WIEN. (hpd) Ein Streit um eine Sexualkundebroschüre für Lehrer beschäftigt die österreichische Öffentlichkeit. „Besorgte Eltern“ hatten gegen das Infomaterial mobilisiert, das hetero- und homosexuelles Verhalten gleichwertig behandelt. Die Rechtsparteien machen im Parlament mobil gegen das verantwortliche Unterrichtsministerium. Hinter der Aufregung steckt ein erzkatholisches Netzwerk. Mit alten Bekannten.
Vielleicht ist es Zufall, dass Gudrun Kugler-Lang eine jener Mütter ist, die gegen die Broschüre "Ganz schön intim" des Vereins Selbstlaut auf die Barrikaden steigt. Das umfangreiche Informationsmaterial ist für Lehrer gedacht, die 6- bis 12-jährigen Schülern Sexualkundeunterricht erteilen. Was Kugler-Lang und eine kleine Gruppe anderer "besorgter Eltern" an der Broschüre stört, ist, dass dort hetero- und homosexuelles Sexualverhalten als gleichrangig behandelt werden.
Das verwirre die Kinder, sagt Kugler-Lang. Dass man das herausgefunden habe, sei Zufall gewesen, beteuert die PR-Unternehmerin gegenüber heimischen Medien: "Wir sind im Urlaub zufällig auf die Broschüre gestoßen. Eine Familie hat sie mitgehabt und hergezeigt." Bei einer Flasche Wein habe man beschlossen, nach dem Sommer einen Brief ans Ministerium zu schreiben, schildert sie gegenüber der Tageszeitung "Der Standard".
Rechtsparteien machen mobil
Vermutlich ist es ebenso Zufall, dass die Briefe der "besorgten Eltern" nicht nur das Unterrichtsministerium erreichten, das die Broschüre gefördert hat. Die Beschwerden landeten auch in den Posteingängen von Oppositionsparteien und dem Bildungssprecher der christdemokratischen ÖVP, Werner Amon. Die regten sich entsprechend auf und sahen in verschiedenen Abstufungen den Untergang des Abendlandes herandräuen. Amon sprach in einer parlamentarischen Anfrage von einer "Diskreditierung der Kernfamilie". Ähnlich wertete das der FPÖ-Nationalratsabgeordnete Walter Rosenkranz, der gar von der "natürlich gewachsenen Familie zwischen Mann und Frau" sprach. Das Ganze sei eine "Skandalbroschüre" und "ideologische Stimmungsmache". Auch die FPÖ-Splitterpartei BZÖ tobte.
Offizielle Stellungnahme der Bioethik-Kommission?
Ähnlich sieht das Stephanie Merckens. Als "Mitglied der Bioethik-Kommission des Bundeskanzlers" veröffentlichte sie am Donnerstag einen Gastkommentar im Standard unter dem Titel: "Sexualbroschüre – Aufklärung unter dem Ideologie-Hammer?" Mehrere User der Online-Ausgabe bekommen den Eindruck, der Kommentar sei eine offizielle Stellungnahme der Kommission. Die ist in dieser Frage gar nicht zuständig, Merckens ist auch nicht ihre offizielle Vertreterin. Merckens Selbstbezeichnung suggeriert etwas anderes.
Sie hatte auch in den Tagen gegenüber Medien davor mehrfach Stellung gegen die Broschüre bezogen. Wahrscheinlich ganz zufällig. Zumindest, wenn man die Berichterstattung der österreichischen Tageszeitungen und des ORF liest.
Und wieder bemerkenswerte Zufälle
Mehr nach dem Geschmack Merckens und Kugler-Langs dürfte eine etwas ältere Broschüre sein, die sich ebenfalls öffentlicher Förderung erfreute. "6und7" heißt sie und macht garantiert nicht den Fehler, davon auszugehen, dass homosexuelle und heterosexuelle Menschen gleichrangig zu sehen sein. "Mann und Frau sind füreinander geschaffen. Sie passen seelisch und körperlich wirklich zusammen. Gemeinsam können sie Kinder zeugen und eine Familie gründen. Zwei Männer oder zwei Frauen passen auf diese Weise nicht zusammen. Sie können keine Kinder zeugen und keine wirkliche Familie gründen. Oft fühlen sich Homosexuelle deshalb bedrückt und isoliert. Witze, Auslachen oder Verurteilen sind hier fehl am Platz. Für homosexuelle Menschen, die unter ihrer Neigung leiden, gibt es Beratung und Hilfe." Der Link zum Beratungsangebot führt auf die Seite von Wüstenstrom, einem evangelikalen Netzwerk. Es sieht Homosexualität als Sünde und geht davon aus, dass Homosexualität eine heilbare Krankheit ist.
Die Broschüre war im Jahr 2006 entstanden. Mit Förderung durch das Sozialministerium, das in der schwarz-orangen Koalition der damaligen Jahre von BZÖ-Ministerin Ursula Haubner geführt wurde. Die Förderung wurde seitdem nicht verlängert. Das Ministerium wird seit 2007 von Rudolf Hundstorfer (SPÖ) geleitet. Hinweise auf die seinerzeitige Förderung finden sich nur im Lebenslauf eines der Co-Autoren, dem erzkatholischen Arzt Gintautas Vaitoska. Der war eine Zeit lang Lehrender auf der katholischen Privatuni ITI. Dort hat auch Kugler-Lang einen Lehrauftrag. Wieder einer dieser Zufälle.
Im Impressum von „6und7“ ist eine gewisse Jutta Graf als Verantwortliche genannt. Geburtsname: Jutta Lang. Sie ist die Schwester von Gudrun Kugler-Lang. Ein weiterer Zufall. Ebenso zufällig ist vermutlich auch, dass sich das Schwesternpaar in leitenden Funktionen in Organisationen wie "Jugend für das Leben" und "World Youth Alliance Europe" engagieren – radikalen christlichen Vereinen gegen die Fristenregelung.
Druck auf Politiker und gegen Andersdenkende
Man kann an diese unwahrscheinliche Reihe an Zufällen glauben. Allein, Kugler-Lang überlässt in ihrem öffentlichen Engagement nichts dem Zufall. Sie betreibt mit ihrer Beobachtungsstelle "Intolerance Against and Discrimination Against Christians in Europe" eine gut vernetzte Organisation, die politischen und publizistischen Druck auf Politiker und gegen Andersdenkende aufbaut, wie der hpd vor kurzem dokumentierte.
Man darf getrost davon ausgehen, dass die "Empörung" besorgter Eltern lange vorbereitet und mit entscheidenden Stellen innerhalb der katholischen Kirche abgestimmt war. Unterstützerin Stephanie Merckens etwa ist ebensowenig neutrales "Mitglied der Bioethik-Kommission des Bundeskanzlers", als das sie sich in der Debatte darstellt, wie Kugler-Lang bloß besorgter Elternteil ist. In der Kommission sitzt sie als Vertreterin der katholischen Kirche und ist "Lebensschutzbeauftragte" der Erzdiözese Wien. Und Nichte von Christoph Schönborn, dem amtierenden Kardinal.
Sexualkunde als Menschenrechtsverletzung
Merckens und Kugler-Lang verschweigen diese Umstände tunlichst. Auch die Broschüre von Jutta Graf wird von ihnen nicht erwähnt. Österreichs Medien tun das ebenfalls – möglicherweise mangels besseren Wissens. Das Netzwerk bleibt im Verborgenen. Bislang wurde die höchstwahrscheinlich gesteuerte Aufregung als spontane Empörung dargestellt. Auch nicht erwähnt werden die Standpunkte, die beide zum Sexualkundeunterricht haben. Das Portal katholisch.at etwa zitiert Merckens als Befürworterin eines Unterrichts nach streng katholischen Vorstellungen: "Wichtig ist, dass Sexualität nicht auf mechanische Vorgänge reduziert wird. Sexualerziehung macht dann Sinn, wenn sie aus jungen Menschen liebende Menschen macht". Im Gegensatz zu vielen zeitgeistigen Strömungen, die Sex aus jeglichem Beziehungs- und Verantwortungsverhältnis reißen wollen, stehe die Kirche auf der Seite der Liebe und des Lebens: "Und der Mensch braucht Liebe. Eine Liebe, die wertschätzt und mit Leben erfüllt ist".
Wie dieser Unterricht aussehen soll, zeigt Grafs Broschüre deutlich. Dort wird die "natürliche Empfängnisverhütung" als die sicherste Variante dargestellt. Von Pille und Kondom wird mehr oder weniger deutlich abgeraten.
Grafs Schwester Kugler-Lang ist überhaupt explizite Gegnerin eines verpflichtenden Sexualkundeunterrichts. Den bezeichnet sie in offiziellen Stellungnahmen offenherzig als Menschenrechtsverletzung.
Dass Kugler-Lang und Merckens wesentliche Hintergründe verschweigen, ist nicht der einzige Punkt, in dem sie unehrlich sind. "Die tun so, als sei das eine Broschüre, die den Kindern zwangsweise und unkommentiert in die Hand gedrückt wird", sagt Gerhard Engelmayer, Vorsitzender des Freidenkerbunds. "Sie verschweigen bewusst, dass das Material für Lehrer ist, die sich auf den Sexualkundeunterricht vorbereiten oder auf Situationen, in denen sie mit Fragen der Kinder konfrontiert sind. Das würde sich auch weniger für eine Kampagne eignen".
Was wissen Amon und Schönborn?
Unklar ist, inwiefern jene Parlamentarier über das erzkatholische Netzwerk Bescheid wissen, die auf Zuruf Kugler-Langs gegen Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) Sturm gelaufen sind. Werner Amon (ÖVP) ließ Rechercheanfragen des hpd unbeantwortet.
Unklar ist auch, inwiefern Schönborn an der katholischen PR-Aktion beteiligt ist. Er hält viel von Kugler-Lang. Sein enger Vertrauter Larry Hogan, Chefexorzist der Erzdiözese, ist Dekan des erzkonservativen Internationalen Theologischen Instituts (ITI), an dem Kugler-Lang Sozialwissenschaften unterrichtet. Dass seine Nichte die Aktion wahrscheinlich gemeinsam mit Kugler-Lang vorbereitet hat, spricht zumindest nicht dagegen, dass er etwas gewusst haben könnte. Beweise sind das aber nicht.
Ob Schönborn involviert war oder nicht – die Causa zeigt, wie kleine erzkatholische Netzwerke bis heute in der Lage sind, die öffentliche Stimmung im Land zu beeinflussen. Vor allem, wenn sie klandestin operieren und sich als spontane Initiativen ausgeben können. Ähnlich wie das bei Kugler-Langs „Beobachtungsstelle“ der Fall ist. Das funktioniert allerdings nur, solange niemand genauer hinsieht. Wie das bislang bei den meisten österreichischen Medien der Fall zu sein scheint.
Christoph Baumgarten