(hpd) Der italienische Philosoph Domenico Losurdo nimmt eine Deutung des Mitgründers der Kommunistischen Partei Italiens vor, wobei er sowohl seine Nähe zu Lenin wie seinen Realismus hervorhebt. Der Autor hebt auf Basis guter Quellenkenntnisse bestimmte Besonderheiten von Gramsci hervor, interpretiert ihn aber allzu einseitig im Sinne traditioneller Kommunismuspositionen.
Antonio Gramsci, der Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens und Theoretiker der kulturpolitischen Strategie, gilt als einer der originellsten Köpfe des „westlichen Marxismus“. In seinen Betrachtungen zu philosophischen und politischen Fragen hatte er Abstand von einer ökonomiezentrierten Perspektive genommen und in der kulturellen Dimension der Gesellschaft ein Handlungsfeld für revolutionäre Politik gesehen. Seine Auffassungen findet man textlich niedergelegt in den „Gefängnisheften“, die während der Inhaftierung unter faschistischer Herrschaft in fragmentarischer und verklausulierter Form entstanden. Dies löste eine ganz unterschiedliche Deutung aus, welche sowohl in Gramsci einen konsequenten Leninisten wie einen überzeugten Sozialdemokraten sah. Eine Deutung, die eher in die erstgenannte Richtung geht, legt Domenico Losurdo in seinem Buch „Der Marxismus Antonio Gramscis“ vor. Der Professor für Philosophie an der Universität Urbino ist durch Übersetzungen seiner Bücher auch im deutschsprachigen Raum bekannt.
Seine Ausführungen beginnt Losurdo ohne eine Einleitung direkt mit Betrachtungen, welche die Entwicklung Gramscis hin zum Kommunismus nachzeichnen. Hierbei geht er von einem Weg vom politischen Liberalismus zum kritischen Kommunismus aus. Ihren dezidierten Ausdruck fand diese Entwicklung auch in der Zustimmung zur Oktoberevolution in Russland von 1917. Gleichwohl habe er das damit einhergehende Modell für eine politische Transformation nicht direkt auf den Westen übertragen wollen, wie seine Revolutionstheorie zu erkennen gebe: „Gramsci war ein Autor und ein Politiker ersten Ranges, der die Tragödie der Niederlage der Arbeiterbewegung und die Tragödie des Sieges des Faschismus miterlebt hat; gerade deshalb hat er gezwungenermaßen die Hoffnung auf eine rasche und definitive revolutionäre Palingenese aufgegeben und sich vielmehr mit der Analyse des komplexen und widersprüchlichen Charakters und den langen Zeiten des Prozesses der politischen und sozialen Transformation beschäftigt“ (S. 38).
Überhaupt habe Gramsci sowohl in Distanz zur Marxschen Auffassung von der ideologischen Dekadenz der Bourgeoisie wie zu Lenins Theorie von der Fäulnis des Imperialismus gestanden. Gleichwohl übernahm er für Losurdo von Lenin die Theorie der revolutionären Avantgarde, die allerdings für die Situation im Westen weiterentwickelt worden sei. Für den russischen Revolutionär und Theoretiker habe Gramsci größte Bewunderung empfunden. Außerdem sei er auch immer gegen eine starre Marxismus-Interpretation gewesen: „Das anti-mechanistische Denken Gramscis, das zur Rechtfertigung der Revolution gegen das Kapital (gegen das positivistisch interpretierte Kapital) beitrug, erweist sich ... als geeignet, die Beurteilung dieses Ereignis unter eschatologischen Vorzeichen zurückzuweisen, ebenso wie die Beurteilung eines Ereignisses als des angeblichen Beginns einer Politik und einer Kultur ohne Bezug zur vorausgehenden ‚bürgerlichern’ Entwicklung, ja sogar ohne Bezug zur ganzen bisherigen Weltgeschichte“ (S. 161).
Gleichwohl geht es Losurdo darum, Gramsci gegen eine anti-leninistische Deutung zu verteidigen. Dem dürfte man angesichts seiner positiven Kommentierung der Russischen Revolution schwerlich widersprechen. Gleichwohl kann man dies angesichts der seinerzeitigen Etablierung einer Diktatur und der Verbrechen im Bürgerkrieg auch kritisch bezogen auf Gramsci sehen. Diese Perspektive teilt Losurdo angesichts seiner eigenen ideologischen und politischen Grundposition in dieser Frage nicht. Er hält auch eine Einordnung des italienischen Marxisten in den „westlichen Marxismus“ für nicht angemessen. Losurdo kann dabei zutreffend auf Gramscis Lenin-Rezeption und seine kontinuierliche Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei verweisen. Dabei ignoriert er aber einerseits die begrenzten Informationsmöglichkeiten für Gramsci im Gefängnis und andererseits dessen große Bedeutungszuschreibung der kulturellen Sphäre. Trotz des hohen Informationsreichtums der Schrift handelt es sich daher um eine sehr einseitige Deutung.
Armin Pfahl-Traughber
Domenico Losurdo, Der Marxismus Antonio Gramscis. Von der Utopie zum „kritischen Kommunismus“. Aus dem Italienischen von Erdmute Brielmayer, Hamburg 2012 (VSA-Verlag), 180 S., 19,80 €.