Dr. Michael Wolffsohn: Danke, Deutschland

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Dr. Michael Wolffsohn, Foto: W. Thomas (Wikipedia)

BERLIN. (hpd) Erneut hat sich Dr. Michael Wolffsohn in der Debatte um eventuelle Knabenbeschneidungen zu Wort gemeldet. Bereits vor einigen Wochen hat er zu einer Versachlichung der Debatte aufgerufen, die Beschimpfung der Beschneidungskritiker als Antisemiten verurteilt und die jüdische Community zu einer Auseinandersetzung mit ihren religiösen Praktiken aufgerufen.

Gegen die wiederholt vorgebrachte Behauptung, die Beschneidung am achten Tag nach der Geburt sei konstitutiv für die Zugehörigkeit zum Judentum wies er darauf hin, dass nach althergebrachter Auffassung, Jude immer derjenige sei, dessen Mutter Jüdin ist und strafte hiermit die "offiziellen" Verlautbarungen des Zentralrats der Juden und jüdischer Rabbiner Lügen.

In einer Meinungsäußerung im Berliner "Tagesspiegel" am letzten Wochenende äußerte er sich kritisch gegen die jüdischen Verbandsfunktionäre und Geistliche und wies deutlich darauf hin, dass entgegen den Ankündigungen der Funktionäre niemand in der jüdischen Community daran denke, Deutschland zu verlassen, denn: "Bundes-Deutschland meint es gut mit uns Juden", was auch alle Juden in Deutschland wüssten. Er wandte sich erneut gegen die anhaltende Diffamierung der Beschneidungskritiker als Antisemiten und auch dagegen, antisemitische Überfälle mit der Debatte um Knabenbeschneidungen zu vermengen. Eine Generalkritik somit an dem, was letzter Zeit in der "Jüdischen Allgemeinen", dem Zentralorgan des Zentralrats der Juden, zu lesen war.

Wer vertritt die schweigende Mehrheit der Juden in Deutschland?

Darüber hinaus aber wies er auf einen zentralen, in der öffentlichen Debatte bislang unbeachteten Gesichtspunkt hin: weniger als die Hälfte der rund 250.000 in Deutschland lebenden Juden seien Mitglieder der 108 jüdischen Gemeinden, deren Dachverband der Zentralrat ist. Die Zahl der Gemeindemitglieder sinke stetig und zwar bereits seit Jahren. Die jüdischen Verbandsfunktionäre und Rabbiner erwecken den Eindruck als würden sie für "die Juden" in Deutschland sprechen. Dies ist offensichtlich, folgt man Dr. Wolffsohn Angaben, nicht der Fall. Wer also spricht für die schweigende Mehrheit? Offensichtlich nicht die Verbandsvertreter.

Überbordende v​erunglimpfende Polemik

Jedenfalls kann nicht umstandslos davon ausgegangen werden, dass die insbesondere von orthodoxen jüdischen Kreisen vehement vorgetragenen Meinungen repräsentativ und maßgeblich sind. Und es kann und darf auch nicht akzeptiert werden, dass die orthodoxe Verweigerungshaltung gegenüber der Wertordnung des Grundgesetzes zum Maßstab gesetzgeberischen Handelns wird. Der orthodoxe Berliner Rabbiner Ehrenberg, der bereits seit Beginn der Beschneidungsdebatte seine ablehnende Haltung zu einem Dialog deutlich gemacht hat, und der öffentlich in einer Talkrunde bei Maischberger bekundet hat, das ihm allein seine "Heilige Schrift"  und sonst überhaupt keinerlei Argumente interessieren, kann wohl kaum der einzige oder gar autoritative Interpret dessen sein, was jüdisches Leben in Deutschland bedeutet. Argumente hat er keine, außer dass er an dem festhalten wolle, was schon immer praktiziert wurde. An die Stelle einer rationalen Argumentation setzt er eine starre Verweigerungshaltung sowie Verunglimpfung der Beschneidungsegner: auf der Kundgebung pro-Beschneidungen Anfang September auf dem Berliner Bebelplatz äußerte er in Bezug auf die brutale Ermordung von etwa anderthalb Millionen jüdischer Kinder in den Vernichtungslager der Nazis, dass es sich hierbei um eine physische Vernichtung gehandelt habe, dass, was die Beschneidungsgegner jetzt aber wollten, dass die Juden im Alter von 18 Jahren selbst entscheiden sollen, ob sie sich beschneiden lassen wollen oder nicht, dass - so Rabbiner Ehrenberg - das sei aus religiöser Sicht schlimmer als die physische Vernichtung.

Diese Äußerung wurde von den Medien weitgehend verschwiegen, wohl wissend, in welchem Maße Rabbiner Ehrenberg sich selbst und seine Auffassung mit derartigen Aussagen diskreditiert. Kann man jemandem, der das Leiden jüdischer Kinder in Vernichtungslagern derartig relativiert, der das Leiden der jüdischer Kinder in der Nazi-Diktatur für seine religiösen Auffassungen instrumentalisiert, noch als ernsthaften Gesprächspartner in einer Debatte über jüdische Rituale und jüdisches Leben in Deutschland akzeptieren?

Es wäre wünschenswert, wenn nicht nur Dr. Wolffsohn gegen derartige Entgleisungen Stellung beziehen würde. Rabbiner Ehrenberg richtet in seinem religiösen Eifer nur Schaden an und beschädigt das Ansehen der Juden in Deutschland nachhaltig.  Dies ist angesichts der erfreulichen Entwicklung jüdischen Lebens hierzulande nach 1945 nur zu bedauern.

Menschenrechte und Religion

Unter der Herrschaft der Wertordnung des Grundgesetzes, steht es keinem Religionsvertreter zu, seine Sicht der Dinge über die allgemeinen Menschenrechte zu stellen. Totalverweigerern, ob christlich, jüdisch, muslimisch oder welcher Religionsgehörigkeit  auch immer, muss eine Abfuhr erteilt werden. Dies sind die heute lebenden Generationen denjenigen, die in den vergangenen Jahrhunderten für Freiheit und Menschenrechte gekämpft und gelitten haben, schuldig. Dies sind sie aber auch, in der Debatte um Knabenbeschneidungen, denjenigen schuldig, die sich nicht selbst gegen eine Verstümmelung ihres Körpers zur Wehr setzen können und die der Unterstützung durch die Gesellschaft dringend bedürfen: den unmündigen Knaben.

So wenig man denjenigen einen Vorwurf machen kann, die in der Vergangenheit in Unkenntnis der neuerdings bekannt gewordenen und wissenschaftlich erforschten negativen Auswirkungen von Knabenbeschneidungen in gesundheitlicher, psychischer und auch sexueller Hinsicht ihre Söhne haben beschneiden lassen, so wenig sollte man aber gegenüber denjenigen Verständnis zeigen, die sich starrsinnig weigern, dieses neue Wissen überhaupt auch nur zur Kenntnis zu nehmen! Der vormalige Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Winfried Hassemer, hat  in der in Hinsicht auf das eilfertige Vorgehen des Deutschen Bundestages im Juli in Hinsicht auf der Abgeordneten geschrieben: "Sie wollen nicht wissen, was sie regeln wollen." Damit bezog er sich insbesondere auf die Weigerung der Parlamentarier, überhaupt eine Prüfung der gegen Knabenbeschneidungen sprechenden Gesichtspunkte vorzunehmen. Über diejenigen, die sich - als Angehörige der jüdischen und moslemischen Community - weigern, neue (wissenschaftlich untermauerte) Gesichtspunkte auch nur zur Kenntnis nehmen, wird man aber sagen müssen: "Sie wollen nicht wissen, was sie ihren Söhnen antun."

Toleranz und ihre Grenzen

Gegenüber jüdischen Verbandsfunktionären in den USA hat Außenminister Westerwelle jüngst eine "rasche Rechtssicherheit" zugunsten von Knabenbeschneidungen in Deutschland zugesagt und geäußert, dass Deutschland ein tolerantes Land sei und bleibe, in dem religiöse Traditionen geschützt würden. Toleranz ja – die Religionsfreiheit ist schließlich ein wichtiges Grundrecht, das von niemandem infrage gestellt wird. Toleranz ist aber nicht schrankenlos, sie findet ihre Schranken (spätestens) bei religiösen Praktiken, die die Menschenrechte der von diesen Praktiken Betroffenen verletzen. Auch für Kinder gilt, dass ihnen (nicht nur, aber auch) das Grundrecht auf Religionsfreiheit zusteht, so dass es Eltern nicht erlaubt sein kann, aus religiösen Gründen am Körper des Kindes für die Dauer dessen gesamten Lebens irreversible Veränderungen vorzunehmen. Eine Entscheidung muss jedem selbst vorbehalten bleiben.

Der lebendige Mensch zählt nicht  - nur das Ritual

Auf die Belange des Einzelnen kommt es allerdings nach Auffassung der Religionsvertreter  nicht an - so hat es der israelische Oberrabbiner Metzger bei seiner  kürzlichen Interventionsreise durch Deutschland  deutlich gemacht: Die Beschneidung sei ein Bund, ein Abkommen, das jeder Jude mit seinem Gott habe, ein "Stempel, ein Siegel auf dem Körper eines jeden Juden. Ein Siegel, von dem man sich nie verabschieden kann." Der jüdische Mann soll, so zitiert die Süddeutsche Zeitung am 21. August den Oberrabbiner, "selbst an dem verlorensten Ort der Welt daran erinnert werden, dass er ein Jude ist." Um seine Auffassung deutlich zu machen, bemühte der Oberrabbiner auch Uniformen von Soldaten und Flaggen, als er ausführte, dass die Beschneidung "unsere Uniform und unsere Flagge" ist.

Ist Zwangsmitgliedschaft Religionsfreiheit?

Damit hat der aus Israel angereiste Oberrabbiner, für den bereits der Einsatz schmerzstillender Mittel bei der Beschneidung den religiösen jüdischen Geboten widerspricht, in bemerkenswerter Offenheit Stellung bezogen und klargestellt, dass der Wille des jüdischen Mannes völlig unbeachtlich ist und dass es darum geht, aufgrund einer angenommenen göttlichen Weisung einem jeden jüdischen Mann lebenslang ein Siegel auf den Körper anzubringen, damit er bis zu dem Tag, an dem er seine Augen für immer schließt, niemals vergisst, dass er Jude ist. Der Säugling kann sich selbstverständlich an diesem Bund nicht beteiligen; er weiß nicht, ja, er ahnt nicht einmal, dass er schon kurz nach seiner Geburt einen Bund mit Gott schließt. Und selbst wenn er wüsste, könnte er sich nicht wehren. Die anderen sind auf jeden Fall stärker als er.

So sieht Religionsfreit aus der Sicht dieser religiösen Richtung aus: Zwangsmitgliedschaft in ihrem Verband, Säuglingen oktroyiert. Mit den Menschenrechten hat dies nichts zu tun – es ist ein Verstoß gegen die Werteordnung und die Garantien des Grundgesetzes. Wenn aber etwas "heilig" ist in diesem Land, dann sind es die für alle Menschen in Deutschland maßgeblichen Regelungen des Zusammenlebens, zuallererst die Menschenrechte. An die haben sich auch Gläubige zu halten.

Walter Otte