Antisemitismus unter jungen Muslimen

(hpd) Der Sozialwissenschaftler Günther Jikeli legt eine qualitative Studie zum Thema vor. Sie zeichnet sich durch gutes Differenzierungsvermögen bei der Analyse und die Vermeidung glatter Thesen aus, verbunden mit der Einsicht einer individuellen Verantwortung für die Akzeptanz des Antisemitismus.

Beleidigungen und Gewalttaten gegen Juden werden nicht nur von einheimischen Rechtsextremisten verübt. Immer wieder kann man auch muslimische Migranten als antisemitische Akteure ausmachen. Bislang lässt sich diese Entwicklung mehr in Frankreich ausmachen, gleichwohl kommt es auch in Deutschland immer wieder zu einschlägigen Ereignissen. Damit hat man es mit einer Tätergruppe zu tun, welche häufig selbst alltäglichen Diskriminierungserfahrungen ausgesetzt ist. Wie hängt aber das Eine mit dem Anderen zusammen? Dieser Frage geht der Sozialwissenschaftler Günther Jikeli in seiner Arbeit „Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa. Ergebnisse einer Studie unter jungen muslimischen Männern“ nach. Sie basiert auf einer Analyse von ausführlichen Interviews mit 117 jungen, männlichen Muslimen, die in Berlin, London und Paris mit Befragten unterschiedlicher ethnischer Herkunft geführt wurden. Somit erlaubt die Anlage der Untersuchung auch länderübergreifende Vergleiche.

Der Autor konzipierte sie so, „um ein besseres Bild und Verständnis von antisemitischen Stereotypen, Argumentations- und Denkmustern unter Jugendlichen mit arabischem und muslimischem Hintergrund zu erlangen. Die Hauptfrage bestand darin, welche Argumentationsmuster gebraucht werden, um negative Ansichten über Juden zu rechtfertigen“ (S. 59). Die damit einhergehende erkenntnisleitende Fragestellung entwickelt Jikeli zu Beginn der Studie, wobei er auch zutreffend auf das Forschungsdefizit hinsichtlich des Antisemitismus unter Muslimen in Europa aufmerksam macht. Dem folgend informiert er über den eigenen Forschungsprozess und die Hintergründe für die Interviews. Im Zentrum der Studie steht dann die Präsentation von Aussagen aus den Gesprächen, die ein erschreckend hohes Ausmaß von vehementem Antisemitismus belegen. Der Autor ordnet sie vier Kategorien zu: „Klassischer“ moderner Antisemitismus, Bezüge zu Israel, Bezüge zum Islam, der religiösen oder ethnischen Identität und Verzicht auf Rationalisierungen.

Bilanzierend kommt die Studie zu folgenden Ergebnissen: „Die Mehrheit der Interviewpartner zeigte antisemitische Ressentiments. Negative Einstellungen gegenüber Juden wurden offen geäußert, zum Teil in aggressiver Weise, einschließlich Intentionen zu antisemitischen Handlungen.“ Dabei bildeten die direkten Bezüge zur religiösen Identität eine qualitativ spezifische Dimension. „Man kann daher davon sprechen, dass es einen spezifischen ‚muslimischen Antisemitismus’ gibt“ (S. 309).

Einen weiteren Beleg dafür sieht der Autor in folgender Feststellung: „Die Unterscheide zwischen den Ländern hinsichtlich antisemitischer Einstellungen sind überraschend gering. Unterschiede zeigen sich vor allem in den Ausformulierungen einiger Argumentationsmuster“ (S. 313). Entgegen anderslautenden Deutungen spielten die konkreten Diskriminierungserfahrungen keine Rolle für das Aufkommen des Antisemitismus. Dafür gebe es andere und entscheidendere Faktoren, wobei hierfür aber keine monokausale Erklärung angeboten werden könne.

Jikeli legt mit seiner Arbeit eine beachtenswerte und wichtige Studie zu einem Thema vor, welches gegenwärtig weniger auf der Basis von Forschung denn auf der Basis von Spekulationen diskutiert wird. Da es sich um eine qualitative Untersuchung handelt, dürfen die Ergebnisse nur stark eingeschränkt verallgemeinert werden. So entstammten etwa die meisten Interviewpartner „aus der Arbeiterklasse“ (S. 70), wodurch man keine Aussagen über Repräsentanten anderer sozialer Schichten treffen kann. Gleichwohl machen die Interviews im länderübergreifenden Vergleich die Existenz eines spezifischen „muslimischen Antisemitismus“-Diskurs deutlich. Bezogen auf dessen Analyse verweigert sich der Autor allzu einfachen Erklärungen.

Seine fünf positiven Beispiele, die sich auf Muslime mit einer dezidiert anti-antisemitischen Position beziehen, stehen darüber hinaus für eine wichtige Erkenntnis: Man kann sich sehr wohl durch eine individuelle Entscheidung der Akzeptanz der Judenfeindschaft in einem bestimmten Milieu entziehen.

Armin Pfahl-Traughber

Günther Jikeli, Antisemitismus und Diskriminierungswahrnehmungen junger Muslime in Europa. Ergebnisse einer Studie unter jungen muslimischen Männern, Essen 2012 (Klartext-Verlag), 341 S., 29,90 €.