Der Wert eines letzten Willens

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Gerichtssaal in Tulln / Fotos: Christoph Baumgarten

TULLN. (hpd) Lisa M. wollte für ihren Lebensgefährten ein religionsfreies Begräbnis. Das wurde verhindert. Sie leidet seitdem unter einem Posttraumatischen Belastungssyndrom. Vor dem Bezirksgericht sucht sie einen Verantwortlichen.

„Sie haben mit dem Verstorbenen S. also eine Wohn-, Wirtschafts- und Geschlechtsgemeinschaft gehabt?“ Die Zivilrichterin will es von Klägerin Lisa M. genau wissen (Name von der Red. geändert, Anm.). M.s „Ja“ kommt mit etwas verhaltener Stimme. Die Aufregung treibt ihren Blutdruck in die Höhe. Ihr Gesicht ist gerötet

Anfang 2009 ist S. gestorben, an seinem Geburtstag. M. hat 20 Jahre mit ihm zusammengelebt. Er hatte einen letzten Wunsch. Den hat sie beim Beerdigungsinstitut deponiert: „Ich habe eine Verabschiedung in Auftrag gegeben. Kein religiöses Begräbnis, keine Gebete, kein Vaterunser, kein Pfarrer.“ Für M., die sich als religiös bezeichnet, vermutlich keine einfache Entscheidung. Aber: „Das ist so, wie’s der Tommi wollen hat.“

Richterin: „Haben Sie dem Mitarbeiter des Instituts gesagt keine Gebete oder haben Sie gesagt, kein Vaterunser, kein Glaubensbekenntnis, kein Ave Maria?“ M.: „Ich hab gesagt, keine Gebete“. Genannt habe sie nur das „Vaterunser“. Zwischendurch kämpft sie mit den Tränen. Dann wirkt sie selbstsicher. „Ich habe darauf hingewiesen, dass der Tommi seit Jahrzehnten aus der Kirche ausgetreten ist, dass er nie in die Kirche gegangen ist“.

Im Gespräch mit dem hpd schildert M., dass ihr Lebensgefährte auf den vielen gemeinsamen Reisen nur einmal eine Kirche von außen besuchen wollte. „In Brasilien haben sie eine Kirche, wo im Erdgeschoss die Parkplätze sind.“ Das habe er lustig gefunden. „Als wir in Italien waren, hat der Reiseleiter immer zum Tommi gesagt: Sie müssen ja für die Kirche nix zahlen. Dort gibt es ja einen Eintritt, und der Tommi war schon über 60, und für ältere Menschen ist es gratis. Der Reiseleiter hat gemeint, er versteht das nicht, aber der Tommi wollt halt nicht.“

Klägerin leidet an Posttraumatischem Belastungssyndrom

Es ist ein außergewöhnlicher Prozess, der vor dem Tullner Bezirksgericht gelandet ist. Bei der Trauerfeier vor der Urnenbestattung ging schief, was schief gehen konnte. Was die Klägerin bestellt hat, bekam sie nicht. Seitdem leidet sie nach an einem Posttraumatischen Belastungssyndrom und war mehrfach in Spitalsbehandlung. „Die Traumatherapie bekomm ich aber erst jetzt, nach fast vier Jahren“, erzählt sie dem hpd nach der Verhandlung. „So lange sind bei uns die Wartezeiten.“ Die bisherigen Behandlungen seien nur Akutbehandlungen gewesen, sagt die ehemalige Finanzbeamtin. Wegen der Dauerkrankenstände habe sie ihren Arbeitsplatz verloren. Auch beim Arbeitsmarktservice ist sie bis auf Weiteres krank gemeldet. Der Prozess soll klären, „ob ein mögliches schuldhaftes Verhalten des Beerdigungsinstituts“, so die Richterin gegenüber dem hpd, M.s psychische Erkrankung ausgelöst hat.

Der Anwalt des Instituts wird von der Richterin ständig als „Herr Bevau“ angesprochen. Kurz für „Herr Beklagtenvertreter“. Während die Richterin M. befragt, schneidet er mitunter Grimassen, die seine Ungeduld verraten. Die Befragung dauert wesentlich länger als geplant. Das liegt auch daran, dass die Richterin mehrfach bei M. nachfragen muss: „Reden Sie bitte lauter und deutlicher.“ M.: „Ich höre schlecht“. Richterin: „Ich auch, deswegen müssen‘s ja auch deutlicher reden.“

Ottakringer Bier und Cognac

Die Trauerfeier hätte werden sollen, wie es sich „der Tommi“ vorgestellt hat. Zahlreiche Lieblingsgegenstände des Verstorbenen stellte M. in der Verabschiedungshalle auf. Fotos, Arbeitswerkzeug. Postkarten aus Polen. Ein paar Dosen Ottakringer Bier. „Er ist auf dem Gelände der Ottakringer Brauerei geboren worden und war immer stolz drauf, ein Ottakringer zu sein“. (Ottakring ist der 16. Wiener Gemeindebezirk, Anm. d. Red.) Und ein Spielglas. Wie man von der Klägerin erfährt ist das ein Römerglas mit eingebauter Spieluhr, die losgeht, wenn man es anhebt. Darin ein Schluck Cognac. „Das war der Rest Cognac von seiner Geburtstagsfeier“. Vielleicht etwas Außergewöhnliches, aber, wie die Betroffene gegenüber dem hpd sagt, nichts Ungewöhnliches. Auch beim Begräbnis von Ernst Hinterberger sei es persönlich zugegangen und nicht nur bierernst.

M. kommen die Tränen, sie spricht kaum verständlich. Richterin: „Wir sind in einer Verhandlung, bitte beruhigen Sie sich, sonst schick ich Sie raus, damit Sie sich beruhigen.“ Mit seinem Lieblingspulli verdeckte sie das Kreuz am Sarg. Das Kreuz an der Wand der Beerdigungshalle hätte verhängt werden sollen, sagt M. Einige Stunden vor der Trauerfreier ging sie heim. „Es war kalt, der Schnee lag meterhoch, ich hatte Hunger und Durst.“

Die Richterin schreibt mit und unterbricht die Befragung immer wieder, um für das Protokoll eine Zusammenfassung ins Diktafon zu diktieren. Eine umständliche Prozedur. In einem Landesgericht wären die Geräte zumindest eingebaut und sie bräuchte das Mikrofon für das Aufnahmegerät nur per Knopfdruck zu aktivieren. Das würde etwas Zeit sparen. Aber das ist das Tullner Bezirksgericht. Im Budgetplan des Justizministeriums stehen die kleinen Gerichte nicht weit oben. An diesem heißen Frühherbsttag stehen die Fenster offen. Mehrere Fliegen verirren sich in den ersten Stock und surren an der Decke. Eine Klimaanlage gibt es nicht.

„Mir hat’s die Füße weggerissen“

Als die Klägerin von der kurzen Pause zurückkam, standen die Ex-Frau des Verstorbenen und ihr Sohn (der nicht der Sohn des Verstorbenen ist, Anm.) in der Trauerhalle. Und zwei Polizisten. Inspektor H. kam sofort auf M. zu, schildert sie. „Er hat mir gesagt, ich soll die Dekoration wegräumen“. Richterin: „Und haben Sie das gemacht?“ M.: „Ja, weil ich den Anweisungen eines Polizisten immer umfassend Folge leisten tu.“ Als Begründung habe der Polizist angegeben, „dass das pietätlos wäre und hat mir mit der Staatsanwaltschaft gedroht.“ Ihr habe es „die Füße weggerissen“, sagt M. Darm und Blase entleerten sich. „Der Polizist hat mich angesprochen, dass es gescheiter wäre, wenn ich die Leichenhalle verlasse.“ Dann habe er sie nach draußen begleitet. Zur Trauerfeier sei sie nicht mehr gekommen. „Ich hatte einen Nervenzusammenbruch“. Sie hätte sich nicht einmal mehr waschen können.

Die Möbel des Gerichtssaals spiegeln sich im polierten Parkett. Das Zimmer der Reinigungskraft liegt auch gleich gegenüber. Während die Richterin die Episode ins Diktafon spricht, putzt sich der beklagte Beerdigungsunternehmer die Brille und lehnt sich mit verschränkten Armen in den Sessel zurück. Kreuz steht keines auf dem Richtertisch. In Zivilgerichten ist das in Österreich nicht vorgeschrieben. Anders als in einem Strafgericht. Dort ist das Kreuz häufig am Richtertisch verankert. Damit es die Angeklagten nicht als Wurfgeschoss verwenden können, heißt es.

„Das hat der Tommi überhaupt nicht gewollt“

M. sah nur ein Video von der Trauerfeier. „Das hat ein Bekannter gemacht“. Die Verabschiedung von S. wurde eingeleitet mit den Worten „dass Gott ihn zu sich geholt hat.“ M.: „Dabei hat der Tommi gar nicht an Gott geglaubt“. Mit einem Vaterunser und einem Avemaria ging es weiter. Ein Bekannter spritzte Weihwasser auf den Sarg. „Das wollt der Tommi überhaupt nicht. Aus persönlichen Gründen hat er gesagt, es gibt keinen Herrgott.“

Seitdem ging es bergab mit der ehemaligen Finanzbeamtin. Nicht nur das Trauma, beim Begräbnis des Lebensgefährten nicht dabei gewesen zu sein, setzt ihr zu. Im kleinen Heimatort im Weinviertel zerreiße man sich „die Gosch’n“ über sie. Dass sie, die um einiges jünger war als ihr Lebensgefährte, nicht beim Begräbnis gewesen sei und die Ex-Frau schon. Dass sie alles geerbt habe und die Ex-Frau nichts, rede man hinter vorgehaltener Hand, erzählt sie dem hpd. In der Verhandlung kommt das so deutlich nicht zur Sprache. „Wenn nicht das Haus wäre, ich würde sofort wegziehen“, sagt sie. Sie leidet an Kopfschmerzen, Depressionen, hohem Blutdruck, Schlafstörungen.

„Ich stehe der katholischen Kirche sehr nahe“

Auftritt der „Herr Bevau“. Er hat seine Akten und Notizen über den ganzen Tisch ausgebreitet. Richterin: „Noch Fragen?“ BV: „Allerdings“. Richterin: „Das habe ich befürchtet“. Der gegnerische Anwalt löchert die Klägerin mit Fragen. „Bei ihren Stakkato artigen Fragen komm ich nicht mit beim Schreiben“, bremst ihn die Richterin ein. Es dreht sich um Detailfragen. Wer den Lebenslauf des Toten geschrieben habe, der bei der Trauerfeier verlesen wurde. Was die Klägerin meine, wenn sie sage, der verlesene Lebenslauf sei „unkritisch“ gewesen. Irgendwann landet man beim Weihwasserkessel in der Aufbahrungshalle. Ob der zugedeckt gehört habe oder nicht. Die Richterin: „Das gehört zu unserem Kulturkreis. Ich lebe in Wien und war schon bei genug Begräbnissen, um das zu wissen.“

Plötzlich wird die Religiosität der Klägerin zum Thema. „Ich stehe der katholischen Kirche sehr nahe“, sagt sie der Richterin. Diese: „Sie sind ein gläubiger Mensch“. M.: „Ja.“ Richterin: „Sie haben also keine Probleme mit Weihwasser, Kreuzen und so.“ M.: „Ich nicht.“

Ein bedenklicher Polizeieinsatz

Inspektor H wird als Zeuge hereingerufen. Er konsumiert seinen Resturlaub vor dem Ruhestand. Der 60-Jährige bestätigt, dass er den Einsatz vor der Trauerfeier für S. geleitet hat. „Auf einmal kam die Frau S. (die Ex-Frau des Verstorbenen, Anm.) in die Polizeiinspektion und hat gesagt, die Leichenstelle sei mit Gegenständen rund um den Sarg verstellt.“ Gemeinsam mit einem Kollegen und der Ex-Frau hielt er „Nachschau“, wie es so schön im Amtsjargon heißt. Ob S. überhaupt eine rechtliche Position hatte, sich zu beschweren, interessierte ihn damals – nicht. „Ob das die Frau oder die Ex-Frau des Verstorbenen ist, diese Frage haben wir uns nicht gestellt.“ Eine Vollmacht, dass sie berechtigt ist, die Trauerfeier auszurichten, hat er nach eigener Auskunft nicht verlangt. Eine Vollmacht, wie sie die weggewiesene Lebensgefährtin hatte. „Ich habe nicht gefragt, wer das in Auftrag gegeben hat oder warum die Dekoration da war. Für mich war die Frau S. die Auftraggeberin, die Anzeigerin.“

Frau S. kannte er zu dem Zeitpunkt nicht. Ihren Ex-Gatten sehr wohl, wie er sagt. Und seine Lebensgefährtin, wie diese dem hpd gegenüber erzählt. Inspektor H. erwähnt das vor Gericht nicht. „Ich bat M., die Gegenstände wegzuräumen und erklärte ihr, diese Gegenstände wie die Bierdosen und das Römerglas sind eines Begräbnisses unseres Standes nicht würdig.“ H. spricht Beamtendeutsch. „Ich sagte ihr auch, wenn sie das nicht wegräumt, muss das die Staatsanwaltschaft klären.“ Er versteht das bis heute als freundliche Aufforderung, nicht als Einschüchterungsversuch: „Der Hinweis, dass die Staatsanwaltschaft das klären soll, war keine Drohung.“ Die (später schnell  wegen Gegenstandslosigkeit niedergelegte) Anzeige gegen M. wegen Störung der Totenruhe vermutlich auch nicht. Weggewiesen habe er die Klägerin nicht. „Dazu gab es keine Rechtsgrundlage.“ Er habe M. nach draußen begleitet. „Ich weiß nicht, ob ich ihr gesagt habe, dass sie gehen soll.“ Vom Personal des Bestattungsunternehmens war während des Vorgangs weit und breit niemand zu sehen. Inspektor H. suchte auch nicht großartig nach einer Auskunftsperson des Unternehmens.

M. war in Begleitung eines Bekannten. Dieser erlebte  den Auftritt H.s als einschüchternd, sagt er gegenüber dem hpd. „In so einer Situation tut man, was der Polizist sagt.“ Im Prozess kommt er diesmal aus Zeitgründen nicht zu Wort.

„Dann machen Sie das auch nicht“

M.s Anwalt muss sich während der Aussage von Inspektor H. zurückhalten. Er wirft ungläubige Blicke in das nicht vorhandene Publikum. (Der hpd-Korrespondent ist der einzige Zuhörer bei dieser Verhandlung, Anm.) „Ich hab so viele Fragen, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll“, sagt er, als die Richterin mit der Befragung fertig ist und alles penibel dokumentiert hat. Auch nach dem Aktenstudium kann er nicht glauben, dass Inspektor H. zur Amtshandlung schritt, ohne zu fragen, ob er das überhaupt darf. „Sie sind Inspektor. Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen jemand erschießen, tun Sie das auch nicht“, appelliert er an das Amtsverständnis des Polizisten. Einsicht zeigt der nicht. Es gibt keine Entschuldigung gegenüber M. Auch kein Eingeständnis, dass seine Amtshandlung einschlägigen Vorschriften widersprach.

Anwalt: „Und wenn ein naher Freund oder Verwandter Sie bittet, so etwas bei seinem Begräbnis aufzustellen, würden Sie das doch auch nicht wegräumen wollen?“ Inspektor H. „Ich würde es gar nicht aufstellen.“ Richterin: „Ich auch nicht.“

Verhandlung vertagt

Zu einem Ergebnis kommt man im Verhandlungssaal 1 des Tullner Bezirksgerichts heute nicht. Zwei Zeugen müssen befragt werden. Der Anwalt der Klägerin fordert, dass ein Gutachten eingeholt wird, wer für die psychische Erkrankung seiner Mandantin verantwortlich ist. Der gegnerische Anwalt zeigt sich nicht begeistert. Er will Kosten sparen, sagt er. Die Richterin behält sich die Entscheidung vor. Ein neuer Termin wird angesetzt. Vielleicht wird dann geklärt, wer für das Schlamassel verantwortlich ist. Oder auch nicht.

Christoph Baumgarten