Was das Judentum ausmacht

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Dr. Michael Wolffsohn, Foto: W. Thomas (Wikipedia)

BERLIN. (hpd) Mit einem Artikel in der Welt hat vor wenigen Tagen der international renommierte Historiker und Publizist Prof. Dr. Michael Wolffsohn in die Debatte um die religiös begründeten Beschneidungen von Knaben  eingegriffen und deutlich gemacht, dass nicht die Beschneidung die Zugehörigkeit zum Judentum ausmacht, sondern die Abstammung von einer jüdischen Mutter.

Er zeigt an einer Vielzahl von Beispielen, dass die Beschneidungspraxis innerhalb des Judentums durchaus umstritten war und ist. Für ihn ist das Kölner Beschneidungsurteil eine Gelegenheit, jüdische Inhalte zu überdenken. Und er weist Bezugnahmen der jüdischen Seite auf den Holocaust sowie Drohungen mit Auswanderung mit deutlichen Worten zurück.

Wolffsohn, Sohn jüdischer Eltern, lehrte von 1981 bis 2012 in der Universität der Bundeswehr in München Neuere Geschichte und begründete dort 1991 die Forschungsstelle "Deutsch-Jüdische Zeitgeschichte"; er ist somit nicht irgendwer, sondern jemand, der aufgrund seiner eigenen Biografie und seiner wissenschaftlichen Tätigkeit fundiert weiß, wovon er spricht. Er relativiert die Aussagen führender jüdischer Funktionäre und Geistlicher deutlich; sie behaupten, für die Zugehörigkeit von männlichen Personen zum Judentum sei die Beschneidung unabdingbar; Dr. Wolffsohn hingegen verweist auf die Eindeutigkeit des jüdischen Religionsgesetzes, wonach Jude stets derjenige ist, der eine jüdische Mutter hat.

Nach den aufgeregten Rufen aus der jüdischen Community in den letzten Wochen, denen zufolge das Ende des Judentum in Deutschland bei einem Beschneidungsverbot an Knaben in Sicht sei und die von den Beschneidungsgegnern einen Bogen zum Holocaust schlugen, ist es wohltuend, endlich eine sachkundige auf die Tatsachen orientierende und abwägende Stimme zu vernehmen.

Wolffsohn lässt in seinem Artikel das Alte Testament Revue passieren und zeigt anhand etlicher Zitate, dass es zwar auch die Position gibt, nur durch eine tatsächliche Beschneidung der Vorhaut (ausgehend von Abraham) werde eine besondere Beziehung zu Gott hergestellt, dass aber tatsächlich eine Vielzahl anderer Stellen belegt, dass es nicht auf die tatsächliche Beschneidung der Vorhaut ankommt. Vielmehr ist mehrfach von der symbolischen "Beschneidung der Vorhaut des Herzens" die Rede. So heißt es etwa: "Ihr sollt die Vorhaut eures Herzens beschneiden lassen und nicht länger halsstarrig sein" (Deuteronomium 10, 16) oder "Beschneidet euch für den Herrn und entfernt die Vorhaut eures Herzens" (Jeremias 4, 4). Diese und andere Darstellungen zeigen nach Wolffsohn, dass bereits im Alten Testament Differenzen im Judentum und unterschiedliche Regeln zum Ausdruck kommen. Auch verweist er (u.a. am Beispiel Johannes des Täufers) darauf, dass es gar zu Taufen gekommen ist, die durchaus einen jüdischen Brauch darstellten. Die von Paulus vertretene Auffassung: "Es kommt nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, die Gebote Gottes zu halten" (1 Korinther 7, 19) sieht er nicht lediglich als "paulinische Mission". sondern als Äußerung innerhalb der "rabbinisch talmudische(n) Diskussion" um Vorhautbeschneidungen im ersten Jahrhundert d.Z.

Deutlich wird: Diejenigen, die jede Diskussion unter Verweis auf den „Kern ihres Glaubens“ ablehnen und sich völlig kompromisslos zeigen, haben nicht die historische Wahrheit auf ihrer Seite. Sie mögen zwar (derzeit) die Mehrheitsmeinung vertreten, doch lassen die jüdischen religiösen Regeln und die religiöse Praxis von Juden auch andere (selbst symbolische) Praktiken zu.

Bedeutsam erscheint der Hinweis Wolffsohns darauf, dass sich in der Erzählung von der Opferung Isaaks (besser: der dann nicht vollzogenen Opferung) der Übergang von Menschenopfer zum Tieropfer zeige, was zweifellos einen kulturellen Fortschritt darstellte. Er schreibt: "Der Urgedanke des Menschenopfers liegt auch der Beschneidung zugrunde. Sie ist der Ersatz für das Ganzkörperopfer. Ein Stück des dem Manne liebsten und zur Menschheitsvermehrung notwendigen Körperteiles wird geopfert." Er bezeichnet diese Erzählung als „die meisterhafte literarische Übertragung eines menschheitsgeschichtlichen Vorgangs..."

Angesichts dieser Ausführungen stellt sich die Frage, wodurch jüdische Funktionäre und Geistliche eigentlich daran gehindert sein könnten, in der Moderne und unter Berücksichtigung der heute bekannten vielfachen möglichen negativen Folgen einer Knabenbeschneidung einen weiteren "menschheitsgeschichtlichen Vorgang" zu befördern. Gründe, dies nicht zu tun, sind nicht ersichtlich, insbesondere, wenn es um die Knaben und nicht lediglich um überkommene Rituale geht. Kommt es den Funktionären und Geistlichen lediglich auf Rituale an und interessieren sie sich nicht für die lebendigen Menschen?

Wolffsohn bezieht auch deutlich Stellung zu den Drohungen einiger jüdischer Funktionäre und Geistlicher mit der Auswanderung sämtlicher Juden aus Deutschland, wobei er die Drohungen und auch die Verknüpfung von Beschneidungsablehnung und Holocaust als "substanz- und taktlos" zurückweist. Soweit von jüdischer Seite die Forderung erhoben wurde, dass "ausgerechnet Deutsche" sich nicht an der Beschneidungsdebatte beteiligen sollten, fragt er: "Sind 'ausgerechnet deutsche' Demokraten weniger demokratisch als wir Juden, als ich?" Ein Diskussionsverbot in Deutschland lehnt er damit deutlich ab und plädiert stattdessen für eine Versachlichung der weiteren Diskussion.

Bereits in einem Interview im Deutschlandfunk am 03.07.2012 hatte Wolffsohn deutlich gemacht, dass ihn die Intensität der Debatte nach dem Urteil des Kölner Landgerichts in Deutschland nicht überrascht habe, denn - so führte er aus - sie stelle einen Teil einer seit Jahren geführten Debatte dar, "ob und in welcher Intensität traditionelle religiöse Rituale, die nicht der christlichen Welt angehören, in die europäische Welt gehören... Also insofern ist dieses Beschneidungsurteil Teil dieser gesamteuropäischen und auch innerdeutschen Diskussion, die wir seit Jahren führen."

In diesem Interview hatte er bereits auf die Veränderbarkeit auch religiöser Bräuche und auf entwicklungsgeschichtliche Etappen im religiösen Brauchtum hingewiesen und die Frage aufgeworfen (und verneint), ob heute noch die in der Beschneidung sich ausdrückende Distanzierung vom Menschenopfer benötigt würde. "Wenn also die Beschneidung das einzige Zeichen der zwischen Gott und dem männlichen Menschen ist, dann steht es um diese Verbindung sehr schlecht" war sein Resümee.

Die Ausführungen von Wolffsohn sollten auch in der jüdischen Community zur Kenntnis genommen werden und Anlass sein, wie er es fordert, "jüdische Inhalte zu überdenken..." Vielleicht werden dann etliche zu einem anderen Ergebnis kommen als bisher und dieser biblischen Forderung zustimmen: Ihr sollt die Vorhaut eures Herzens beschneiden lassen und nicht länger halsstarrig sein (Deuteronomium 10, 16).

Walter Otte