder schrieb er selbst, auch Musicals. Früher war es christliche Musik, heute sind es starke, atheistisch-naturalistisch geprägte Lieder, und letztlich war es die Musik, die ihn vom binären evangelikalen Denken zum Atheismus brachte.
Richard Dawkins bescheinigte Barker im Vorwort zu seinem Buch „Godless: How an Evangelical Preacher Became one of America’s leading Atheists“, er sei der eloquenteste Zeuge des Wahns, den er kenne. Barker erzählt, er habe wirklich gefühlt und geglaubt, das Ende der Welt sei nah. Fundamentalisten, wie er einer gewesen sei, hätten binäre Gehirne, die nicht in der Lage seien, differenziert wahrzunehmen, sondern ausschließlich schwarz/weiß, gut/böse, richtig/falsch dächten, also polarisiert. Da er 200 christliche Lieder und Musicals schrieb, wurde er in andere, weniger polarisierte Kirchen eingeladen, mit anderen Sichtweisen konfrontiert. Im Laufe der Zeit merkte er, dass diese Menschen auch nett waren und der Glaube verwässerte sich. Dann beschloss er, „Feindesliteratur“ zu lesen und beschaffte sich Bücher über die Evolution, die er nachvollziehbar fand. Die zuvor wörtlich genommene Bibel nahm er allmählich als ein Werk voller Parabeln und Metaphern wahr und er hörte auf zu glauben – als sei sein Gehirn endlich erwachsen geworden. (In der Beschreibung der Tagung auf den Philippinen gibt es ein Video von Dan Barker)
Der Geschichtsstudent Lukas Mihr belegte das Gegenteil, als er die Frage beantwortete: „Ohne Gott ist alles erlaubt?“ Denn immer wieder wird behauptet, der Atheismus führe systematisch zum millionenfachen Morden, da er die göttliche Schöpfungsordnung und damit die Heiligkeit des Lebens verleugne. Dagegen seien Kreuzzüge, Dschihad, Juden- oder Hexenverfolgungen bedauerliche Einzelfälle. Doch lehnten Diktatoren wie Hitler, Stalin und Mao den Glauben wirklich ab, war der Kommunismus womöglich doch flexibler im Umgang mit organisierter Religion, wie auch westliche Regierungen sich als flexibel im Umgang mit „atheistischen“ Diktatoren zeigten?
Mihr konnte an etlichen Beispielen prägnant aufzeigen, dass sich die Grenzen zwischen angeblichen Atheisten und Christen verwischten, dass selbst Kim Jong Il aus Nordkorea religiöse Tendenzen aufwies. In Südvietnam gab es eine katholische Oberschicht, die die Buddhisten im Lande unterdrückte. Immer wieder kam es zur Zusammenarbeit zwischen christlichen Staaten und der Sowjetunion. Nixon hoffte später, die Sowjetunion zu schwächen und freundet sich mit dem zweiten kommunistischen Block, also China unter Mao Zedong, an. Und Pol Pot, der in vier Jahren Herrschaft ein Viertel der Bevölkerung Kambodschas ausrottete, arbeitete mit den USA zusammen. (Zu diesem Thema gab es auf hpd bereits eine Artikelreihe: Teil 1, Teil 2, Teil 3.)
Morgen geht es weiter mit den Vorträgen von Rolf Bergmeier über „Armes Europa...“ bis Michael Schmidt-Salomons „Auch Dummheit will gelernt sein“.
Fiona Lorenz