BERLIN. (hpd) Eine Geschichte „voller Gefühle und Drama“ verspricht DISNEYnature im neuesten Film „Schimpansen“, mehr noch: die Geschichte einer „intakten Gesellschaft“. In ihr wächst der kleine Oscar heran, ein Schimpansenkind im Taï-Nationalpark in Elfenbeinküste.
Der Knirps lernt, was ein Schimpanse so lernen muss, verwaist, droht von der Gruppe ignoriert zu werden, gar zu verhungern, wird aber schließlich von ihrem Chef persönlich adoptiert und gerettet. Eine ungewöhnliche, aber trotzdem eine wahre Story?
Noch bevor der Film anlief, kamen Zweifel auf. In dem Film stecken mehrere Geschichten – der Entwicklungsroman eines Affenkindes und das Epos um eine kriegerische Auseinandersetzung zweier Schimpansengruppen um eine reichhaltige Nahrungsquelle, eine Nussbaumgruppe. Diesen Grenzstreitigkeiten, so das Storyboard, fiel Oscars Mutter zum Opfer. Nun kam heraus, Oscars Mutter starb an einer Lungenkrankheit und Oscar selbst ebenfalls ein dreiviertel Jahr nach seiner Adoption genauso. Taugt er Film nun noch, uns etwas über das wirkliche Leben der Schimpansen zu erzählen?
Ja, meint Christophe Boesch, Leiter des Max-Planck-Instituts für Evolutionäre Anthropologie, der jahrelang im Taï-Nationalpark vor allem Werkzeuggebrauch und Adoptionsverhalten der Schimpansen erforschte und die Filmarbeiten wissenschaftlich begleitete. Es stimme zwar, heißt es auf der Web-Seite des Leipziger Instituts, dass während der über zweieinhalbjährigen Dreharbeiten verschiedene Schimpansenkinder für die Rolle Oscars herhalten mussten, um ihn im Laufe von sechs Lebensjahren darzustellen, und dass schließlich die angeblich rivalisierenden Affenhorden geografisch weit entfernt voneinander lebten. Für eindrucksvolle Schlachtanordnungen wurden – weit größere – Schimpansengruppen in Uganda gefilmt und in die Aufnahmen aus dem Taï-Nationalpark hineingemischt. Aber einen im Laufe der Dreharbeiten verwaisten Schimpansenjungen gab es wirklich, der tatsächlich vom ranghöchsten Mitglied der Gruppe angenommen wurde.
Ungewöhnlich ist das nicht. Gerade dazu forschte Christophe Boesch intensiv. Das Ergebnis veröffentlichte er bereits 2010 mit seinem Team im wissenschaftlichen Online-Journal „PLOS ONE“. Man fand heraus, Waisenkinder werden in Schimpansengesellschaften - etwa gleich oft! - von weiblichen wie von männlichen Gruppenmitgliedern adoptiert. Und dies ungeachtet dessen, ob sie mit dem Unglücklichen verwandt sind oder nicht. Die Forscher fragten sich, was die Erwachsenen zu diesem altruistischen Akt bewegt, und halten zwei mögliche Erklärungen parat: Vor allem wenn es sich um Ersatzväter handelt, könnten die so ihr Prestige und ihren Rang in der Gruppe erhöhen oder aber sich, geht die Sache gut aus, mögliche Allianzpartner heranziehen. Tut sie aber meistens im wahren Schimpansenleben nicht. Viele der Schimpansenkleinkinder sterben. Andererseits ist die Sterblichkeit unter dem Schimpansennachwuchs generell in freier Wildbahn so hoch, dass man bis jetzt kaum sagen könne, dass die Überlebenschancen von mit ihren natürlichen Müttern aufwachsenden Schimpansenkindern größer wären als die von adoptierten.
Einige Abstriche an die Wahrhaftigkeit des Streifens sind also zu machen. Trotzdem bleibt er ein zauberhafter Film – mit seiner Mischung aus populärwissenschaftlicher Vermittlung und Erfindung ein typischer Disney. Erzählt wird mit Bildern und mit Worten. Die Bilder lügen nicht - auch wenn man bei genauem Hinsehen durchaus feststellt, dass mal ein jüngeres, dann ein älteres, mal wieder ein jüngeres Schimpansenkind in der Rolle des Protagonisten auftritt.
Zu sehen und zu beobachten gibt es trotzdem viel aus dem wahren Leben der Schimpansen: Wie so ein Winzling allmählich lernt, erst vergeblich mit einem Stock, dann mit einem Stein die so begehrten Nüsse zu öffnen etwa. Aber andererseits ist da auch wieder die mit Worten erzählte Story, und die darf man halt so wörtlich nicht nehmen. Da heißt es, der Kleine erhalte „Nachhilfestunden“ von seiner Mutter. Doch schaut man genau hin, erkennt man, wie er selbstversunken experimentiert. Natürlich leitet die Mutter ihn in keinem Moment an, korrigiert ihn nicht. Oscar macht höchsten mit wachem Verstand nach, was die Großen tun. Eine Vermenschlichung also? Schließlich sollen vor allem kleine Kinogänger angesprochen werden, für die muss das Geschehen anhand von ihnen nachvollziehbaren Situationen aufbereitet werden. Die Erläuterungen sind dabei immer so knapp, so witzig, so leichthin, so sekundengenau in ihrer Wirkung kalkuliert, wie es nur eine Disney-Produktion kann.
Dazu gehört neben aller Plausibilität ein gutes Stück Pathos. Heraus kam, auf der Basis wissenschaftlicher Beobachtungen, ein durchaus wahrscheinlicher Plot, so dass man nicht nur aber auch drollige Äffchen durchs Geäst turnen sieht und zum Beispiel zudem erfährt, dass die Taï-Schimpansen eine schon historische Kultur im Werkzeuggebrauch haben, die über 4.000 Jahre zurück reicht. Hier gingen wiederum die Forschungsarbeiten des Max-Planck-Instituts in das Filmkonzept ein.
Mit dem Abspann macht der Film seinen Charakter als artifizielles Produkt unverkennbar deutlich. Nun treten sie kurz alle selbst auf, Regisseur, Alastair Fothergill, Leiter der Naturfilmabteilung der BBC, Boesch und Kameraleute. Man sieht die Kamera an langen Schienen durch die Urwaldszenerie gleiten und das Team durch das Gestrüpp stolpern und ahnt, welch gewaltiger logistischer und konzeptueller Aufwand für so einen Film nötig ist. Trotzdem kam man genau nicht mit einem fertigen Drehbuch in der Hand in den Dschungel. Tatsächlichen Ereignisse wurden umgebaut zu einer packenden Geschichte, die als Filmfiktion anrührend funktioniert – frei nach dem Motto: Wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Simone Guski