Werte und Moral

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Buntglasrosette im Veitsdom / Foto: Morpheus2309 (CC-BY-SA 3.0)

ASCHAFFENBURG. (hpd/miz) Die christlichen Kirchen sitzen auf dem hohen Ross der Transzendenz, von dem aus sie ständig zu Unrecht behaupten, dass Religion für die Stabilität der Werte einer Gesellschaft unabdingbar notwendig sei.

Ein Bericht von Roland Ebert

Vor über  zwei Jahren äußerte sich der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz Robert Zollitsch kritisch über die CDU, obwohl von dieser Partei „viele christliche Werte in unserem [der Kirche, d.A.] Sinne aufgegriffen werden“. Doch aufgrund ihrer Hinwendung zu neoliberalen Thesen sei zu fürchten, dass die Partei die soziale Perspektive vernachlässige. Die Nähe zwischen katholischer Kirche und CDU sei deshalb geringer geworden, während andere Parteien wie SPD und Grüne „Dinge, die uns wichtig sind, stärker als früher“ aufgreifen würden.(1) Diese Kritik impliziert, dass es einen konstanten Bestand an moralischen Werten im christlichen Sinne gibt, deren Betonung sich aber in der Parteienlandschaft neu verteilt habe. Als Hüterin der Transzendenz sehe sich die katholische Kirche gezwungen, den Abstand zu den anderen Parteien zu verringern, um die Moral im säkularen Staat zu erhalten.

Ende September wurde eine Analyse des Allensbacher Instituts für Demoskopie mit dem Titel „Werte haben Bestand“ veröffentlicht.(2) Darin wird behauptet, dass trotz des Rückgangs der Religiosität „das Christentum in Gesellschaft und Politik weiter eine bemerkenswerte Rolle spielt“. Dabei griff man auf zwei 60 Jahre auseinander liegende Umfragen zurück. Im Februar 1952 hätten 56 Prozent der Befragten der Frage zugestimmt: Muss ein Programm einer Partei, die Gutes für Deutschland wirkt, christlich sein? Und 2012 beantworteten 53 Prozent der Deutschen die Frage „Für wie wichtig halten Sie es, dass sich eine Partei auch an christlichen Grundsätzen orientiert?“ mit „sehr wichtig“ oder „wichtig“. Dies soll für ganz Deutschland gelten, in dem die Konfessionslosigkeit zwischen den beiden Erhebungszeitpunkten erheblich zugenommen hat. Merkwürdig!

Noch merkwürdiger ist das Ergebnis einer Umfrage im Auftrage des MDR zur Eröffnung des evangelischen Kirchentages 2011 in Dresden.(3) „Demnach glauben zwar nur 25 Prozent der Menschen im Ost-Deutschland an Gott, aber rund 90 Prozent halten christliche Werte wie die Nächstenliebe oder Barmherzigkeit für wichtig?“ Die Tageszeitung Neues Deutschland fragte nach: „Gibt es also ein quasi christliches Geistesleben jenseits der Kirchen ohne einen biblisch-theologisch fundierten Glauben?“ und kam zum Ergebnis: „Wohl kaum, zählt die Kirchenmitgliedschaft, die ‘Gemeinschaft der Heiligen’, wie es im Apostolischen Glaubensbekenntnis heißt, doch zu den Grundkonstanten der christlichen Existenz. Christliche Werte kann man dagegen offensichtlich auch hochschätzen, wenn man kein Christ ist.“ Diese Aussage dürfte ebenso für das Ergebnis der beiden Umfragen des Allensbacher Instituts gelten. Worin besteht also der Trick bei der Gleichsetzung?

Unterschiedliche Interpretation von Werten

Einen wichtigen Tipp gibt der Soziologe Carsten Wippermann.(4) In einer neueren Studie untersuchte er, was „bestimmte Wertebegriffe in den verschiedenen Milieus“ bedeuten. „Also was bedeutet Freiheit für Postmaterielle, für Konservative, für Hedonisten? Oder Werte wie Solidarität, Sicherheit, Leistung.“ Er resümierte: „Dabei zeigte sich, dass diese Wertebegriffe, die ja auch Fundament unserer Gesellschaft sind, von den Milieus ganz unterschiedlich interpretiert werden. (…) Und man kann eben nicht sagen, für ein Milieu wie die Konservativen sind Werte wie Pflicht, Leistung und Anpassung wichtig und andere Werte wie Freiheit und Selbstverwirklichung unwichtig. Alle Werte, die wir in unserer Gesellschaft haben, finden wir in jedem Milieu. Nur: Diese Werte haben eine unterschiedliche inhaltliche Bedeutung für die Milieus, und sie stehen in einer anderen Wertearchitektur.“

Kehren wir zur Allensbacher Analyse zurück. In der neueren Studie wurde ermittelt, was die Befragten unter christlichen Werte verstanden. Die meist genannten Punkte wie „Einsatz für sozial Schwache und die dritte Welt“ und auch „das Eintreten für einen umfassenden Sozialstaat“ können eher als links oder linksliberal eingestuft werden und nicht als konservativ. Kein Wunder also, wenn sich hierfür eine Mehrheit entscheidet, die nicht notwendigerweise in einer Partei ohne das große „C“ beheimatet ist. Vor 60 Jahren hätte man „Christentum und demokratische, freiheitliche Grundsätze als untrennbar zusammengehörig empfunden“. Diese Argumentation enthält einen bedeutenten Fehler. Die Demokratie wurde schon in Griechenland praktiziert, bevor das Christentum entstanden ist. Und die bürgerlichen Freiheiten wurden erst spät von der katholischen Kirche anerkannt und an ihre Zwecke angepasst. Wie weit geht die Anpassung?

Anpassung der Religionen

Die Anpassung der Religionen an die gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse zeigte der Religionsanthropologe Richard Sosis in einem Interview auf.(5) Die Frage „Was sichert den Erfolg einer Religion?“ antwortete er: „In einem Wort – Anpassungsvermögen. Schauen Sie sich die Geschichte an. Das Judentum, die katholische Kirche, jede langlebige Religion – sie alle haben sich gewandelt, und sie müssen es weiterhin tun. Allerdings ist es das Kennzeichen eines erfolgreichen Wandels, dass die Gläubigen ihn gar nicht wahrnehmen. Es gehört ja gerade zum Wesensmerkmal der Religionen, dass sie dem Zeitgeist gegenüber veränderungsresistent erscheinen. Wer eine Religion erfolgreich modernisieren will, beruft sich am besten auf die alten Texte und erzeugt den Eindruck, im Sinne der Tradition zu handeln. Wird eine Veränderung als Neuerung wahrgenommen – etwa die Einführung eines völlig neuen Rituals – stößt das oft auf großen Widerstand. Religionen sind dann erfolgreich, wenn sie sich stets ihrer Umgebung anpassen, aber sie müssen das auf eine Art und Weise tun, die für die Gläubigen selbst nicht wahrnehmbar ist.“

Die Gläubigen fordern aber in ihrer Mehrheit eine merkbare Anpassung wie aus einer im Januar veröffentlichten Pilotstudie der katholischen Hochschule Freiburg für das Land Hessen hervorgeht.(6) 85% der Protestanten und 89% der Katholiken in Hessen fordern eine Änderung ihrer Kirche. Selbst den zentralen Aussagen ihrer Religion stimmt eine Mehrheit der Mitglieder nicht mehr zu. „Damit ist ein ‘Christentum ohne Christen’ kein Paradox, sondern eine gelebte Realität.“ Diese Aussage kann man auch für die zitierte Allensbach-Analyse treffen. Der Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst dagegen schlussfolgerte:„Es kann nicht sein, dass die Kirchen ihr Bekenntnis aufgeben, nur weil es mehrheitlich nicht mehr verstanden wird. Im Gegenteil: Die Kirche hat immer auch die prophetische Aufgabe, sperrige Inhalte im Kontext der Zeit zu vermitteln und wachzuhalten.“(7) Also wird man versuchen, sich formal anzupassen. Das Problem ist bei der Deutschen Bischofskonferenz schon längst bekannt. Der Jesuit Hans Langendörfer, Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, forderte bereits 2004 angesichts des allgemeinen Glaubensverfalls nicht zu klagen, sondern bei den „religiös produktiven Kräften“ nach Anknüpfungspunkten für die Vermittlung des Glaubens zu suchen.(8)

Verfällt die Moral als Folge der Säkularisierung?

Anstatt mit zunehmender Säkularisierung ein „Gegensatzpaar zwischen Religion und Modernität“ (Detlef Pollack)(9) zu begreifen, propagiert die moderne Soziologie im neuen Jahrhundert eine „Rückkehr der Religionen“, eine Deprivatisierung der Religionen, eine Entsäkularisierung der Welt, eine Respiritualisierung. Jürgen Habermas begann über ein „postsäkulares Zeitalter“ nachzudenken. Pollack deutete diese Entwicklung wie folgt: „Bei der These von der Renaissance des Religiösen handelt es sich also nicht um ein Modephänomen der letzten Jahre, sondern um eine tiefsitzende Überzeugung, für die allerlei empirische Belege beigebracht werden, die aber teilweise auch unabhängig von empirischen Indikatoren Gültigkeit beansprucht.“ Es geht also auch um Behauptungen, um Glauben. Dem gegenüber stellt er fest: „Es gibt für Religion keinen unausweichlichen Bedarf. Ob Menschen Religion brauchen, ist vielmehr selbst kontingent und variiert sozial, historisch und individuell in erheblichem Umfang.“ Und weiter folgerte er: Um die Entwicklung von Religion und Religiosität zu bestimmen, bedarf es einer multimedialen Analyse anstatt des monopolistisch angewandten funktionalistischen Ansatzes. Daran hapert es aber.