Gruppen- statt Verwandtenselektion?

(hpd) Der Evolutionsforscher und Soziobiologe Edward O. Wilson legt in seinem neuen Buch eine Kritik an der Theorie der „Verwandtenselektion“ vor und plädiert für seine neue Theorie der „Gruppenselektion“. Zwar kann der Autor durchaus einige beeindruckende Argumente vorbringen, in der Gesamtschau macht er es sich aber sowohl mit der Alternative wie mit der Kritik zu einfach.

Neue Erkenntnisse führen zur Korrektur alter Theorien – dieses Grundprinzip wissenschaftlichen Arbeitens nimmt auch der Evolutionsforscher Edward O. Wilson in Anspruch. Er hat sich als Begründer der Soziobiologie und Forscher über Ameisen einen aus der Biologie nicht mehr weg zu denkenden Namen gemacht.

In den 1970er Jahren gehörte Wilson zu den bedeutendsten Protagonisten der Auffassung von der „Verwandtenselektion“, womit die Evolution des Menschen als Folge der gemeinsamen Abstammung in Form der genetischen Prägungen zurückgeführt wurde. In seinem neuen Buch „Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte des Menschen“ vollzieht Wilson aber eine rigorose Abkehr von dieser Auffassung: „Zum Nachteil dieser Hypothese sind die Grundlagen der allgemeinen Theorie der Gesamtfitness ... inzwischen zerbröckelt ... Die schöne Theorie hat ohnehin nie gut funktioniert, aber jetzt ist sie in sich zusammengestürzt“ (S. 68). Dieses Bekenntnis löste gar eine Protesterklärung von über hundert anderen Wissenschaftlern aus.

Worum geht es nun aber Wilson in seinem neuen Buch mit seiner neuen Theorie? „Die soziale Eroberung der Erde“ versteht sich zunächst als weiterer Versuch, den Schlüssel zum Verständnis der menschlichen Natur zu finden. Der Autor will darin Antworten auf die Fragen gebe, warum höher entwickeltes soziales Leben existiert und welche Antriebskräfte für deren Aufkommen bedeutsam waren. Wilson stellt dazu auf das als „eusozial“ (griech./lat. „gut kameradschaftlich“) bezeichnete Leben der Menschen in arbeitsteilig agierenden Gruppen mit altruistischen Handlungen ab. Über vergleichende Betrachtungen mit seinem langjährigen Forschungsobjekt, den ebenfalls kooperativ agierenden Ameisen, nähert sich Wilson dann seinen Antworten auf die erwähnten Fragen. Er rekonstruiert dabei die entscheidenden Faktoren auf dem Weg zur Entwicklung des Menschen. Ein bedeutsamer Schritt im evolutionären Prozess sei hierbei etwa die notwendige „Kooperation bei der Fleischgewinnung“ gewesen, führte sie doch zur Bildung von „in hohem Maße organisierter Gruppen“ (S. 62).

Gegen die erwähnte Auffassung von der „Verwandtenselektion“ setzt Wilson eine neue Theorie, die sowohl an den Merkmalen der einzelnen Gruppenmitglieder wie an den Merkmalen der Gesamtgruppe ansetzt. Der Autor holt danach historisch und thematisch weit aus, er geht der Erfindung der „Eusozialität“ nach, erörtert Faktoren beim Spurt zur Zivilisation, behandelt die Bedeutung der Evolution der Kultur, fragt nach dem Ursprung von Ehrbegriff und Moral, deutet Krieg als angeborenes Übel der Menschheit und nimmt immer wieder die Evolution von Insekten ins Visier. Für den Biologen ist die Gruppenselektion und nicht die Verwandtenselektion der Prozess, der für die besondere Entwicklung des menschlichen Sozialverhaltens verantwortlich ist. Bezogen auf die dabei zum Ausdruck kommende Gut-Böse-Unterscheidung bei altruistischem und egoistischem Verhalten heißt es: „Die Individualselektion verantwortet ... einen Großteil dessen, was wir als Sünde bezeichnen, die Gruppenselektion dagegen den größeren Teil der Tugend“ (S. 289f.).

Wilson legt mit seinem neuen Buch einen beachtenswerten Beitrag zur Deutung der Evolution des Menschen vor. Auf der Grundlage seiner umfassenden Erkenntnisse und Forschungen benennt er Bedingungsfaktoren und Erklärungen, welche die „eusoziale“ Entwicklung des Homo sapiens nachvollziehbar machen.

Ob man aber mit den erwähnten neuen Einsichten gleich die bisherigen Auffassungen so rigoros bei Seite schieben kann, wie dies Wilson in Form und Inhalt seiner Argumentation macht, muss denn doch bezweifelt werden. Zwar können sicherlich Deutungen wie die vom „egoistischen Gen“ mittlerweile mit guten Gründen der Kritik ausgesetzt werden, aber eine so pauschale Verwerfung solcher Ansätze macht es sich zu einfach. Hinzu kommt, dass Wilson zwar die Bedeutung der Gruppenselektion nachvollziehbar begründen kann, aber sie doch in Verbindung mit der Individualselektion sehr schematisch interpretiert. In anderen Fragen, wie etwa zur evolutionären Entstehung der Religion, fällt er in der Darstellung etwas hinter den Stand der Forschung zurück.

Armin Pfahl-Traughber

Edward O. Wilson, Die soziale Eroberung der Erde. Eine biologische Geschichte des Menschen. Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke, München 2013 (C. H. Beck-Verlag), 384 S., 22,95 €.