Zweifel an einem abrupten Verbot

UTRECHT. (hpd) "De Vrije Gedachte" hatte die Beschneidung schon als Thema ihres diesjährigen Freidenkertags gewählt, bevor das Kölner Urteil gefällt worden war. Bei den niederländischen Freidenkern sprachen sich ein Mediziner, ein marokkanischer Berber, ein Filmemacher und ein Jurist gegen die Beschneidung aus.

 

Dieser Club, 'De Vrije Gedachte', dem heute mehr als 500 Mitglieder angehören, besteht bereits seit 1856. Er sieht sich als atheistisch, indem er jede Religion und Gottesvorstellung verwirft, aber auch andere vergleichbare Ideologien ablehnt. Statt einer dogmatischen Denkweise wird eine wissenschaftliche praktiziert, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht. Man fühlt sich somit dem Humanismus verpflichtet mit der Absicht, in die Gesellschaft hineinzuwirken. Auf Initiative dieses Vereins wurde beispielsweise das religionskritische Kinderbuch "Wo bitte geht es zu Gott, fragte das kleine Ferkel?" von Michael Schmidt-Salomon ins Niederländische übersetzt und herausgegeben. Vorsitzender ist der Historiker Anton van Hooff, der sich besonders mit der Antike befasst. Ein anderes bedeutendes Vorstandsmitglied ist der Philosoph Floris van den Berg, der unter anderem über Ökohumanismus, Tierrechte und Überwindung der Religion Bücher verfasst hat und schon ein paar Mal im Fernsehen aufgetreten ist.

Am diesjährigen Freidenkertag, der am 22. September in Utrecht stattfand, ging es um Beschneidung minderjähriger Jungen. Der Verein "De Vrije Gedachte" tritt entschieden für ein Verbot ein, wann immer eine solche Operation medizinisch nicht notwendig ist. Dass dieses Thema gewählt wurde, war seit Längerem geplant und wurde nicht durch das Urteil des Kölner Landgerichts und die anschließende Diskussion in Deutschland ausgelöst. Die zeitliche Überschneidung ist zwar Zufall; aber selbstverständlich wird die Entwicklung im Nachbarland mit Interesse verfolgt. Was die auf dieser Veranstaltung angesprochenen Gesichtspunkte anbelangt, gehe ich in diesem Artikel nur auf Dasjenige ausführlich ein, was den Lesern von hpd.de nach meiner Einschätzung noch nicht so bekannt ist.

Der Vereinsvorsitzende Anton van Hooff begann mit der Begrüßung, bei der er die jetzige Lage in Deutschland schilderte und die Empfehlungen des Ethikrates des Deutschen Bundestages aufführte. Des Weiteren wies er auf die Problematik eines plötzlichen Beschneidungsverbots hin, weil es zu heftigem Widerstand bestimmter Religionsgemeinschaften führt. Besser ist es daher grundsätzlich, wenn vorher eine breite gesellschaftliche Diskussion stattfindet.

Die Oberfläche eines Fünf-Euro-Scheins

Erster Redner war de Mediziner Dr. Gert van Dijk. Er befasst sich als Mitglied der Königlichen Niederländischen Gesellschaft zur Förderung der Heilkunde (Koninklijke Nederlandse Maatschappij ter bevordering van de Geneeskunde - KNMG) mit ethischen Fragen. Zunächst erfolgte eine Definition des Begriffs "Beschneidung" aus medizinischer Sicht. Interessant war der Hinweis, dass die Vorhaut eines erwachsenen Mannes die Oberfläche eines Fünf-Euro-Scheins hat. Das heißt, dass bei einer Beseitigung beträchtlich viel verloren geht.

Danach wurde die heutige Situation in den Niederlanden (einem Land mit 16 Million Einwohnern) geschildert, wo dieser Eingriff 10.000 bis 15.000 mal pro Jahr vorgenommen wird, zum Großteil bei Kindern mit Eltern türkischer und marokkanischer Abstammung: Es bestehen mehrere Beschneidungszentren, die diese Operation billiger als die Krankenhäuser anbieten. Bei Juden findet sie meist zu Hause statt und wird von einem sogenannten "Mohel" ausgeführt. Bis 2005 kamen die Krankenversicherungen automatisch für die Kosten auf, während sie es heutzutage nur bei Zahlung eines Zuschlags tun.

Anschließend ging Dr. Gert van Dijk auf nach einer Vorhautentfernung mögliche Komplikationen ein wie Infektionen, Blutungen oder erschwertes Wasserlassen. Zwar sind derartige Probleme lösbar, aber tragisch ist, dass sie oft längere Zeit nicht bemerkt werden, wodurch die Betroffenen unnötig leiden.

Der folgende Aspekt waren die Unterschiede zwischen Jungen- und Mädchenbeschneidung. Letzteres ist in den Niederlanden in jeder Form seit einigen Jahren völlig verboten, auch das Vorhautpiercing, das weniger gravierend als der Eingriff beim männlichen Geschlecht ist. Somit werden Mädchen gesetzlich besser als Jungen geschützt, was als Diskriminierung zu werten ist. Des Weiteren wurde auf Todesfälle bei Jungen in Europa und den USA hingewiesen, die auf kurz vorher erfolgte Beschneidungen zurückzuführen waren, und auf die vermeintlichen, inzwischen wissenschaftlich widerlegten Vorteile solcher Operationen. Die Befürworter haben damit keine seriösen Argumente mehr. Tätowierungen und Piercing sind in den Niederlanden bei Minderjährigen nicht erlaubt. Warum sollte es nicht auch für die Zirkumzision gelten, die wesentlich schwerwiegender ist?

Die KNMG nimmt, wie viele andere vergleichbare Organisationen auch, den Standpunkt ein, dass Jungenbeschneidungen, wenn sie vermeidbar sind, aus medizinischen, ethischen und verfassungsrechtlichen Gründen nicht mehr stattfinden dürfen und außerdem nicht im Einklang mit internationalen Kinderrechtskonvention stehen. Religionsfreiheit ist daher einzuschränken, und tatsächlich ist dies auch laut niederländischem Grundgesetz prinzipiell möglich. Beabsichtigt wird, Ärzte von solchen Eingriffen möglichst abzuhalten und darüber hinaus die Diskussion über dieses Thema in die Gesellschaft hineinzutragen.

Seinem Sohn hat er das Ritual erspart

Der zweite Vortrag wurde von Said El Haji gehalten, der aus einer nordmarokkanischen Berberfamilie stammt und vor mehr als zehn Jahren einen Roman geschrieben hat, in dem er mit einer streng islamischen Erziehung abrechnet. Die eigene Beschneidung, aus der ein großes Fest gemacht wurde, sollte ihn enger an die Gemeinschaft binden, hat aber das Gegenteil bewirkt. Schriftsteller wie sich selbst sieht er als Individualisten, weil sie sich mit ihrer Tätigkeit von der Gruppe absondern. Seinem Sohn hat er das Ritual erspart, weil er aufgrund zahlreicher Argumente darin keinen Sinn sieht. Ein allgemeines Verbot hält Said El Haji für problematisch; von tiefgläubigen Juden und Muslimen wird dies nämlich als Unterdrückung erfahren. Er vergleicht es z.B. mit Verschleierungsverboten in der Türkei oder im ägyptischen Fernsehen, die zunehmend gelockert werden, was dort als "Befreiung" empfunden wird. Besser findet er eine langsame Überwindung der Jungenbeschneidung durch Überzeugungsarbeit. Außerdem kann er nirgends erkennen, dass der Islam diesen Akt ausdrücklich vorschreibt.

Zweifel an einem abrupten Verbot

Der dritte Redner war Michael Schaap, der beim niederländischen Fernsehsender VPRO tätig ist und 2004 einen kritischen Dokumentarfilm über die Zirkumzision erstellte. Es wurden verschiedene Leute interviewt, darunter ein Arzt, ein Jude und die damalige Politikerin Ayan Hirsi Ali, die aus Somalia stammt, ein Opfer der Mädchenbeschneidung ist und sich vom Islam losgesagt hatte. Prinzipiell hat sie auch die Jungenbeschneidung verurteilt, jedoch wurde letzteres Thema von anderen Parlamentariern gemieden. Allerdings setzte der Film in den Niederlanden unter Medizinern die Diskussion in Gang. Außerdem führte er zu der bereits oben genannten Veränderung bei der Vergütung durch die Krankenversicherungen.

Der nächste Schritt könnte nach Ansicht von Michael Schaap sein, eine neue, noch bessere beschneidungskritische Fernsehsendung zu erstellen. Wegen der tiefen Verwurzelung des Rituals bei Juden und Muslimen zweifelt er ähnlich wie Said El Haji an einem abrupten Verbot. Aber vielleicht kann eine langsame Überwindung in Gang gesetzt werden, wie es bei der körperlichen Züchtigung von Kindern der Fall war.

Verschiedene Interessen abwägen

Der letzte Vortrag wurde vom Juristen Ron Ritzen gehalten, der Dozent an einer Rechtshochschule ist. Er wies zunächst auf das Dilemma zwischen den Rechten auf körperliche Unversehrtheit und Religionsfreiheit hin, die sich aber laut niederländischem Grundgesetz, wie oben schon erwähnt, begrenzen lässt. Danach erläuterte er den Kölner Richterspruch und seine Begründung. In der internationalen Kinderrechtskonvention sieht Ron Ritzen keine völlige Eindeutigkeit. Zwar räumt sie den Eltern eine deutliche Machtposition in der Autonomie der Erziehung ein; allerdings muss auch die Entwicklung von Kindern und ihre Entscheidungsfreiheit berücksichtigt werden, die bei Beschneidungen nicht gegeben ist. Durch sie werden Jungen an bestimmte Religionsgemeinschaften gebunden, ohne dass erwogen wird, ob sie sich später vielleicht von ihnen abwenden wollen.

Bei einem Gerichtsprozess hat ein Richter bei der Urteilsfindung verschiedene Interessen abzuwägen. Anders als in Deutschland kann er sich in den Niederlanden nicht auf das Grundgesetz berufen, weil es dort keinen bindenden, sondern nur symbolischen Charakter hat. Er müsste stattdessen in der Frage der Zirkumzision verschiedene bestehende Regelungen übertragend anwenden.

Ein strafrechtliches Verbot kann zu einem Pyrrhussieg wegen mangelnder Durchsetzbarkeit in der Praxis führen; in bestimmten Bevölkerungsgruppen müssten regelmäßig Kontrollen durchgeführt werden. Die Verdrängung von Beschneidungen in die Illegalität mit katastrophaleren Folgen für die Betroffenen wäre zu befürchten. Bei möglichen Strafprozessen ist zudem die Beweisführung schwierig. Man müsste die entsprechenden Kinder befragen, die an Traumata nicht ohne Weiteres verlässliche Erinnerungen haben. Das prinzipielle Verbot ohne Überwachung ist laut Ron Ritzen somit vorzuziehen.

Allerdings besteht noch eine zivilrechtliche Möglichkeit, mit der man die Eltern entmutigen könnte: Sie müssen auf die Risiken des Eingriffs hingewiesen werden und eine Erklärung unterschreiben, dass sie im Falle des Misslingens haftbar sind. Hier handelt es sich um eine nötige "Zustimmung" der Erziehungsberechtigten (ähnlich wie bei Tätowierungen und Piercing Minderjähriger). So ähnlich ist es im US-Bundesstaat New York geregelt.

Abgeschlossen wurde die Veranstaltung mit einer Diskussion über die Frage, was in der jetzigen Situation in den Niederlanden machbar ist, mit folgenden Vorschlägen:

  • Die Diskussion findet zur Zeit nur unter Experten statt, muss aber in die Gesellschaft hineingetragen werden.
  • Grundsätzliche und eindeutige Forderung nach Verbot von  Jungenbeschneidungen, das aber nur nach allgemeinem Bewusstseinswandel letztlich durchsetzbar ist.
  • Falls möglich, Politiker zu diesem Thema ansprechen
  • Gründung einer Bürgerinitiative
  • Posterkampagne

Thomas Spickmann