(hpd) Es gibt Argumente, die immer wieder angeführt werden, um zu belegen, dass an Religion etwas dran oder sie sogar notwendig ist für die menschliche Gesellschaft. Buchautor Alfred Binder stellt in einer Serie auf den Prüfstand, was für Religion zu sprechen scheint. Heute Teil drei.
Im ersten Teil setzte er sich mit der Behauptung, dass alle Völker eine Religion hatten, auseinander und erörtert, welche Bedeutung diese Aussage hat. Letzte Woche, im zweiten Teil, ging es um die Frage, was davon zu halten ist, dass es viele Menschen gibt, die meinen, Gott habe ich ihnen offenbart. Diesmal prüft Alfred Binder, was es mit der Aussage, dass Gott durch das Herz, nicht aber durch die Vernunft wahrgenommen werde, auf sich hat.
Für den katholischen Philosophen Blaise Pascal (1623-1662) nimmt „das Herz und nicht die Vernunft“ Gott wahr: „Das heißt glauben.“ Für die Gläubigen formulierte er mit diesen Worten eine große Wahrheit: Glaube ist eine Sache. Vernunft und Verstand sind eine ganz andere, liegen auf einer anderen Ebene, reichen bei weitem an den Glauben nicht heran. In diesem Sinne wusste schon der heilige Thomas (1225-1274) in seiner „Summe gegen die Heiden“ I 7,42: „Der Glaube nämlich vermag auch das zu erfassen, was sich der Vernunft versagt; denn die Wahrheit des christlichen Glaubens geht über die Fähigkeit der menschlichen Vernunft hinaus.“
Man glaubt – und damit hat es sich!
Noch radikaler als Thomas fasste Martin Luther (1483-1546), der Gründer des Protestantismus, das Verhältnis von Glaube und Vernunft. Für ihn schien Religion völlig unvernünftig zu sein, denn sonst ergibt sein Wort keinen Sinn: „Wer Christ sein will, der steche seiner Vernunft die Augen aus.“
Manche Gläubige sind der Ansicht, der Gläubige glaubt und damit hat es sich. Ihm Widersprüche und Irrationalität nachzuweisen, verfehle das Wesen des Glaubens, dieser entziehe sich der rational-logischen Sphäre. Sie meinen auch, Wahrheit sei eine innere Angelegenheit, sie hänge ganz von den persönlichen Erfahrungen ab. Deshalb kann nur wer glaubt Gott erkennen. Um ihm zu begegnen, sei ein Glaubenssprung nötig. Ein Sprung, mit dem wir den sicheren Boden von Vernunft und Wissen verlassen. Wer diesen Sprung nicht macht, weiß nicht, was Glauben ist und hat folglich auch keinen Grund zum Glauben.
Diese Einstellung, der Glaube ist und muss von rationalen Argumenten unabhängig sein, wird Fideismus genannt. Das Wort kommt vom lateinischen fides, welches Glauben bedeutet. „Gott sei weder beweisbar noch widerlegbar – genau deshalb sei er ja eine Sache des Glaubens“, geben die Philosophen Rüdiger Vaas und Michael Blume diese Einstellung wieder.
Vernunft ist kalt
Eine weitere beliebte Strategie, den Glauben über der Vernunft anzusiedeln, besteht darin, alles, was an modernen Gesellschaften unbeliebt ist, der Vernunft anzulasten. Man zeichnet ein Zerrbild der Vernunft, indem man sie mit negativ besetzten Begriffen koppelt, wie kalte Technik, Machbarkeitswahn, Rationalisierung, verengende naturwissenschaftliche Sichtweise und ähnlichem. Der Deutlichkeit halber sei gesagt: Es gibt kein Ding namens Vernunft, es gibt nur die Fähigkeit und den Willen, vernünftig zu denken und zu handeln, und das heißt, nach guten Gründe für Überzeugungen und Handlungen zu suchen. Gleichgültig, ob diese Überzeugungen technische, politische, ökologische, soziale oder religiöse Dinge betreffen.
Es macht auch keinen inhaltlichen Sinn, den Begriff der Vernunft mit von Gläubigen positiv besetzen Begriffen zu koppeln, wie es der Theologe Joseph Ratzinger gerne machte. So sei Gott der „rationale Urgrund alles Wirklichen“, die „schöpferische Vernunft, aus der die Welt entstand und die sich in der Welt spiegelt“. Rationaler Urgrund, schöpferische Vernunft, das klingt gut, widerspricht aber dem „Wesen der Vernunft“, um auch einmal vernebelnd abstrakt mit diesem Begriff umzugehen. Peter Henkel weist darauf hin: Vernünftig zu argumentieren, heißt gerade nicht spekulative Setzungen zu benutzen und so zu tun, als seien sie unumstößliche Tatsachen. Dass Gott rationaler Urgrund und schöpferische Vernunft sein soll, sind völlig aus der Luft gegriffene Behauptungen, die noch dazu nicht besonders sinnvoll sind. Was wäre ein irrationaler Urgrund alles Wirklichen? Und wie und wo spiegelt sich in der Welt göttliche Vernunft?
Vernunft und Offenbarung
Fideisten, Gläubige, die vernünftige Argumente für oder gegen ihren Glauben ablehnen, müssen sich den Vorwurf gefallen lassen, irrationale Diskussionsverweigerer zu sein, die sich, bewusst oder unbewusst, mit religiösen Fundamentalisten und Terroristen in ein Boot setzen. Deshalb versuchen manche Gläubige, besonders Theologen, einen Mittelweg zwischen Fideismus und Rationalismus zu finden.
Religiöse Rationalisten sind der Meinung, auch für religiöse Überzeugungen sollte es vernünftige Gründe geben. Die mittelalterliche christliche Theologie, die sogenannte Scholastik, wird gerne als das Projekt einer Harmonisierung von Glaube und Vernunft bezeichnet. Der berühmteste Harmonisierungstheologe war der Dominikaner Thomas von Aquin.
Für Thomas muss der Glaube mit der Vernunft übereinstimmen. Wir würden heute sagen, die Glaubensüberzeugungen müssen rational begründet sein. Thomas’ Unternehmen kann man als den Versuch verstehen, die christlichen Glaubensüberzeugungen vernunftkompatibel zu gestalten. Unvernünftige Überzeugungen lehnt Thomas ab. Seine Verbindung von Rationalismus und Fideismus lautete: Bestimmte religiöse Lehren, wie die Existenz Gottes lassen sich mit der natürlichen Vernunft einsehen, aber nicht „höhere“ christliche Glaubenswahrheiten. Sie erfordern einen Sprung in den Glauben. Im Lichte einer „übernatürlichen Vernunft“ werden sich seine Inhalte dem Gläubigen als absolut wahr erweisen.
Thomas unterscheidet also zwischen natürlicher und übernatürlicher Vernunft. Die natürliche Vernunft besitzt jeder Mensch, mit ihr können wir sehr viele Dinge in der Welt erkennen. Für Thomas ist die natürliche Vernunft so leistungsstark, dass wir mit ihr sogar die Existenz Gottes erkennen und beweisen können. Wir können, so Thomas, mit der Vernunft auch erkennen, dass Gott die Welt erschaffen hat und sogar, dass sie gut ist. Nicht mit der natürlichen Vernunft beweisbar und erkennbar sind die „Geheimnisse“ des christlichen Glaubens, beispielsweise die Trinität und die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes, die Eucharistie und die Opfertodlehre. Sie müssen geglaubt werden und beweisen sich dadurch der übernatürlichen Vernunft. Wegen dieses simplen definitorischen Tricks behaupten nun Theologen, der christliche Glaube enthalte nichts Vernunftwidriges, sondern etwas die natürliche Vernunft Übersteigendes, etwas übernatürlich Vernünftiges. Man kann sagen, Thomas löste die Probleme der Theologie, indem er die Vorsilbe un- durch die Vorsilbe über- ersetzte: Alles was unlogisch und unsinnig ist, ist eigentlich überlogisch und übervernünftig.
Wie soll ein Gläubiger wissen, dass speziell die übervernünftigen Glaubensinhalte seiner Religion wahr sind, wenn er weder diese Inhalte noch die einer anderen Religion versteht? Weil es ihm das Gefühl, das Herz, die Intuition sagt? Aber auch Gefühl (Herz) und Intuition von Gläubigen anderer Religionen reden viel, besonders wenn die Not groß ist. Gefühle lösen ständig Urteile in uns aus, viele sind richtig, aber bei weitem nicht alle. Ob sie wahr sind, müssen wir an der Wirklichkeit überprüfen.
Der Zen-Buddhismus ist das Paradebeispiel für eine Religion, die behauptet, ihre Wahrheit sei nicht mit den Mitteln der Vernunft begreifbar, sie sei es nur durch einen großen Sprung, durch eine große Erleuchtung. Wenn der Zen-Buddhismus und mit ihm der Buddhismus wahr ist, dann kann das Christentum nicht wahr sein, auch wenn viele Christen, das nicht wahrhaben wollen. Wenn der Zen-Buddhismus wahr ist, dann gibt es keine Dinge, die ewig existieren, keine Seele, keinen Jesus, keinen Gott, keine Körper, die sich ewig in einem Paradies verlustieren. Wenn der Zen-Buddhismus wahr ist, dann gilt: All things must pass, einschließlich Jesus und Göttern. Die Erleuchtung besteht in der psychischen Realisierung dieser Einsicht, in der Durchbrechung der psychischen Blockaden, die sich gegen diese Einsicht stemmen. Im Zen-Buddhismus erkennt das „Herz“ die Wahrheit der Vergänglichkeit. Christen klammern sich, aus der Sicht des Zen-Buddhismus, an kindliche Fantasien, so an den großen Bruder Jesus, der sie immer und überall beschützt und sie im Paradies empfängt. Christen können, aus der Sicht des Zen-Buddhismus, nicht wirklich loslassen, sind nicht bereit, ihr Ego und den mit ihm verklammerten Egoismus, wirklich aufzugeben. Welche der „übervernünftigen“ Wahrheiten ist nun wahr, die der absoluten Vergänglichkeit des Zen-Buddhismus oder die Mysterien und Versprechen des Christentums?
Aber: Weder der Zen-Buddhismus, noch das Christentum, noch irgendeine andere Religion ist übervernünftig, sie sind einfach in weiten Teilen unvernünftig. Sie verfügen über keine übervernünftigen Überzeugungen, weil es übervernünftige Überzeugungen nicht gibt. Es gibt nur unvernünftige und unverständliche, zu letzteren zählen auch unlogische.